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Dez
01
Kriegsspiele
© Birge Laudi

Es war Sommer im Jahr 1945. Der Krieg war auf dem Papier zu Ende, nicht aber in den Köpfen und Seelen.

Der fünfjährige Gernot stand auf einem Stuhl. Von der Decke hing ein Strick und war um den Hals des Buben geknotet. Ein Sonnenstrahl bahnte sich durch die Dachluke den Weg in das alte Gemäuer und ließ den Staub tanzen. Er streifte das dunkle, struppige Haar des kleinen Jungen, das sich widerspenstig gegen jede Frisur wehrte. Im Strahl des Sonnenlichtes wurden die knochigen, nackten Kniegelenke des Kindes zur Anklage gegen Hunger und Krieg.

Der Bub schaute vom Stuhl herab auf seine Kameraden. Die standen im Kreis um ihn. Zwei Mädchen und drei Buben. Und sie warteten auf seine Hinrichtung. Der altersschwache Stuhl wackelte und Gernot bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Der Strick scheuerte an seinem Nacken.

Die sechs Kinder waren das Strandgut eines Kriegs, den ihre Eltern wissentlich oder, wie es später hieß, nur als Mitläufer angezettelt hatten.

Die sechs Kinder waren vaterlos. Die Väter im Krieg verschollen. In Russland. In Afrika. Sie waren auch mutterlos. Die Mütter den Siegern ausgeliefert. Die eine im Ernteeinsatz, die andere im Gefängnis.

Die hohe Zeit der Vergeltung.

Drei der Kinder waren vertrieben worden aus ihrem Haus, eingepfercht in eine Baracke. Die anderen drei, durch Bomben um ihr Heim gebracht, hatten Unterschlupf in einer Notwohnung gefunden. In einem Gemäuer, das vor Generationen als repräsentabel gegolten haben mochte. Nun aber hatte es sein Leben als Wohnhaus ausgelebt. Taugte nur noch als Herberge für Ausgebombte. Für vater- und mutterlose Kinder. Für Kinder mit dem Krieg in den Köpfen, für Kinder mit tauben Seelen.

In Erwartung der Hinrichtung wanderten die Blicke des Kindes auf dem Stuhl ruhelos durch den Raum. Stöberten in den lichtlosen Ecken zwischen Kisten und Lumpen, streiften die Lattenwand, die den dunklen Verschlag gegen einen noch dunkleren Flur begrenzte. In Fußhöhe ein Loch. Der Durchschlupf für die Katze.

Der kleine Gernot, das Böse. Er war der Jude, der Partisan, der Fahnenflüchtige. Er musste gehenkt werden. Gehenkt auf dem früheren Dachboden in dem uralten Kaufmannhaus. In einem Haus, das aus Winkeln und Ecken bestand, dessen Dach auf schrägen Wänden ruhte und wo schmale Gänge zu skurrilen Anbauten, zu schiefwinkligen Räumen mit blinden Fensterscheiben führten.

Es war ein Haus, dessen Mauern auf nassem Untergrund ruhten. Stieg im nahen Bach das Frühjahrshochwasser, so stieg in einem Loch im Boden des Kellers das dunkle Wasser ebenso. Das alte Mauerwerk sog sich voll mit seinem muffigen Schimmelgeruch, bis hinauf in die Henkersstube, sättigte die Luft mit dem Pesthauch von Fäulnis und Verwesung, dem Geruch des Todes.

Es war ein Haus voller Geheimnisse, ein Haus mit den Resten einer schwarzen Küche, einem Raum, durch den einst der Qualm vom Küchenherd im Parterre heraufgeleitet, den Würsten Dauerhaftigkeit verliehen hatte. Noch waren Spuren davon an den verschmutzten Wänden, noch lebte der Geist der schwarzen Küche in dem Verschlag, der als Lager für Unbrauchbares, für selten Benutztes gedient hatte. In dem Gemäuer, wo nun gehenkt wurde.

Die dunklen Augen des Kindes auf dem Stuhl umfassten diese Welt voller Finsternis. Der geschärfte Geist des kleinen Kriegskindes spürte den Atem der Vergangenheit, die versunkene Geschichte, die Geheimnisse des alten Hauses.

Wieder wackelte der Stuhl. Wieder scheuerte der Strick an Gernots Nacken, verfing sich an seiner ausgefransten, grauen Strickjacke. Langsam wanderte der Strahl der Sonne über die Gesichter seiner Henker, die den Hinrichtungsplatz umstanden.

Mit ihrem gierigen Siegerblick glichen sie den Soldaten, die Männer und Frauen erhängt hatten. Sie starrten den Fünfjährigen an und warteten darauf, dass er hängt, dass sein Hals lang wird, der Kopf nach vorne fällt, die Fußspitzen sich strecken und er im einsamen Sonnenstrahl aus dem Dachfenster leise schaukelt. Dass er sich dreht, wie eine Puppe, in dem zarten Windhauch, der durch die Luke strich.

Sie warteten darauf, die Zeichen des Todes zu sehen, wie sie es im Film gesehen hatten. Wollten schaudernd nachvollziehen, was man ihnen vorgeführt hatte: Seht her, das haben eure Väter im Krieg getan!

Die sechs Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren hatten diese Filme gesehen, hatten sie sehen müssen. Amerikanische Kriegsberichterstatter hatten die Gräuel der Deutschen an den Juden, an Kollaborateuren und Fahnenflüchtigen, an Schuldigen und Unschuldigen im Krieg Adolf Hitlers auf Celluloid gebannt. Um Lebensmittelmarken zu bekommen, mussten auf Geheiß der Sieger die überlebenden Deutschen die Filme sehen. Frauen und Kinder und die Alten. Sie sahen, wie es zugegangen war, schauten, um nicht zu verhungern. Sie sahen die Leichen baumeln, an rasch gezimmerten Galgen, an Laternenpfählen, an Alleebäumen, sahen die Gehenkten sich leise im Wind drehen mit gesenkten Köpfen und gestreckten Fußspitzen.

Die Filme hatten ihre Spuren in den Kindern hinterlassen. Sie integrierten die Grausamkeit des Krieges in ihr Spiel, spielten sie weg aus ihrem Leben.

"Kommt, wir spielen Aufhängen."

In ihrem Spiel hatten die sechs Kinder versucht, das Unbegreifliche zu begreifen. Hatten sich auf einen alten Stuhl gestellt, den Strick um den Hals gelegt und in einem einsamen Sonnenstrahl in die Gesichter der Henker gestarrt.

Gernot, der Fünfjährige, der fast verhungert wäre. Gernot, das verwirrte Kriegskind, das nachts im Traum durch die Baracke geisterte. Gernot streifte den faserigen Strick ab, sprang vom Stuhl.

"Morgen ist ein anderer dran."

Die fünf anderen nickten, waren einverstanden. Morgen, wenn sie wieder "Aufhängen" spielen würden, wird ein anderer von ihnen der Gehenkte sein.

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