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Kurzgeschichte Alltag Kurzprosa Geschichte Erzählung short story

Lamech

© Rahel Jakobson


Freundschaft, das schafft im Allgemeinen Freude. Keine Freunde zu haben, heißt keine Freude zu haben. Einsamkeit heißt verlassen worden zu sein. Befreien kann da ein einziges fremdes Lächeln.
Lamech legte seine Klarinette bei Seite. Es schwindelte ihn. Aus diesem Schwindel wuchs in ihm die alt bekannte Angst. Als Solist könne er sich seinen schwachen Atem nicht erlauben und Solist zu sein, war sein Ziel. Seit er das erste Mal mit fünf Jahren auf dem Speicher seiner Großeltern, mit zitternden Händen das edle Holz, wie ein Puzzlespiel zusammengesetzt hatte, wusste er davon. Von beiderlei wusste er, von seiner Bestimmung Solist zu werden, wie seiner Angst, nicht die Luft aufbringen zu können.
Einen langen Kampf hatte er bis zum heutigen Tag gefochten. Keine Eliteschule für Musik hatte ihn aufnehmen wollen. Nach seinem normalem Abitur, an einem normalem Gymnasium hatte er ein ganzes Jahr, zwölf Stunden am Tag, geübt, die Etüden vorwärts und rückwärts mit allen möglichen Intonationen spielen gelernt und in der verbleibenden Zeit gejoggt, um seine Lungenflügel zu weiten, bis München ihn endlich aufgenommen hatte.
Die kleine Dielenwohnung war ausgelegt mit Noten und Kopien teurer Sekundärliteratur. Er tat alles, was er nur tun könnte, um an der Akademie sich einen Namen zu machen. Drei Semester waren nun vergangen. Drei Semester der Arbeit und des immer wiederkehrenden Zweifelns, aber noch kennt ihn keiner und er spielt die kleinste Rolle in den Hochschulorchestern. Wunderkinder besetzen seine Solistenstelle und die Luft wird ihm flächer und flächer. "Lamech," sagt er zu sich, während er das Ritual des Klarinettenputzens gewissenhaft vollzieht, "Lamech, du musst dich zufrieden geben. Erwarte nicht alles, wenn du glaubst nichts zu haben. Ich habe mich. Mich und meine Klarinette. Die Luft, die mehr und mehr zu schwinden beginnt kann mir das nicht nehmen. Sie wird es nicht, ich werde es nicht zulassen." Der Schwindel überkommt ihn erneut. Es ist ein schwüler Julitag und draußen fliehen die Wespen in den Englischen Garten. Das kleine Dachfenster zu öffnen hat keinen Sinn. Lamech muss an die Luft und stürmt mit letzter Kraft die steilen Stufen des alten Mietshauses hinunter. Erst im kellerkühlen Erdgeschoss, wo seine glühende Haut sich blitzartig zusammenzieht und sich die Haare auf seinen Armen zu erheben beginnen, schwindet die stockende Schwüle seines Kopfes. In der gegenüberliegenden Marienkirche erfrischt er seine Stirn mit süßem Weihwasser und ruht sich auf einer Gebetsbank aus.
Es ist Beichttag. Und ohne große Anteilnahme beobachtet er die alten Frauen, wie sie hinter dem schweren Vorhang am Beichtstuhl verschwinden, unverändert nach wenigen Minuten wieder hervorkriechen und sich zum Gebet begeben, vor den Bänken bekreuzigend niederkniend mit einem Ernst in den Gesichtszügen, der Lamech neidisch werden lässt.
Aus seiner Hosentasche zieht er die Macht des Schicksals, eine Ouvertüre Verdis hervor, wie er sie seit Tagen mit sich herschleppt und versucht im Geist die walzerförmige Unruhe dieses sanftmütigen, barmherzigkeitsreichen Stückes erklingen zu lassen. Aber nichts will ihm gelingen. Die Einsätze versäumt er und springt all zu oft zu den vordergründigen Streichern. "Anfängerfehler! So weit ist es schon. Bald muss ich wieder von vorne her, von den Tonleiterübungen beginnen, als wäre nichts gewesen." Er stopft die Seiten zurück in die Tasche, sieht ängstlich um sich während er in die zähe Wand des Sommers tritt.
Der Staub der ästhetischen Stadt klebt an allen Dingen, die dort sind. Im Schatten der Museen zieht es auch Lamech zum Garten, in dem die Familien und Stammtische, Sportler und die im Gras liegenden ihre Zeit zu nutzen wissen. Mittlerweile kennt er die geheimen Stellen, an denen keine Pferde, Walker oder Kinderwagen ihre lauten Spuren hinterlassen. An diesen Orten ist die Stadt ganz Land. Auf einem faulenden Baumstamm, der Lamech schon zu vielen Stunden Trost und Ruhe geboten hat, setzt er sich nieder, um in die Fernen grünen Gestrüpps zu starren. Hier kommt er her, wenn die Sehnsucht in ihm zum Schmerz gewachsen ist mit jemandem zu reden, sich mitzuteilen. Es ist still hier und selbst die Arien und Menuette der letzten Proben fließen hier nicht durch seinen sonst so leeren Schädel. Hier könnte er mit jemandem reden. Niemand aber ist da. Unter seinen Musikerkollegen sprach man nicht. Es war unmöglich auf einen Bläser zuzugehen um zu sagen: "Meine Lungen sind zu schwach." Es ist unmöglich von seinen Gedanken, von seinen Fehlern zu erzählen. Ein paar Sätze lediglich, um gewisse undeutliche Anweisungen des Dirigenten ließen sich wechseln. Lamech aber reicht das nicht. Wünsche, nach einem Freund, wie er ihn damals in frühester Jugend besessen hatte, kommen ihm in den Sinn, während er in seiner geheimen Laube sitzt und hofft einer käme hier vorbei. "Du brauchst jemanden zum reden Lamech, damit du wieder atmen kannst."
Und wie im Traum tritt ein junger Mann Ende Dreißig an ihn heran, die widerspenstigen Äste von sich haltend. "Oh." bricht dieser beim Anblick des in sich versunkenen Lamech hervor. "Entschuldige, ist ein Ball an dir vorbei gekommen? Ich habe mit meiner Tochter ein wenig Fußball gespielt. Irgendwo hier muss er hingeflogen sein." Müden Blickes mustert Lamech die Erscheinung, die sein Versteck gefunden hat. Vor Erstaunen bricht er kein Wort hervor. "Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?" fragt umsorgend der Mann. "Danke, nein, es geht schon. Sie müssen wissen, ich habe eine schwache Lunge und hier suche ich immer etwas Ruhe. Es kommt selten vor, dass mich jemand hier besucht." Lamech versucht auf den letzten Satz hin zu lächeln um das Absurde daran ins Lächerliche zu ziehen. "Ich habe keinen Ball gesehen." und während er dem Mann Antwort gibt steigt Freude in ihm auf. Er hatte sagen können, wie schwach die Luft ihm doch ginge. "Jedes Mal passiert uns das, jedes Mal geht hier ein Ball verloren. Es muss hier irgendwo ein Nest sein, wo unsere Bälle sich sammeln. Meine Frau sagt schon, wir sollen auf dem Sportplatz kicken, aber da macht es bei weitem nicht soviel Freude, wie hier. Eine Alternative zum Garten wäre nur der eigene, aber soweit sind wir noch nicht." "Ich weiß, was sie meinen. Für mich gibt es auch keine Alternative. Das Klarinettenspiel ist mir alles. Aber bis meine Lunge mich zum Solisten macht, muss ich mich mit der Masse begnügen." Knüpft Lamech schnell an die Worte des Mannes. "Was ist denn mit deiner Lunge?" fragt der Mann, den Anschein gebend interessiert zu sein. " Es ist ein langes Leiden, geht auf eine Bronchitis in der Kindheit zurück. Wenn mir die Zunge nach langem Üben taub wird, wenn die Lippen sich kraftlos um das Mundstück pressen, wenn die Finger hart werden, selbst dann kann ich spielen, selbst, wenn mein Kopf voll Schwindel hängt und vor mir die Augen trübe werden, aber wenn die Luft versagt, ein ständiges Vibrato durch die Röhre strömt, dann weiß ich erst, wie einsam ich bin. Ohne dieses Ding, dieses hohle Holz von Klarinette wäre ich ein Nichts. Ohne Luft bin ich weniger, als ein tönendes Erz, da hilft nicht die größte Liebe, die ich in die Töne legen will." Die Augen Lamechs sind mit jedem Wort heller und wacher geworden und nun schimmert sogar wieder jenes kleine Stückchen Sicherheit durch, dass sich sonst nur nach einer gelungen gespielten Partitur in ihnen finden lässt und diese Momente sind selten, denn Lamech weiß, was für ihn das Wort gelungen bedeutet. "Du spielst Klarinette? Meine Tochter möchte unbedingt Dirigent werden. Erst neulich war ich mit ihr in der Zauberflöte. Kinderträume sind etwas Kostbares." "Wahrscheinlich das kostbarste, was wir je besessen haben." Der Mann setzt sich auf eine breite Wurzel neben Lamech und scheint sich von großer Anstrengung erholen zu müssen. "Wie heißt du?" "Peter Lamech, aber man nannte mich immer nur Lamech. Man muss darauf Achten einen guten Namen zu haben." "Also Lamech, ich habe leider nicht die Zeit dir zuzuhören, aber eines möchte ich doch von dir wissen: Wenn es dein Traum war und noch immer ist Kabarettist zu sein, was sitzt du hier im dunklen Grün, wo doch sich im lang ersehntem Sommerlicht laben? Was ziehst du eine Bronchitis vor, um dich nicht deinem Traum zu widmen? Warum tust du nicht, was dein Herz dir sagt, und wozu du hier in München alle Möglichkeiten hast?" "Weil ich mich schäme." Lamech willt, dass dieser Mann ging. Er kannte ihn schon zu gut und Lamech selbst weiß nichts von ihm, als dass er einen Fußball suche. Aber er sprach weiter, ohne sich zu kümmern, was dieser Mann aus seinen Worten machen könnte: "Ich schäme mich für meinen Traum, ich schäme mich bitterlich, weil es nichts Nutzloseres gibt, als nachzuspielen, was Jahrhunderte gealtert ist. Es ist, als würde jemand Hölderlin abschreiben und behaupten Literat, ja Künstler zu sein. Es ist ein Totengräbergeschäft. Mit jedem Konzert trage ich ein Stück Kultur zu Grabe. Träume sind nichts anderes als Bilder ohne Wirklichkeit. Als Kind aber, kennt man die Wirklichkeit und weiß zu trennen. Ich aber, weiß es nicht mehr."
Die beiden Männer schweigen. Als Lamech merkt, dass der Atem hemmende Kloß in seinem Hals verschwand will er noch hinzufügen, dass es die Angst sei, die Liebe, die für die Musik so unabdingbar ist, verloren zu haben. Er will sagen, wie schändlich es sein kann, ein Leben lang seine Liebe ohne Lohn an die Kunst zu verschenken. Aber er weiß selbst nicht, welchen Lohn er verlangt und spürt zu wissen, dass es keinen gerechten gebe.
Eine Kinderstimme schneidet durch das Gewächs. Die Tochter hat den Ball gefunden. "Na Gott sei Dank, heute muss ich nicht wieder in Erklärungsnot geraten. Wie du hörst muss ich los. Aber soviel noch: spiel weiter Klarinette oder hör ganz auf. Du musst wissen, was du brauchst. Es würde mich freuen, wenn wir uns mal im Licht des Gartens wiedersehen würden. Merke dir: Öffne dein Herz nicht jedem; er könnte es dir schlecht danken. Mach es gut Peter Lamech, pass auf dich auf." Und der Mann erhebt sich und wird schnell vom Grün verschlungen.
Lamech bleibt noch eine Weile, sich über den ungewöhnlichen Ausdruck des Mannes wundernd, den er nicht kannte. Noch nie hat ihn jemand aufgefordert, auf sich aufzupassen. Was sollte das bedeuten? Als er sich sicher sein kann, dass der Mann samt Kind den Garten verlassen haben muss tritt auch Lamech aus dem Dunst seiner grünen Höhle heraus in die grelle Schwüle Münchens. Vor der Marienkirche bleibt er noch einen Augenblick, die Übermenschlichkeit des Gebäudes ehrfürchtig betrachtend und sieht, wie eine der alten Frauen die, in gut katholischer Trauertracht, den Rosenkranz noch zwischen den Fingern, von den Sünden erlöst die hohen Stufen hinunter kommt. Lamech merkt, dass er keinen Neid mehr fühlt.

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