Sie kritisiert mich
© Matthias Raschke
Sie kritisiert mich, tagaus tagein. Jedes Augenzwinkern kritisiert sie. Mal zu schnell, mal zu langsam. Nie die entsprechende Geschwindigkeit - ihre Geschwindigkeit!
Das Pusten am heißen Tee kritisiert sie. Davon wird er auch nicht kälter, sagt sie kritisierend. Ich denke nur: heißer Tee, den man nicht pusten darf? Wie langweilig!
Das Pusten erinnert mich an die Zeit, in der ich eine Teetasse kaum halten konnte. Meine Finger waren klein und zierlich und gingen ununterbrochen auf Entdeckerreise. Meine Teetasse zu jener Zeit war rot, gelb und grün bepunktet, mit einem lächelnden Affen neben dem Henkelgriff. Ich hör noch die liebevollen Worte meiner Mutter: "Langsam, der Tee ist noch zu heiß für dich". Ich sah, wie sie sich über mein Teefläschchen neigte und behutsam pustete. Ich war ein kleines Kind, das seine Mutter liebte, deshalb
imitierte ich sie von da an.
Und jetzt, 21 Jahre später, will mir jemand dieses Pusten absprechen.
Nein, das lasse ich nicht zu. Ich werde den Tee weiter pusten, ich will doch nicht, dass die arme Tasse, sich am heißen Tee verbrennt.
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