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Der weiße Ritter

© Lionne (Revee) Berger


Unten im Haus knallt eine Tür zu. Der Junge schreckt auf und lauscht, aber es ist weiter nichts zu hören, also zieht er sich die Bettdecke wieder über den Kopf, damit seine Eltern nicht merken, dass er liest, obwohl er längst schlafen sollte, nimmt die Taschenlampe, die ihm aus der Hand gefallen ist und blättert eine Seite weiter.
Der Anführer der Banditen lachte hämisch, als er sah, dass sich die beiden Händler verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit umsahen und keine fanden. Mit gezogenen Äxten kamen die Räuber auf die beiden Männer zu. Der Anführer holte aus.
In diesem Moment brach eine Gestalt mit erhobenem Schwert durch die Büsche und warf sich zwischen die Händler und die Banditen. Mit einem lauten Aufschrei sprangen die Räuber zurück.
"Der weiße Ritter! Wir sind verloren. Lauft!" stammelte der Anführer. Aber sie waren nicht schnell genug. Wie der Blitz nahm der weiße Ritter…
Ein dröhnendes Geräusch lässt den Jungen hochfahren. Wieder lauscht er. Und dieses Mal hört er Stimmen. Laut und wütend. Seine Hände wollen - nein, das darf er nicht zulassen. Er ballt die Hände zu Fäusten, bohrt die Fingernägel in die Handballen, damit seine Hände ruhig bleiben. Aber sie gehorchen ihm nicht. Normalerweise ist sein Vater nicht laut und wütend, wenn andere Leute dabei sind, und erst recht nicht, wenn Onkel Martin zu Besuch kommt. Zu anderen ist der Vater nett. Er hört zu. Er hilft, wo er kann. Schließlich ist er Arzt.
Eigentlich weiß der Junge, dass sein Vater zu Hause seine Ruhe braucht. Weil sein Beruf so anstrengend ist. Dass alles reibungslos ablaufen muss. Er weiß es ja, und seine Mutter schärft es ihm oft genug ein. Aber er ist so tollpatschig, dass er erst vor drei Tagen wieder einen Teller fallen gelassen hat. Er wollte es nicht, ganz bestimmt nicht, aber seine Hände zittern immer so, er kann das nicht verhindern, sie zittern so sehr, den ganzen Tag, dass er inzwischen nur noch seine Turnschuhe anziehen kann, weil die einen Klettverschluss haben und keine Schnürsenkel. Schnürsenkel sind sein Feind. Schnürsenkel und Knöpfe. Und die Schule, denn dort muss er schreiben, er muss und natürlich wackeln die Buchstaben über und unter die Zeilen und die Lehrerin schimpft, weil er sich schon wieder nicht anstrengt. Und deshalb ist ihm der Teller aus der Hand gerutscht, er konnte ihn nicht halten, obwohl er seinen Fingern gesagt hat, wie sie zugreifen müssen - so - und nicht loslassen dürfen. Aber seine Finger haben ihn im Stich gelassen, genau wie seine Augen, aus denen Tränen liefen, was sein Vater überhaupt nicht mag und deshalb musste er seinen Pullover ausziehen.
Danach hat er sich im Schrank verkrochen, wie er es immer tut, sich im Dunkeln versteckt, wo er unsichtbar ist für den Rest der Welt, mit einer Rolle Küchenpapier. Er kauft sich alle paar Wochen eine neue Packung von seinem Taschengeld, heimlich nach der Schule, denn es laufen Bären über die weichen Tücher und Enten und Fische. Und immer, wenn seine Eltern weg sind, auf einer Ausstellung oder bei einem Essen mit den Kollegen seines Vaters, geht er hinunter ins Wohnzimmer, mit den benutzten Tüchern, und legt sie in den Kamin. Dann zündet er seine Freunde an, die Bären, Enten und Fische, mit einem Feuerzeug, auf dem auch Fische sind. Er weiß, wie er das machen kann, ohne dass jemand etwas merkt. Er nimmt immer nur die Tücher, an denen das Blut und die Tränen schon lange getrocknet sind, damit sie auch richtig brennen. Und wenn das Feuer dann ausgegangen ist, fegt er die Asche zusammen und tut sie in den blauen Pappkarton, den er danach wieder ganz nach hinten unter sein Bett schiebt. Wenn es Frühling wird, will er seine Freunde und sein Blut im Wald vergraben, mit Steinen, und Blumen pflücken und auf das Grab legen, wie sich das gehört. Er ist froh, dass er die Tücher entdeckt hat, denn davor hat er die Jacke genommen, die im Schrank hing, als er sich dort versteckte, und natürlich hat seine Mutter das Blut daran entdeckt, obwohl er versucht hat, es abzuwaschen. Aber es ging nicht richtig raus, er hat viel zu lange gebraucht, obwohl er die Handbürste genommen hat und fast die Hälfte der Seife aus dem Spender, und seine Mutter kam ins Bad und hat es gesehen und die Jacke genommen und in die Waschmaschine gesteckt. Und dann hat sie geweint, und dem Jungen eine Ohrfeige gegeben und gesagt, dass er besser aufpassen muss, weil sie es nicht erträgt, er weiß doch, wie sein Vater ist.
Sein Vater, der gerade schreit. Onkel Martin schreit auch. Und seine Mutter hört der Junge schluchzen, laut und heftig. Nein, das ist nicht wie sonst. Überhaupt nicht. Der Junge geht zum Schrank. Nimmt eine neue Rolle Küchenpapier aus der Schublade und schleicht zur Tür, öffnet sie. Zur Treppe, langsam, denn die Dielen knarren und das hört man unten.
"Du dreckige Nutte", brüllt sein Vater. Was eine Nutte ist, weiß der Junge, weil die Jungen aus der vierten Klasse das immer einem der älteren Mädchen hinter herrufen, wegen ihres kurzen Rocks und weil sie schon einen Freund hat, mit dem sie fickt, in der Scheune auf der Wiese, an der man auf dem Weg zur Bushaltestelle vorbeikommt. Aber seine Mutter zieht doch keine kurzen Röcke an, und sie fickt auch nicht, denn sie war ganz sicher noch nie in der Scheune.
"Rühr sie nicht an!"
Das ist Onkel Martin. Warum soll sein Vater sie nicht anrühren. Sie gehört ihm doch, genau wie der Junge ihm gehört und das Auto und das Haus.
Vorsichtig setzt der Junge einen Fuß auf die erste Stufe. Es ist dunkel und er will kein Licht anmachen, damit ihn niemand bemerkt. Seine Hände zittern, natürlich, und sein Fuß zittert auch. Aber er will wissen, warum Onkel Martin auch schreit. Er muss es wissen. Denn Onkel Martin schreit nie. Er ist immer freundlich, auch zu dem Jungen und er schenkt ihm Bücher. Auch das Buch, das er gerade liest, hat er dem Jungen mitgebracht, zu seinem neunten Geburtstag. Und Onkel Martin gehört seinem Vater nicht, sein Vater darf ihn nicht anschreien, das ist falsch. Und deshalb muss der Junge nachsehen, denn der weiße Ritter würde das auch tun, nicht wahr. Der weiße Ritter ist mutig und hat fast nie Angst, und wenn er Angst hat, hindert sie ihn nicht daran, trotzdem andere Menschen zu retten. Er weint auch nicht, sondern tut, was er tun muss.
Auf der Hälfte der Treppe nach unten rutscht der Junge aus. Fast wäre er gefallen, kann sich aber gerade noch am Geländer festhalten. Die Steinstufen sind so kalt und glatt. Seine Mutter poliert die Stufen jeden Tag, bis der helle Marmor so sehr glänzt, dass der Junge sein Spiegelbild darin sieht. Die Mutter weint und bettelt. "Tu es nicht, bitte nicht." Bitte, bitte, bitte. So wie sie es immer macht, wenn der Vater seine Wutanfälle bekommt, obwohl es nie etwas bringt.
Dann ein kurzer Aufschrei, ein Gurgeln, etwas Schweres, das auf den Boden fällt.
Der Junge fährt zusammen und stolpert die restlichen Stufen hinunter, stürzt und landet auf den Knien. Die Rolle Küchenpapier landet neben ihm. Hastig hebt er sie auf und geht zur Wohnzimmertür und legt das Ohr an das Holz.
Seine Mutter hört er nicht mehr, aber Onkel Martin und seinen Vater, ich bringe dich um, dafür bringe ich dich um. Und andere seltsame Geräusche. Lautes Keuchen und…
Onkel Martin gibt einen erstickten Laut von sich.
Der Junge reißt die Tür auf. Einen Moment muss er die Augen schließen, weil das Licht ihn blendet, dann öffnet er sie wieder. Und blickt geradeaus auf den Fußboden, auf dem seine Mutter liegt, auf dem Rücken, an die Decke starrend ohne zu zwinkern, ohne sich zu bewegen, den Kopf in einer roten Pfütze. Auch ihre weiße Bluse ist rot, um das große Fleischmesser herum, das in ihrer Brust steckt. Die Bären und Enten und Fische lösen sich aus der Hand, aber der Junge bemerkt es nicht. Neben seiner Mutter liegt sein Vater auf Onkel Martin. Beide haben die Hände um den Hals des anderen gelegt. Aber sein Vater ist größer als Onkel Martin und deshalb kann er ihn auch stärker schütteln, wobei er den Kopf seines Bruders mit jedes Mal viel zu heftig gegen den Boden stößt.
Sie bemerken den Jungen nicht. Er muss etwas tun, das weiß er. Aber was? Was würde der weiße Ritter tun? Die Unschuldigen retten, natürlich. Onkel Martin retten.
Es riecht komisch, süß und nach Toilette. Ein sauerer Geschmack steigt dem Jungen in den Mund. Er gibt keinen Ton von sich, sondern lässt seinen Blick durch den Raum wandern, zum Holz, das neben dem Kamin aufgeschichtet ist, links von ihm. Sein Vater und Onkel Martin haben ihn nicht bemerkt, obwohl sie nichts mehr sagen, sondern nur keuchen und erstickte Laute von sich geben. Also geht der Junge zum Kamin und nimmt ein großes Stück Holz aus der glänzenden Metallkiste.
Sein Vater schlägt Onkel Martins Kopf wieder gegen den Boden. Onkel Martins Arme fallen nach unten. Oh nein. Nein, nein, nein. Der Junge macht ein paar schnelle Schritte, holt aus und knallt seinem Vater das Holz mit aller Kraft gegen die Schläfe. Sein Vater zuckt heftig Luft holend zurück, dreht den Kopf, sieht den Jungen an, mit einem so seltsamen Blick. Der Junge schlägt ihm das Holz ins Gesicht. Wieder und wieder.
Sein Vater kippt zur Seite und bleibt liegen. Regungslos.
Verwundert sieht der Junge auf seine Hände, die immer noch das Holzstück halten. Dieses Mal haben sie nicht gezittert, kein bisschen.
Aber dafür ist ihm jetzt richtig schlecht.
Er lässt das Holzstück fallen, das jetzt auch rot ist, an dem einen Ende, dreht sich um und bricht sein ganzes Abendessen auf den Boden.
Das würde der weiße Ritter nie machen.
Aber anscheinend ist er nicht böse, dass dem Jungen das passiert ist. Denn er steht neben ihm, lächelnd und hält ihm die Hand hin.
"Komm", sagt er. "Ich brauche dich. Wir müssen einen Drachen bekämpfen, der das Königreich bedroht." Der Junge nickt, und der Ritter hebt ihn auf sein Pferd, setzt sich hinter ihn und sie reiten los.
Nach drei Wochen kehrten der Junge und der weiße Ritter in die Hauptstadt zurück, mit den Krallen des Drachen als Beweis ihres Sieges. Es war ein harter Kampf gewesen. Aber sie hatten ihn gewonnen. Die Menschen auf der Straße jubelten. Sie riefen den Namen des weißen Ritters und den Namen des Jungen: "Simon. Simon. Simon!"
Glücklich winkte Simon ihnen zu. Mit ruhigen Händen.
Und lächelte.

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