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Patricia Koelle: Der Weihnachtswind

Patrica Koelle
Der Weihnachtswind
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-01-2

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Linas Ladung

© Patricia Koelle

Lina Amberger trug ein Meer in ihren Lungen, und sie würde darin versinken. Heute war es tief wie nie. Mit einer unerwartet heiteren Bereitschaft stieg dieses Wissen in ihr auf.

Einundneunzig Jahre lang war ihr Atem leicht und leuchtend wie das neue Lachen ihrer Urenkelin Miriam durch diese Lungen geflossen, ein und aus mit den vollen, willkommenen Tagen.

Nun aber war sie so weit einzutauchen. Ihr Abschied würde woanders Neues auflaufen lassen, so wie es sich ewig gehörte. Sie fühlte sich als Welle unter vielen, und jede einzelne legte einen großen, schimmernden Weg zurück, um sich dann am Strand zu brechen, im Ganzen aufzulösen und den sich daraus neu erhebenden Platz zu machen. Ihr Enkel Jannik, Miriam, alle waren unterwegs. Nichts ging dabei verloren.

Sie fühlte sich geborgen in der Bewegung.

"Ich bin auf Kurs, Wetter-Willi", sagte sie vom Sofa her zu der Figur auf der Anzeige der Funkwetterstation, die Jannik ihr geschenkt hatte. Die Station klärte Lina, auch wenn ihr Atem und ihre Schritte nicht mehr vor die Tür reichten, nicht nur über die Lufttemperatur, sondern auch über Windstärke und Regenmengen auf. Wetter-Willi zeigte außerdem durch seine Garderobe an, was sie zu tragen hätte, wenn sie draußen im Tag wäre: Schal, Mütze und Pullover oder kurze Hosen und Sonnenbrille. Heute schwenkte er einen geschlossenen Regenschirm.

Nicht weil sie wunderlich geworden war sprach Lina mit ihm, sondern weil er immer da war und weil er ein Lächeln für sie hatte, und weil Worte sich zu krümmen beginnen, wenn man sie an niemanden richten kann.

Doch öfter als auf Wetter-Willi ruhten ihre Augen auf dem Bild über ihm an der Wand. Dem Bild, das Niklas vor zweiundsechzig Jahren von einem Straßenhändler gekauft hatte, nachdem es ihm gelungen war, mit Hilfe seines frühlingshaften Charmes den Preis unverschämt herunterzuhandeln.

Es war ein brennend klarer Septembertag gewesen, durch den in frechen Wirbeln eine frische Brise zischte, und sie verbrachten ihn von morgens bis abends am Hafen, lehnten sich gegen den Leuchtturm und alberten herum, dass dieser im Wind bestimmt nur durch die einige Kraft ihrer beiden Rücken aufrecht blieb. Ihre Blicke reisten mit sämtlichen vorbeifahrenden Schiffen neugierig in die Rätsel deren Ziele, und sie versuchten, voll glücklichen Übermuts die Blauschattierungen in der fassungslosen Weite zu zählen. Sehnsucht kam nicht auf, denn sie hielten sich bei der Hand und die Welt war groß und nahe genug. Erst als der Abend eine Gänsehaut bekam und die Sonne hinter den Horizont kippte, und sie Krabbenbrötchen kauend durch die dunkelnden Möwenschreie landeinwärts gingen, entdeckten sie das Bild. Es lehnte mit anderen an einem Steg wie eine Nebensache.

Niklas sah sofort, dass dieses eine sich deutlich vom grelltintigen Kitsch der anderen abhob. Das Motiv war keineswegs ungewöhnlich, es zeigte nur ein Segelschiff auf Wellen, einen Dreimaster. Doch dieses Schiff fuhr und atmete, und die Wellen lebten, und die Farben kamen direkt aus der Wirklichkeit dieses goldenen Abends.

Der Hintergrund wirkte, als wäre das Papier von der Sonne goldgelb gebrannt und nicht von der Hand des Malers so bestimmt. Außer dem Safrangelb, das die augenblickliche Tönung des noch in den Sonnenabschied getauchten Himmels genau traf, war keine Malfarbe verwendet worden. Der bauchige Schiffrumpf, voll von Raum für Vieles, war aus einer Schicht winziger, heller Bernsteinbruchstücke aufgestreut und mit nur wenigen flüchtigen Bleistiftstrichen ergänzt. Die Bullaugen und die verwegenen Masten bestanden aus sorgsam angeordneten dunkelbraunen Bernsteinsplittern. Die Segel bauschten sich durchscheinend aus weißem Seesand, und aus demselben Seesand rauschten und schäumten die Kämme braungrüner dunkeltiefer Bernsteinwellen. Über den Himmelshintergrund zogen sich feine honigfarbene Bernsteinwolken und beschertem dem Bild einen Anflug vom Funkeln der ersten Sterne; und auch am Schiffsrumpf hing verhaltenes Glitzern wie von Spritzern der Gischt.

Das Schiff trug keinen Namen, aber Mut, Zuversicht und Hoffnung; es war auf seiner Fahrt, und die Welt, in der es so sehr unterwegs war, voller Licht.

Auch den heruntergehandelten Preis konnten sie sich eigentlich nicht leisten, aber Niklas war nicht davon abzubringen. Stolz waren sie weiter in den Abend gewandert, Niklas mit dem großen Rahmen, während sie ihm den Rest des Krabbenbrötchens füttern musste. Er hatte ja keine Hand frei: er trug ein Schiff.

Heute, dachte Lina als sie sich mühsam aufrichtete, um besser sehen zu können, barg das Schiff ihr ganzes unglaubliches Vermögen. Von Tag zu Tag hatte das Schiff mehr geheime Frachträume bekommen, um die nur Lina wusste. Nur einen Namen hatte es noch immer nicht. Sie hatte stets danach gesucht, nach einem, der stolz und großartig und ungewöhnlich war und den richtigen Klang hatte.

Hinter jedem Bullauge wusste sie etwas Besonderes, einen funkelnden Fang aus dem Meer ihrer Stunden mit Niklas.

Den Klang seiner eifrigen Schritte im Flur. Den Geschmack der Brombeeren, die er mit vollen Händen zu ihr in die Küche getragen hatte, da er nie daran dachte, eine Schüssel mit hinauszunehmen, und die Flecken, die darum immer noch auf dem Teppich waren. Den Geruch der von ihm verlegten roten Steinfliesen auf der Terrasse nach einem Regenguss an einem heißen Nachmittag. Morgens auf dem Kissen sein Profil neben ihr, das ihr einen neuen Tag bedeutete. Den Schein der ungewöhnlichen seegrünen Lampe, die er ihr zu einem Hochzeitstag geschenkt hatte. Den diamantenen Bach durch irgendeine Wiese, an dem sie einen ganzen Junitag verbracht hatten, an dem Niklas eigentlich im Büro hätte sein müssen. Er war sehr pflichtbewusst, aber immer wieder einmal sagte er: "Manchmal ist es wichtiger, mit Dir sehen zu gehen." Dann schenkte er ihr vierundzwanzig Stunden am Stück. Jeden dieser Tage bewahrte sie hinter den Bullaugen auf, keiner von ihnen hatte im Laufe der Jahrzehnte an Sekunden verloren.

Auch Lina hatte dunkle Stunden, in denen sie an diese Schätze nicht herankam, aber sie wusste immer, dass sie danach alles unversehrt wiederfinden würde.

Ihr Schiff war großzügig mit seinem Frachtraum, sie konnte beliebig hineinfüllen. Es gab auch Kabinen für die Freunde, die durch ihr Leben gezogen waren wie Pusteblumensamen; manche hatten in ihrer Nähe Wurzeln geschlagen, andere hatte es weitergetrieben. Längst waren sie alle auf die eine oder andere Weise fort, aber in den kleinen Kajüten des Bernsteinschiffes wohnten sie noch immer. Sie waren es gewesen, die mit Lina zusammen Niklas' tiefes, erschütterndes Lachen so oft wie möglich hervorgelockt hatten, das durch den Garten lief und die Dämmerung zwischen den Johannisbeerbüschen und die Zukunft füllte, die Löwenzahnblüten heller leuchten ließ, und über den See bis zum anderen, weiten Ufer zu kräuseln schien.

Selbst für den riesigen, hellblauen Eisberg, den einmal zu sehen sie immer geplant hatten, und bis zu dem das Leben nicht gereicht hatte, war Platz im Schiffsbauch. Es war nicht einmal Traurigkeit um ihn, denn schon in ihren Träumen war er wunderschön gewesen, weil es ein Traum war, der ihnen zusammen gehörte.

Die Klingel rief zweimal, dann knirschte der Schlüssel in der Tür: die pünktliche Krankenschwester von der Sozialstation. "Guten Abend, Frau Amberger! Sie haben ja kaum etwas gegessen! Wie fühlen Sie sich?" Hastig räumte Schwester Bärbel das Geschirr zusammen, das der fahrbare Mittagstisch irgendwann gebracht hatte. Sie sah müde und besorgt aus.

"Danke, es geht mir hervorragend", sagte Lina beruhigend. Um die Schwester zu überzeugen, war hinter den Worten nicht genug Luft, dabei war ihre Wahrheit aufrecht wie die Schiffsmasten.

Schwester Bärbel fischte eilig ihr schlangengleiches Stethoskop aus der Tasche und richtete ihre Ohren auf die Wogen in Linas Brust. "Schon wieder soviel Wasser", sagte sie und schüttelte den Kopf. Sie hatte plötzlich Falten auf der Stirn wie der Strand nach einer Sturmflut. "Haben Sie Ihre Herztabletten nicht genommen?"

"Ich war ganz artig", sagte Lina belustigt. Schwester Bärbel müsste in ihrem Beruf eigentlich wissen, dass kein Leben ewig auf dem Weg ist.

"Es tut mir leid, das kann ich nicht verantworten. Ich werde den Notarzt rufen". Schwester Bärbel stopfte im Nebenzimmer eifrige Sätze durchs Telefon. Dann kam sie zurück und nahm Linas Hand. "Frau Amberger", sagte sie, "der Arzt wird in etwa einer Stunde hier sein. Ich muss jetzt schnell noch zu einem Patienten, aber bis der Arzt kommt, bin ich wieder da und lasse ihn rein. Sie brauchen nicht aufstehen."

"Ist gut, Kindchen", sagte Lina.

"Dann packe ich Ihnen auch noch eine Tasche", versicherte Schwester Bärbel. "Es kann sein, dass er Sie ins Krankenhaus einweist. Überlegen Sie schon mal, was Sie mitnehmen wollen." Weg war sie. Die Tür bummerte ins Schloss.

Das Meer aus Stille in der Wohnung kehrte zurück. Lina schmunzelte. Sie musste nichts mitnehmen. Es war alles geborgen in ihrem Schiff.

Der Arzt würde verstehen, dass eine Welle zu Ende geht, und dass dieselbe Welle nie wiederkommt. Es ist immer eine andere, die aber so Vieles aus der alten in sich weiter trägt.

Und die Wellen tragen die Schiffe den Himmel entlang, und die Schätze sinken nicht, wenn sie wirklich waren.

Die Zahlen neben Wetter-Willi zeigten an, dass die Sonne heute um 19.32 Uhr untergehen würde.

Eines blieb noch zu tun. Lina fischte einen Filzstift vom Tisch und suchte nach ihren Krücken. Unter Willis wachsamen Blick sammelte sie die restliche Luft und richtete sich auf. In ihr war etwas leicht, und diese Leichtigkeit stieg auf wie eine Flut. Die Krücken brachten sie vor das Bild und sie legte die eine aus der Hand und reckte sich zum Schiff.

Schon lange hatte sie hinten auf den Rahmen "Für Jannik" geschrieben. Jannik wusste, dass er das Bild erben würde und er wusste auch um seine Ladung. Als er klein war, hatte er sich auf ihrem Schoss gewärmt und zum Schiff aufgesehen, und sie hatte ihm davon erzählt, Schatz um Schatz, außer von den geheimen. Er wusste auch, dass noch Räume darin frei waren, die er füllen konnte, wenn seine Zeit war.

Aber der Name fehlte noch, und nun plötzlich wusste sie ihn. Es war ganz einfach. Er war nicht stolz und ruhmreich, aber sein Klang passte, es gab nur einen richtigen, und er war großartig genug.

"Lina Niklas" schrieb sie, etwas krakelig, auf den Bug, der gerade auf einem hohen Wellenkamm triumphierend zum Himmel zeigte. Sie konnte den Wind spüren; eine frohe Brise wirbelte um die Masten und auch um ihre Nase und füllte die Segel neu.

"Niklas Lina" wäre ihr lieber gewesen, aber Schiffe tragen nun einmal meist weibliche Namen.

Der Weg zurück zum Sofa war unnötig weit. Lina setzte sich behutsam auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken vertrauensvoll an den Schrank. Wie damals an den Leuchtturm.

"Wetter-Willi", sagte sie, "Grüß den Arzt von mir."

Sie schloss die Augen und ließ den Atem los. Er stieg unauffällig in die Welt wie Luftblasen am Seeufer an einem stillen Augusttag. Lina freute sich, dass sie sich nun nicht mehr vom Wasser würde trennen müssen, sie, die nie eine wirkliche Schiffsreise gemacht hatte. Nie war sie weiter als bis zur Insel Mainau gefahren oder mit der Fähre bis Amrum, oder auf dem Wannsee mit dem blau-weißen Schlauchboot, aus dem heraus Jannik mit nackten jungen Füßen silberne Wasserkugeln in den Sommerhimmel jubelte.

Und doch hatte der Anblick von Schiffen, vor allem Segelschiffen, sie immer fliegen lassen, tief von innen heraus.

Über ihr öffnete Wetter-Willi den Regenschirm.

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Eingereicht am
22. Juni 2006

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