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Eisblumen

© Elke Link


Eisblumen an der Fensterscheibe lassen mich für einen Moment meine Sorgen vergessen. Wie schön sie sind, diese kleinen bizarren Gebilde. Tausende und Abertausende von kleinen Kristallpartikelchen fügen sich zu einem akkurat aufeinander abgestimmten Ganzen zusammen. Sie sind so schön, so wunderschön, dass sie mich faszinieren, dass sie helfen, meine leisen Tränen, wenn auch nur für einen Moment, versiegen zu lassen.
Doch nur für einen ganz kurzen Moment - schon wieder bin ich zurück.
Es ist kalt draußen und ich glaube, hier drinnen ist es noch kälter.
Die Heizkosten würden uns erschlagen, sagt mein Papa. Wir sollen uns lieber nachts gut zudecken und einen warmen Schlafanzug anziehen. Die Heizung im Kinderzimmer andrehen dürfen wir nicht.
Unten schlägt die Haustüre laut ins Schloss. Papa ist heimgekommen.
Plötzlich höre ich Geräusche.
Ich halte den Atem an.
Hatte ich nicht gerade Mutters schrille Stimme gehört?
Ich weiß, warum sie Vater heute so anschreit.
Und ich glaube, er hat es mal wieder verdient.
Ich sitze in meinem Bett und zittere. Nicht nur wegen der Kälte, sondern weil ich Angst habe. Ich befürchte, dass der Streit schlimmer wird. Ich habe Angst, dass sie sich schlagen. Mama und Papa.
Ich halte mir die Ohren zu und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Ich versuche einzuschlafen, um meinen schrecklichen Gedanken ein Ende zu machen.
Ich schaffe es nicht.
Es wird wieder laut draußen. Ich höre Vaters fadenscheinige Erklärungen, Ausreden, Entschuldigungen.
Er versucht, Mutter zu beruhigen, deren Stimme sich überschlägt.
Eine Zeitlang ist Ruhe, meine Augen fallen für wenige Sekunden zu, aber es dauert nicht lange und die Schreierei geht wieder los.
Schon wieder wandert mein Blick zu den Eisblumen hin, als suchte ich Verbündete.
Sie lächeln mich an, als wollten sie mir eine Freude machen, als würden sie mir zuwinken. "Warte ab, schlaf schön - es kommt auch wieder eine bessere Zeit", raunen sie mir zu.
Wie gerne würde ich einmal richtig weinen können, vielleicht zu Mutti ins Bett kriechen, damit sie mich lieb hält und mich tröstet.
Wäre ich doch noch ein kleines Kind, wie meine kleine Schwester Emma, dann würde ich mich, wie sie, an meinen Teddy kuscheln und die Welt um mich herum vergessen.
Aber ich bin ja schon 11 Jahre alt und - eigentlich vernünftig.
Niemandem kann ich meine Traurigkeit zeigen.
Ich muss alleine damit fertig werden, weil ich mit keinem Menschen reden kann. Noch nicht einmal Oma werde ich was verraten, weil sie sonst genauso traurig ist wie ich. Außerdem darf niemand wissen, was ich weiß.
Es gibt da eine andere Frau.
Wie kann Papa überhaupt eine andere Frau anschaun, wo er doch die Mutti hat.
Sie ist doch so schön ...
Wie kann er uns vergessen. Emma und mich?
Werden wir jetzt alle auseinander gerissen, ein Kind zu Papa und eins zu Mutti? Oh nein, ich werde sterben, ich kann es nicht ertragen ...
Papa weiß gar nicht, wie entsetzlich dieser Schmerz ist, dieses Gefühl, das man empfindet, wenn alles auseinander bricht. Mein schönes Leben wird vernichtet von dieser fremden Frau.
Ich habe sie gesehen.
Gestern Nachmittag sah ich sie in ihrem Wagen sitzen. Neben ihr - Papa. Ich konnte es kaum glauben, dass er es war, der neben ihr saß. Aber er war es tatsächlich! Es war schrecklich. Er lachte mit ihr und küsste sie auf den Mund. Schrecklich lange. Gott sei Dank sahen sie mich nicht, sie riskierten sogar, von den Nachbarn gesehen zu werden.
Warum nur lässt Papa sich immer wieder von diesen fremden Frauen verführen?
Ich bin mir sicher, dass Papa nichts dafür kann.
Diese Frau ist, genau wie alle anderen Frauen - daran schuld, dass unsere Familie zerbricht. Sie sind Hexen. Und diese Frau von gestern hat meinen Papa verzaubert. Ich habe ihre bösen Augen gesehen. Ich muss Papa retten.
Ich lege mich wieder hin und versuche, mir ihr Gesicht vorzustellen, was mir nicht gelingt. Wilde Gedanken quälen mich: Ich renne ihr hinterher, fordere sie auf, stehen zu bleiben. Ihre kalten Augen starren in meine Richtung. Sie fürchtet sich vor mir, angsterfüllt fleht sie mich an, ihr nichts zu tun. Aber ich werde nicht gnädig sein. Ich schimpfe sie eine Hexe, ich schreie ihr meine Verachtung und meine Wut entgegen, bis sie schreiend davon rennt.
"Meinen Papa kriegst Du nicht, der gehört uns", triumphiere ich lauthals hinter ihr her, bis sie mich nicht mehr hören kann.
Wie eine schwere Last fällt die Angst von mir ab.
Nun bin ich zufrieden, kann endlich meine Augen schließen.
Noch ganz kurz streife ich mit meinen Augen die Eisblumen am Fenster, die mir zulächeln. Woher wussten sie, dass ich Papa befreien würde?
Von Ferne höre ich leise Musik aus dem Wohnzimmer und Muttis fröhliche Stimme.
Es ist alles wieder gut.

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