Doppeltes Glück
© Gaby Schumacher
Katharina fühlte sich wie ein Hühnchen im Römertopf. Nein, der Vergleich hinkte ganz beträchtlich, denn da blieb die Temperatur ja wenigstens ziemlich konstant. Aber hier...
Es war Hochsommer und der Wetterfrosch kletterte höher und höher. Selbst die 30 Grad-Grenze bremste seine Unternehmungslust kein bisschen. Ein aufmerksamer Beobachter konnte beobachten, wie(!) sportlich Menschen manchmal waren. Die Affenhitze einfach ignorierend, übten sie sich da eingezwängt zwischen mehreren Zehntausenden Gleichgesinnter bzw. Gleichverrückter in Fitness. Im Fußballstadion war die Hölle los, denn Deutschland spielte gegen England.
Auf der einen Tribünenseite saßen die deutschen, auf der anderen die englischen Fans. Vorsichtshalber jede Truppe für sich. Man konnte ja nie wissen...
Angetan mit Trikots in den jeweiligen Landesfarben, auf den Köpfen regelrechte Kompotthüte, die frappierende Ähnlichkeit mit Narrenkappen hatten. In so manchem Falle kleidete dieses Outfit das betreffende Individuum ausnehmend gut, passte es wirklich wie die Faust aufs Auge.Vor allem die Narrenkappe.
In den Händen hielten die Zuschauer winzige, kleine oder auch Riesenfahnen. Die Riesenfahnen waren sehr praktisch. Passte einem der Ausruf des Nächststehenden nicht, rief man ihn notfalls mit einem natürlich ausschließlich zufälligen Schwenker des Fahnenstils nachdrücklich zur Ordnung und verhalf seinem lieben Mitmenschen dadurch eindrücklich zu einer wunderschön rot schillernden Beule. So geschah es auch im nächsten Moment direkt vor Katharinas Augen.
"Au!", meckerte da just eine Reihe vor ihr ein junger Mann und drehte sich erbost zu Katharina um.
"Was soll dat denn? Nee, so etwas!", blitzte er sie wütend an. Der Anblick des hübschen Mädchens aber besänftigte ihn denn sogar etwas. Ruhiger setzte er hinzu:
"Dat war zu früh und außerdem falsch. Da ist doch noch gar kein Tor gefallen und außerdem jodele ich genau für Deutschland wie Sie." "Ich...", wollte Katharina entgegnen, was aber leider in plötzlichem, ohrenbetäubendem Geschrei der Menge einfach unterging. Schweißüberströmt hopsten alle wie die Wahnsinnigen auf ihren Plätzen hin und her. Die Fahnen flatterten hoch über den Köpfen, Wildfremde Menschen verbrüderten sich.
Da unten auf dem Spielfeld lagen sich die Spieler in den Armen, applaudierten ins Publikum, einige weinten sogar vor Glück. Ein schneller Blick aufs Trikot und Katharina wusste Bescheid.
Deutschland hatte sein erstes Tor geschossen.
"Dieser dämliche Zwischenfall hat mir den(!) Genuss total vermasselt. Mist!", dachte sie.
"Die Beule hat dem aber ein anderer verpasst!" "Das war ein Schuss! Haben Sie den gesehen? Der englische Torhüter hatte ja gar keine Chance, den Ball zu halten, so, wie der den Žrein gepfeffert hat!", wandte sich der Beulenmann ein zweites Mal an Katharina. Er strahlte übers ganze Gesicht.
"Dem wären jetzt sogar zehn Beulen auf einmal total egal!", überlegte Katharina. Sie wollte sich solidarisch zeigen.
"Toor!", schloss sie sich brüllend den Anderen an und klatschte sich die Hände wund. Sie zollte ihrer Mannschaft Tribut. So gehörte sich das.
Die zweite Halbzeit brach an. Nichts Besonderes geschah. So langsam erlahmte das Interesse an dem Spiel, dass doch so vielversprechend begonnen hatte. Da wurde gedribbelt, zum gegnerischen Tor vorgeprescht, doch die Engländer waren auf der Hut. Noch Žmal ein Tor wäre zuviel der Blamage gewesen. Nein, sie drehten den Spieß um, gingen aus der Defensive in die Offensive, beherrschten mehr und mehr das Feld. Das wiederum war ein schlimmer Schock für die Deutschen. Sie griffen nach unlauteren Mitteln. Die ersten Fouls
wurden ausgetauscht. Das dicke Ende ließ nicht lange auf sich warten. Die aufgepeitschte Menge reagierte dann auch entsprechend.
Ausgerechnet der deutsche Spitzenstürmer schlug entsetzlich über die Strenge, stellte deutlichst sichtbar dem englischen Kollegen ein Bein und riss ihn gleichzeitig am Arm zu Boden. Unter den entrüsteten Pfiffen aus Tausenden von Kehlen wurde er von Schiedsrichter des Platzes verwiesen. Von da an litt die deutsche Mannschaft und Katharina mit ihr. Bereits nach den nächsten zehn Minuten steckten die Deutschen ein Tor ein. Ausgerechnet ein Elfmeterschuss. Katharina war es zum Heulen.
"Nein, Deutschland darf einfach nicht verlieren. Bloß nicht!" Mehr und mehr geriet sie in Rage, trat in verzweifelter Hilflosigkeit von einem Bein aufs andere. Schließlich bezähmte sie sich nicht länger, rempelte die Umstehenden an, stieß sie unsanft zur Seite und drängelte sich keck nach vorne.
"Unverschämtheit das! Wenn alle das täten!"
Katharina stellte ihre Ohren auf Durchzug. Sie beherrschte nur noch ein einziger Gedanke:
"Das lass ich nicht zu. Ich will retten, was zu retten ist." Sie hatte doch so oft mit ihrem Vater im Garten Fußball gespielt und sich dabei recht tapfer geschlagen. Wieso sollte sie nicht auch jetzt... ?
Je länger sie darüber nachgrübelte, umso stärker fühlte sie sich. Noch ein paar Sprünge und schon stand sie zwischen den Spielern, die sie entgeistert ansahen.
"Nee, keine Sorge! Ich bin kein durchgedrehter Fan. Wartet ab: Jetzt wird gesiegt!" "Hääh??" "Staunen könnt ihr später. Los jetzt!"
Zehn Männer klappten zunächst total verblüfft den Mund wieder zu, vertraten sich eine Zehntelsekunde lang die ob der Überraschung wackelnden Beine... und spurteten. Ihres eigentlichen Mannschaftskapitäns verlustig gegangen, hatte sie all ihr Mut verlassen. Doch jetzt schöpften sie nochmals Hoffnung und überließen sich willig der Führung eines doch eigentlich nur schwachen Weibes.
Doch so schwach war das gar nicht: Energisch kommandierte Katharina herum:
"Schneller!"
"Fang` ihn ab!"
"Nach vorne!"
"Schießen!!"
Prima klappte das. Der Frust ließ nach. Die Elf imponierte wieder mit guten Aktionen. Das Publikum dankte mit häufigem Beifall. Katharina selbst wuchs über sich hinaus.
"Wenn das Mama und Papa sähen...Denen fielen die Augen aus dem Kopf!"
Fast alles spielte sich jetzt in der Nähe des englischen Tores ab. Fast jeder Versuch der Engländer, die deutsche Front zu durchbrechen, schlug fehl. Verzweifelt konzentrierten sie sich deshalb darauf, den Ball in der Mitte des Feldes zu halten, um die Deutschen wenigstens vom eigenen Tor wegzulocken.
Da passierte es: Das englische Tor stand für ein paar Sekunden ausschließlich vom Torhüter bewacht. Katharina bemächtigte sich des Balles, nahm einen gewaltigen Anlauf und schoss. Der Ball nahm seine Bahn hoch durch die Luft.
"Was ist denn das??"
Fassungslos starrten alle, das Publikum, die Spieler und erst recht Katharina ihm hinterher und mochten ihren Augen nicht trauen. Der Ball sauste nicht etwa zielsicher ins Tor, sondern stieg höher und höher, weiter und weiter in den Himmel. Bald war er nur noch als kleiner Punkt zu sehen. Das runde Leder, Ziel aller Träume, war weg.
Katharina war zur Salzsäule erstarrt.
"Das war` s denn wohl!", sagte sie halblaut vor sich hin. Die Spieler senkten die Köpfe. Zu einer Antwort fehlten ihnen da die Worte. Aus dem Publikum war kein Laut zu vernehmen.
Langsam kehrten Katharinas Lebensgeister zurück.
"Dafür hat unsere Elf sich nicht die Beine aus dem Leib gestrampelt. Dafür habe ich nicht wie eine Wilde gekämpft. Soo nicht!"
Plötzlich, sie konnte es gar nicht erklären, wieso eigentlich, dachte sie an ihren Schwarm, an ihre große Liebe aus der internationalen Musikszene.
"Was würde er tun? Eins ist sicher. Sting gäbe nie auf: Der würd` auch hiermit fertig!" Vor lauter Liebe seufzte sie laut.
"Ach ja, der müsste jetzt bei mir sein. Dann hätten wir dieses Problem nicht mehr!"" Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen und dachte ganz innig an ihren geliebten Sting.
Katharina blinzelte in den Himmel, an dem noch immer ein kleiner schwarzweißer Punkt zu sehen war, der da nun wirklich absolut nicht hin gehörte. Völlig mit den Nerven am Ende, kamen ihr die Tränen.
Im nächsten Augenblick schreckten das Publikum, die Spieler und erst recht Katharina aus ihrer Trauer auf. Zuerst war es nur ein winzigkleiner schwarzer Flecken am Himmel, der sich aber rasch näherte und dabei immer größer wurde. Katharinas Herz begann gewaltig zu klopfen. Sie schrie auf. Ihr Schrei dröhnte nur so durchs Stadion.
Wir alle kennen Superman aus Film und Fernsehen. Genau solch ein wunderbares Wesen näherte sich dort mit Blitzgeschwindigkeit und flatterndem rotem Umhang, an dessen Saum abwechselnd goldene und schwarze Bommel genäht waren.
"Eine lebendige Deutschlandfahne!", jubelte Katharina.
Im nächsten Moment dann glaubte sie vor Glück ohnmächtig zu werden. Dieses wunderbare Wesen war nicht "Superman", sondern das(!) wunderbarste Wesen der ganzen Glimmer- und Flimmerwelt. Es war ihr(!) Sting. In seiner Hand hielt er den Ball.
"Wieso... ?", stotterte sie, kaum dieser Frage fähig.
"Ich wusste einfach, dass du mich brauchst!", entgegnete Sting und sah sie strahlend lächelnd an. Das wiederum trug nicht gerade dazu bei, dass Katharinas Redefluss fließender wurde:
" Ja, aber...!", begann sie, um Fassung ringend.
Die Engländer standen wie gelähmt. Wie konnte Sting ihnen das nur antun??
Weder sie noch Katharina bekamen eine Antwort. Stattdessen legte Sting Katharina den Ball vor die Füße und gab das Kommando:
"Schnell, schieß!"
Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, gehorchte Katharina. Es hätte wohl alles seine Richtigkeit, es musste einfach so sein. Denn der Befehl kam ja von ihrem Sting.
Ihr Schuh knallte nur so gegen das Leder. In einem weiten Bogen sauste der Ball über das halbe Spielfeld und landete in der linken hinteren Torecke. Der englische Torhüter, immer noch unter Schock stehend, war keiner Bewegung mächtig gewesen und guckte verzweifelt dem Ball hinterher.
Der Bann des Erschreckens, der Überraschung war gebrochen. Alles heulte.
Die Engländer und ihre Fans vor Enttäuschung.
Die Deutschen und ihre Anhänger vor Glück.
Deutschlandfahnen wurden aufs Spielfeld geworfen. Gesänge wurden angestimmt. Von allen Seiten hörte man Fußballtröten.
Deutschland war Sieger.
Katharina fand ihre Sprache wieder:
"Warum hast du mir geholfen?"
Wieder war ein strahlendes Lächeln die Antwort:
"Für Dich tue ich alles, Katharina. Für Dich lasse ich sogar unsere Mannschaft im Stich.!"
Katharina schwamm weg. Schon zum zweiten Male in den letzten Stunden seufzte sie laut auf. Diesmal sogar noch ein wenig lauter.
Sie wachte auf. Es war Morgen und alles nur ein Traum gewesen.
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