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Das Vorstellungsgespräch

© Sybille Alexander


Nur noch fünf Minuten, dann geht es los! Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Das ist mein erstes Vorstellungsgespräch seit dreieinhalb Monaten. Eine Festanstellung mit geregelten Arbeitszeiten bei einer renommierten Maschinenbaufirma! Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Ein festes Einkommen.
Ich bin nervös, aber ich fühle mich toll, denn ich weiß, dass ich gut bin und dass ich sie für mich gewinnen werde. Auf den Stühlen neben mir sitzen drei weitere Frauen. Die haben sich bestimmt auch alle auf die Stelle beworben. Aber ich habe keine Angst vor ihnen. Konkurrenz gibt es für mich nicht, denn Konkurrenz kann es schon begrifflich nur unter Gleichrangigem und Vergleichbarem geben. Aber ich bin unvergleichlich gut. Ich bin die Beste für diesen Job. Jawohl!
Heute Morgen bin ich extra schon um sechs Uhr aufgestanden um mich zu duschen, fein anzuziehen, frisieren, schminken und um noch einmal meinen Vorstellungstext durchzugehen. Am wichtigsten sind ein ordentliches Erscheinungsbild und selbstbewusstes Auftreten hat man uns im So-werde-ich-erfolgreich-Kurs beigebracht. Man muss von sich selbst überzeugt sein, nur so kann man auch andere von sich überzeugen, nur so kann man es schaffen. Man muss positiv denken und sich ganz natürlich geben. Das haben die immer wieder wiederholt. Soweit also erstmal die Theorie. In fünf Minuten werden wir sehen, ob deren Umsetzung in die Praxis auch tatsächlich so leicht ist.
Ich habe jedenfalls alles Menschenmögliche getan, um heute einen guten Eindruck zu hinterlassen: Gestern Nachmittag habe ich mich neu eingekleidet. Ich habe mir ein neues Kostüm gekauft. Ein schickes Dunkelblaues. Dazu eine weiße Bluse, durchaus elegant. Und hochhackige Pumps.
Na ja, objektiv betrachtet ist das Kostüm eher durchschnittlich und die Bluse mehr bieder als besonders exquisit. Objektiv betrachtet lassen mich Kostüm und Bluse ein wenig älter aussehen, als ich wirklich bin, und ich bin es auch nicht gewohnt auf hochhackigen Schuhen zu gehen. (Hoffentlich stolpere ich nicht!) Aber wenigstens wirke ich gepflegt und seriös. Eigentlich konnte ich mir all das gar nicht leisten. Aber schließlich ist es eine Investition und sollte ich die Stelle wirklich bekommen, dann muss ich mich in Zukunft sowieso nicht mehr um mein bisher stets überzogenes Konto sorgen. Was heißt hier eigentlich "sollte"? Positives Denken ist angesagt! Ich korrigiere meinen Gedanken: Da ich ja ab heute Nachmittag eine Festanstellung haben werde, kann ich es mir auch leisten, mir ein paar neue Kleidungsstücke zu kaufen! Gleiches gilt für die Nagelkosmetikerin, bei der ich gestern 80.- € für falsche Nägel ausgegeben habe. Meine Nägel sind normalerweise eher kurz, meistens sogar abgekaut (weil ich nämlich zu ausgeprägter Nervosität neige), aber um einen guten Eindruck zu machen ist ein ordentliches Erscheinungsbild eben notwendig. Genau deswegen habe ich mir heute Morgen auch die Haare besonders aufwendig frisiert. Ich trage sie nie hochgesteckt, denn ich gefalle mir viel besser mit offenen Haaren, aber ordentlicher sieht es allemal aus! Es hat geschlagene vierzig Minuten gedauert, bis die Haarspange (die schöne, teure, die mir Tante Hella vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hat und die ich bisher noch nicht ein einziges Mal getragen habe) nicht nur am richtigen Fleck saß, sondern auch noch meine lockige und widerspenstige Haarpracht einigermaßen zusammenhielt.
Außerdem habe ich mir schon mal ein paar nützliche Worte zurechtgelegt. Mögliche Antworten auf deren mögliche Fragen. Und einen Vorstellungstext. Ja, ich weiß genau, was ich den Herrschaften gleich erzählen werde! Gestern Abend habe ich erst eine Stunde im Internet-Café mit einer Recherche über Ratschläge für Vorstellungsgespräche zugebracht und mir ungefähr einhundertzweiundfünfzig Notizen gemacht. Zu Hause angekommen habe ich dann versucht, diese Notizen zu ordnen und zusammenzuschreiben. Danach ein kurzer - na ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben war es ein eher langer - Anruf bei meiner Freundin Ingrid. Die Ärmste! Aber Ingrid ist wirklich die Beste! Sie hat sich mit einer Engelsgeduld nicht nur meine - objektiv betrachtet - entsetzlich langweilige Litanei angehört, sondern mir auch noch nicht verachtenswerte Tipps zu deren Verbesserung gegeben. Den Rest des Abends und die halbe Nacht habe ich dann mit Auswendiglernen verbracht. Ich bin jetzt also - objektiv betrachtet - optimal vorbereitet! Es kann überhaupt nichts schief gehen! Ich bin toll, ich bin gut und ich werde es schaffen!
Ein Blick auf die große Uhr an der Wand links von mir sagt mir, dass es jetzt nur noch drei Minuten sind. Ich friere. Komisch, denn eigentlich schwitze ich. Vor Aufregung? Oder Angst? Nein, es ist viel mehr als Angst, ich habe eine Heidenangst! Und ich bin verzweifelt. Ich fühle mich nämlich gar nicht so toll und gut. Im Grunde mache ich mir doch nur etwas vor. Ich bin vollkommen unsicher, überhaupt nicht von mir selbst überzeugt. Statt Selbstbewusstsein und Euphorie machen sich Selbstzweifel und Komplexe in mir breit. Meine ständigen Begleiter. Die dürfen natürlich auch jetzt nicht fehlen. Ich fühle mich wie eine Karikatur meiner selbst. Das bin doch gar nicht ich! Ich habe nie lange, gepflegte Nägel oder hochgesteckte Haare und trage weder Röcke noch Pumps gerne. Am wohlsten fühle ich mich in meiner alten, ausgeblichenen Jeans und Turnschuhen. Und mein Make-up ist sonst auch viel dezenter.
Und außerdem: Warum sollten die denn ausgerechnet mich einstellen? Referenzen habe ich keine, Ausbildung habe ich auch keine und Berufserfahrung lediglich als Kellnerin. Und die habe ich ausgerechnet im "Himmelscafé" gesammelt, einer schmuddligen Studentenkneipe, in der außer Bier und Cola nur ungenießbare Sandwichs serviert werden. Im Grunde genommen bin ich doch eine echte Vorzeige-Versagerin, oder? Ich habe rein gar nichts vorzuweisen!
Ja, ja, positiv denken, überzeugt von sich selbst sein und ein ordentliches Äußeres präsentieren. Um derartige Tipps zu erhalten habe ich dreihundert Euro für diesen fragwürdigen Erfolgs-Kurs ausgegeben. Wieder so eine sinnlose "Investition". Die sind gut! Und was macht man, wenn einen der Mut verlässt - ausgerechnet drei Minuten vor einem wichtigen Vorstellungsgespräch! Wenn man sich als Witzfigur fühlt? Wenn von all den guten Vorsätzen nichts mehr übrig bleibt? Ja, das habt Ihr uns nicht beigebracht in Eurem Super-Kurs. Wahrscheinlich habt Ihr darauf auch keine Antworten.
Da steh ich nun vor dieser Furcht einflößenden Tür. Gleich wird sie sich auftun und ich werde geraden Schrittes und hoch erhobenen Hauptes hineingehen und … überzeugen? Natürlich werde ich überzeugen. Ich muss nur ganz natürlich bleiben und mich auf meinen Text konzentrieren. Oh Gott, mein Text, wie fing der doch gleich an? "Guten Tag, mein Name ist Schattner, ich …"
Die Tür öffnet sich. "Frau Schattner", höre ich eine tiefe, rauchige Stimme sagen, "treten Sie bitte ein!" Ok, auf in den Kampf! Ich brauche diesen Job. Unbedingt! Ich darf es jetzt nicht vermasseln. Zu Hause fehlen so viele Sachen, Rechnungen liegen unbezahlt seit Monaten auf dem Küchentisch und jeden Morgen öffne ich den Briefkasten mit einem klammen Gefühl im Bauch und der berechtigten Angst neue Rechnungen und Mahnungen erhalten zu haben.
In dem Zimmer sitzen ein älterer, gemütlich aussehender Herr und eine streng blickende Dame Anfang vierzig. Die beiden mustern mich von oben bis unten. Ich habe fast das Gefühl, durch und durch geröntgt zu werden. Ihnen scheint kein Detail meiner Erscheinung zu entgehen. Hoffentlich sitzt meine Frisur noch. Und wieso beäugen sie so lange meine Pumps? Sind sie vielleicht schmutzig? Oder zerkratzt? Nein, das kann gar nicht sein, sie sind schließlich nagelneu. Meine Knie werden weich und ich habe Schwierigkeiten, mein Gleichgewicht auf diesen verdammten Absätzen zu halten.
Ganz besonders lang heften sich die Augen der Frau auf meine Hände. Wie gut, dass ich gestern noch bei der Nagelkosmetikerin war! Dann werfen sich der Mann und die Frau viel sagende Blicke zu. Noch bevor ich dazu ansetzen kann, meinen auswendig gelernten Text aufzusagen, höre ich den Mann sagen: "Ääähhm, Frau Schattner, es tut uns sehr leid, aber Sie entsprechen nicht dem von uns für diese Stelle vorgesehenen Profil. Das ist auf den ersten Blick zu sehen. Wir hoffen, dass Sie durch uns nicht allzu viel Zeit verloren haben. Vielen Dank für Ihr Interesse und auf Wiedersehen."
Ich starre erst ihn und dann sie mit ungläubigen Augen und geöffnetem Mund an. Ich bin völlig perplex. Am liebsten würde ich los schreien: "Was bildet Ihr Euch eigentlich ein? Wie könnt Ihr über mich urteilen, bevor ich auch nur ein einziges Wort gesagt habe? Ich will und ich brauche diesen Job! Ihr könnt mich nicht so einfach wieder wegschicken. Ich habe mich so gut vorbereitet!" Stattdessen bringe ich keinen Ton hervor. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich sehe alles nur noch verschwommen. Weinend drehe ich mich um und verlasse schnellen Schrittes das Zimmer. Ich renne so schnell ich kann aus dem Gebäude. An der nächstgelegenen Bank halte ich an und setze mich. Ich bin wütend und enttäuscht. Was stimmt mit mir nicht? Warum bloß wollten sie mich nicht? Was habe ich nur falsch gemacht? Ich kann doch gar nichts falsch gemacht haben, denn ich habe noch gar nichts getan. Sie haben mich nichts tun und nichts sagen lassen. Sie haben mir von vornherein keine Chance gegeben. Mich einfach wieder weggeschickt.
Frustriert krame ich in meiner Handtasche nach der ausgeschnittenen Annonce und nach einem Feuerzeug. Ich fühle mich ganz benommen. All meine Hoffnungen schwimmen fort. Bevor ich das Stück Zeitungspapier in Flammen setze, lese ich noch einmal den Anzeigentext: "Maschinenbaufirma sucht Vollzeit-Putzkraft für Büro- und Werkräume".

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