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Time for Love

© Birge Laudi


Träge floss ihr Leben dahin. Nichts rührte sich. Nichts änderte sich.
Sie blickte ihrer aufsässigen Tochter hinterher, die mit dem Fahrrad zur Schule fuhr. Eine einsame zornige Gestalt in der aufgehenden Sonne zwischen Wiesen und Feldern. Schwierig war sie heute wieder gewesen. Eigentlich wie fast immer. Die 14-Jährige hatte ihr an den Kopf geworfen, sie sei selber schuld, dass ihr der Ehemann weggelaufen war. Wer wollte schon in dieser gottverlassenen Gegend wohnen! Aber sie hatte ja darauf bestanden, auf dem runtergewirtschafteten kleinen Hof der Großeltern zu bleiben. Nur sie!
Da war er gegangen und hatte seine Frau Christina und die Tochter Anna-Marie in der Einöde zurückgelassen.
Seufzend betrachtete Christina ihre Blumen- und Gemüsebeete. Die Gartenarbeit machte ihr Spaß und lenkte sie ab. Obst und Gemüse baute sie an, für das leibliche Wohl, und viele Blumen für die Seele. Sie hatten ihr Auskommen, Mutter und Tochter. Sie stritten und sie liebten sich. Hie und da aber hätte ein männliches Wort und eine kräftige Hand mehr ausgerichtet. Bei der Erziehung und bei der Arbeit in Haus und Garten.
Seit ihr Mann sie verlassen hatte, glich ihr Leben einem lustlosen Fluss, einem Fluss, dem das erfrischende Gefälle fehlte, die Stromschnellen und Wirbel, die kantigen Felsen und ruhigen Staubecken. Der Sauerstoff in dem dumpfigen Gewässer ihres Lebens wurde knapp. Alles begann abzusterben. Die Wünsche und Sehnsüchte trieben wie tote Fische mit dem weißen Bauch nach oben auf den stillen Tagen und einsamen Nächten, während die aufsässige Tochter ihren ersten Liebeskummer durchlebte. Auch ihr Lebensfluss hatte erstmals seine Klarheit verloren, war zu einem wirren Strudel der Gefühle geworden.
Gedankenverloren bückte sich Christina und zupfte ein wenig Unkraut zwischen den sprießenden Spinatpflanzen heraus. Eine Weinbergschnecke zog in den Furchen ihre gemächliche Bahn. Ohne Eile, doch zielstrebig und unbeirrt, glitt sie die Spinatreihen entlang, in nachlässiger Eleganz ihr dunkelbraunes Haus gebuckelt. Geradezu majestätisch begann die Schnecke ihren Tag.
Christina liebte die Weinbergschnecken. Sie waren so selbstsicher und sie hingen an ihrem Haus, wie sie selbst an ihrem windschiefen Großelternhaus hing. Wie gerne hätte sie dieses verwahrloste Anwesen auf den Rücken genommen und ein wenig näher an die Stadt heran getragen, um ihren Mann halten zu können, um die stets nörgelnde Tochter zufrieden zu stellen. Doch Christina war eben keine Weinbergschnecke.
Es war warm und es hatte ein wenig geregnet. Die Pflanzen im Garten dehnten sich wohlig, die Vögel sangen den anbrechenden Tag herbei und unter Blättern und Blumen regte es sich leise. Ganz wenig nur und ohne große Erschütterungen. Zwei blasse Hörner schoben sich langsam unter den weißfilzigen Blättern einer Lichtnelke hervor; eine zweite Weinbergschnecke brach zu ihrem Rundgang durch den Garten auf. Sie trug ihr Haus von der Nelke zur Schwertlilie, von der Glockenblume zur Taglilie und überall nahm sie einen kleinen Happen zu sich, raspelte sich etwas Grün ab und zog ihren schleimigen Pfad hin zur nächsten Blume.
Die kleine Tierwelt des Gartens nahm ihr Tagwerk ohne Eile in Angriff, begann wie jeden Morgen mit viel Muße zu leben und da es gerade an der Zeit war, der sich die Tiere von einem inneren Drang gesteuert unterwarfen, lebten die Weinbergschnecken jetzt auch in Ruhe und Gelassenheit ihr Liebesspiel.
It's time for love für die Helix pomatia, die deutsche Weinbergschnecke, dachte ein wenig neidisch Christina.
War für die Schnecken die Zeit gekommen, verschossen sie ihren Liebespfeil und sie schossen ihn in den Fuß der Auserwählten, nicht ins Herz, wie Amor bei den Menschen zu tun pflegte.
Gestern schon hatten sie den warmen Regen für ihr Liebestreiben genutzt. Hatten ihre Unterseiten aufeinandergepresst und so stundenlang vor dem blauen Blumentopf mit der weißen Geranie hinter dem Haus in Wonne verharrt. Ihre Häuschen, fleckig und kalkig, ein wenig abgeschabt und verbraucht von den vielen Jahren, die sie schon auf dem Buckel hatten. Sie waren in ihrem langsamen Liebestrott unermüdlich. Während die eine in sich verzwirbelt unter das aus den Pflasterritzen der Terrasse wuchernde Unkraut kullerte, machte sich die andere lang, fast kroch sie ganz aus ihrem Haus heraus, wurde dünn wie ein Wurm. Und dann fingerte und streichelte sie über Stunden die in sich verkrümmte andere Schnecke. Zeit schien keine Rolle zu spielen bei diesem Treiben. Und so lagen sie mal eng umschlungen im Nieselregen, mal kullerten sie umher, befühlerten sich und trennten sich wieder und irgendwann waren sie beide erschöpft. Die eine zog sich hinter einen abgebrochenen Besenstiel zurück, die andere blieb einfach mitten auf der Schwemmkiesplatte liegen, auf der sie ihr letztes Pulver verschossen hatte.
Christina hatte sich an den alten französischen Spielfilm 'Das Schneckenrennen' erinnert. Vor Jahren hatte sie ihn gesehen, war neidisch gewesen auf das alte bäuerliche Anwesen weit draußen in der Landschaft. Mit viel Anteilnahme hatte sie die Liebesgeschichte von Mensch und Schnecke auf der Schneckenfarm verfolgt. Sie glaubte, dass ihre Liebe zu den Weinbergschnecken von diesem Film herrührte. Vielleicht auch die Liebe zu dem alten Bauernhaus weit außerhalb des Ortes.
Die beiden Weinbergschnecken beim blauen Blumentopf hatte sie gestern ihrer wohlverdienten Ruhe überlassen und sich der Gartenarbeit zugewandt. Spät abends war sie noch einmal hinter das Haus gegangen und hatte nach ihnen gesehen. Sie fand sie Bauch an Bauch in inniger Umarmung. Ein derart langanhaltender Liebesakt verdiente Respekt. Schnecken kennen nicht unser time is money. Für sie gilt im besten Falle nur ein time is love.
Diese beglückende time for love in dem kleinen Anwesen galt nicht für Christina und nicht für ihre Tochter, das galt seit geraumer Zeit nur für die Schnecken.
Gern hätte Christina einen solchen Liebespfeil ihrem Mann in den Fuß geschossen, wie es die Schnecken taten, um ihn zum Bleiben zu bewegen, ihm zu signalisieren: Lauf nicht weg! Ich bin da für dich. It's time for love!
Inzwischen hatte eine andere Frau ihre Pfeile verschossen und ihn mitten ins Herz getroffen. Christina aber barg nun ihr Herz in dem alten Bauernhäuschen, hatte die Fühler wie ein erschreckter Schneck eingezogen und lebte neben einem winzigen Beitrag zum Unterhalt durch ihren Mann von dem, was ihr Garten hergab.
Die Stunden und Tage verstrichen ohne Widerhall. Entsetzt merkte sie, wie ihr das Leben zwischen den Fingern zerrann und ihr nichts blieb. Sie musste etwas tun, musste ebenso zielgerichtet und selbstsicher wie die Weinbergschnecke im Spinatbeet, ihren Weg suchen, musste ihrem Leben wieder einen Sinn geben.
Und wie sie so dem Treiben ihrer Schnecken zusah, die sie liebte und die ihrerseits ihren Garten liebten, da keimte in ihr ein Gedanke. Ganz langsam formte sich eine Idee, wuchs und nahm Gestalt an. Sie hatte plötzlich wieder einen Wunsch, hatte einen Traum und eine Vorstellung von der Zukunft.
So, als sei der träge Fluss in ein neues Bett geströmt und habe an Temperament zugelegt, habe rasante Fahrt aufgenommen und ließe seine Wellen spritzend und schäumend sich überschlagen, so wirbelten auf einmal die Ideen in Christinas Kopf. Sie würde eine Schneckenzucht aufbauen, würde die Langsamkeit zum Idol erheben und sich neben dem kleinen Zubrot durch den Verkauf der Schnecken mit einer Vielfalt von Leben umgeben, mit vielen Tausenden von kleinen Freunden. Ohne Eile würde sie ein Leben in ihrem kleinen Haus und mit den Schnecken führen und die würden sich ohne Eile mit dem Häuschen auf dem Rücken lieben. Zu Zehntausenden! Welch ein Paradies!
Als Anna-Marie aus der Schule nachhause kam, sah sie mit Erstaunen, wie ihre Mutter im Garten ein großes Areal abgesteckt und mit engem Maschendraht eingezäunt hatte. Die sonst so bedrückte Mutter redete und sang bei der Arbeit leise vor sich hin und ab und an schnappte die überraschte Tochter ein paar Worte auf. War sie jetzt total übergeschnappt und führte schon Selbstgespräche?
'He, Mom, mit wem redest du denn?', rief sie in den Garten.
'Na, mit den Schnecken. Mit wem sonst?'
'Sag mal, spinnst du jetzt?' Anna-Marie war entsetzt.
Die Mutter lachte.
'Ja, ein bisschen verrückt bin ich schon. Komm her, ich zeig dir was.'
Nachdem Christina der Tochter ihre Zukunftspläne auseinandergesetzt und sie mit ihrer Begeisterung angesteckt hatte, begannen die beiden Frauen gemeinsam das Gehege für eine Schneckenfarm vorzubereiten.
Tagelang arbeiteten sie Seite an Seite im Garten, wenn die Tochter aus der Schule kam. Sie setzten Pfähle, zogen Drähte und Zäune, gruben den Boden um für die Aussaat von geeigneten Futterpflanzen und sie redeten und lachten miteinander, wie schon lange nicht mehr. Als die kleine Farm fertig war und sie nun die Schnecken einsetzen konnten, feierten sie das Ereignis mit einer Flasche Sekt.
Christina hob ihr Glas. Voller Zufriedenheit schaute sie auf das Werk ihrer Hände. Sie lächelte ihrer Tochter zu, ließ den Blick über die Felder und Wiesen bis zur Stadt in der dunstigen Ferne schweifen.
'Prost, mein Schatz. Auf uns und die Zukunft', sagte sie.
Doch bevor sie einen Schluck nehmen konnte, erstarrte ihre Hand mit dem Glas auf dem Weg zum Mund. Über den Feldweg kam eine einsame Gestalt langsam auf ihr Haus zu. Es war ein Mann. Ein Mann mit einem Koffer in der Hand. Ein Mann, den sie sehr gut gekannt, den sie geliebt und vermisst hatte.
It's time for love!

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