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Ein Märchen (ma non tanto) mit Fragen – Von István Kalász. Ein Mädchen, das in der Nähe der Grenze lebt, hat Sehnsucht nach dem Meer.

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Dez
01
Ein Märchen (ma non tanto) mit Fragen
© István Kalász

Es war einmal ein Waisenmädchen, es wohnte in N., in einem Dorf, in der Nähe der Landesgrenze ...

- Dort, wo die hohen Wachtürme immer noch stehen, wo nachts die Scheinwerfer brennen und wo die Taxifahrer keine Fremden ins Auto nehmen? Ja, so war diese Gegend, wo das Mädchen lebte ... In dieser Gegend kommen die Flüchtlinge in der Nacht über die Grenze, die Leute lassen die Hunde los, manchmal hört man Schreie aus der Ferne, jeder hält eine Waffe im Hof, unter den Betten ist oft ein Gewehr versteckt, in der Scheune wird heimlich elender Schnaps gebrannt, die Grenzpolizei fährt mit schweren Geländewägen ... ja, genau so ist es dort, denn wie ich schon sagte, das arme Mädchen lebte unweit von der Grenze.

Und dieses Mädchen wollte das Meer sehen.

- Ja, das Meer. Denn sie hatte in einem Buch über das Meer gelesen, über das Rauschen des Wassers, über die Farbe des Himmels, die sich ständig über dem Wasser veränderte, sie hatte auch über die Möwen gelesen, über den Sand am Strand, über die Sonne, die am Meer viel wärmer schien ... Ja, über die Wärme hat sie gelesen.

- Weißt du wie schön die Wärme doch sein kann? Also, du weißt es? Dann ist es gut.

Dieses Mädchen lebte am Ufer des Flusses, der auch die Grenze war, und hinter der Landesgrenze war jenes Land, das in der Ferne ans Meer grenzte. Ja, an das Meer. Mit den Wellen, mit dem Wind, mit weißen Wolken am blauen Himmel.

- Mit den Schiffen am verschwommenen Horizont? Mit den Öltankern? Ja, es gibt Menschen, die sehen nur die Öltanker, wenn sie das endlose Wasser beobachten. Wirklich, es gibt solche Leute. Aber dem Meer, dem Ewigen ist das gleich. Der Mensch kam einst aus dem Wasser, so lebt in ihm die Sehnsucht weiter, denn er möchte in das Wasser zurück. In dieses Element, sagst du? Ja, in sein Element. In die Unendlichkeit? Ja, mag sein, dass er dorthin zurück will.

Und das Mädchen sehnte sich nach dem Wasser. Nachts in ihrem Bett schaute sie die Decke an und dachte an das Meer. Denn dort wäre dann alles gut, sie wäre das enge, kalte Zimmer, ihre nörgelnde Oma, ihre ganzen Sorgen, Ängste los. Dort würde sie ihre Ruhe finden. Dann eines Tages hatte sie eine schlechte Note in der Schule bekommen, sie bekam Streit mit ihrer Oma, nun, an diesem Tag dachte sie, sie habe in jenem Grenzort lange genug gelebt, es sei an der Zeit. Zum Aufbrechen. Zum Meer.

- Geld? Ja, sie hat Geld mitgenommen ...

Nachts ging sie los. Sie kletterte aus dem Fenster und ...

- Einen Hund? Warum nicht? Ja, du hast recht, sie kletterte aus dem Fenster, lief über den feuchten Rasen, und ihr Hund lief ihr nach, er lief an ihrer Seite.

Und das Mädchen lief geradeaus runter zum Fluss, sie schwamm im kalten Wasser, sie hörte Rufe, in der Ferne leuchtete blaues Licht, irgendwo in der Nähe dröhnte ein Motorboot. Das Mädchen fror, zitterte, am liebsten wäre es umgekehrt, aber dann doch nicht. Warum nicht? Ja, weil sie zum Meer wollte. Zum Meer. Zu den Wellen. Sie erreichte das andere Ufer, sie war nun im fremden Land. Langsam dämmerte es, sie saß am Ufer und zitterte vor Kälte. Dann kam die Sonne raus, und sie lief los Richtung Osten, und siehe, in dem fremden Land war vieles ähnlich und doch anders. Das Laub der Bäume am Straßenrand war rötlicher, die Landstraße war schmaler, staubiger, und die Dächer der Häuser waren blasser, verkommener.

- Ärmer? Ja, ärmlicher. Es war ja ein ärmeres Land. Die Verkehrsampeln in der Stadt leuchteten nicht so hell, es gab auch keine Unterführung, keine Brücke, keine Überführung, und die städtischen Busse waren vom Staub bedeckt. Aber es gab schon einen Bahnübergang mit Schranken und Kreisverkehr.

- Und Kinder? Nein, sie sah keine Kinder. Nirgendwo ...

Das Mädchen hatte Hunger, es fror, ja, ihr Geld hat man aber gern genommen, so konnte es in einem Stehimbiss etwas essen. Und während sie da stand und aß, dachte sie, sie könnte doch per Anhalter weiterkommen.

Es wurde langsam wieder dunkel, als am Stadtrand ein LKW hielt und sie einstieg. Es war ein alter, rostiger Wagen, und das kleine Mädchen tat so, als sei es taubstumm, ja, das war eine gute Idee von ihr, deswegen hat der alte Fahrer nichts gefragt. Er streichelte nur den Hund, dann sprach er leise in seiner schönen Sprache. Er sprach zu sich selbst, und so fuhren sie stundenlang durch die Nacht. In der Fahrerkabine war es warm, stickig, der Alte murmelte vor sich hin, leise summte das Radio; der LKW fuhr Richtung Meer.

- Was hatte der geladen? Kühe? Fuhr er zum Hafen? Ich denke, ja.

Nun, so saß das Mädchen in der Kabine, der alte Fahrer brummte vor sich hin, der Hund schlief schon zusammengerollt auf ihrer Seite, draußen war es Nacht, ja, und das kleine Mädchen schlief ein.

- Nein, nein, sie hatte keine Angst. Warum sollte man immer vor den Leuten Angst haben? Jeder ist schlecht? Nein, das glaube ich nicht. Nun, der schlafende Mensch ist ausgeliefert, das ist wahr, aber ... schlafen bedeutet auch Vertrauen, oder? Und das Träumen? Das ist eigentlich der Sinn des Schlafens, oder?

Es dämmerte, als das Mädchen wach wurde. Der LKW stand an einem leeren Parkplatz, der alte Mann schlief auf das Lenkrad gestützt. Das Mädchen stieg aus, und sie hörte das Rauschen. Das Rauschen des Meeres, das sanfte Dröhnen hinter den Hügeln. Und sie lief los. Sie überquerte die leere Strasse, als eine Stimme sie rief. Eine Kuh rief ihr nach. Vom LKW. Sie solle helfen, bat die Kuh.

- Eine Kuh kann nicht sprechen? Aber ja, jedes Lebewesen spricht, man muss nur zuhören.

Ich bin sehr durstig, sagte leise die Kuh, bitte, tränke mich. Das Mädchen stand verwundert da, woher soll ich denn das Wasser nehmen, fragte sie, und die Kuh nickte mit dem Kopf so, dass das Mädchen verstand, der Fahrer hatte vorne Wasser. Aber das kleine Mädchen hatte Angst. Ich kann es nicht tun, der Alte war so nett zu mir. Das kann schon sein, aber uns hat er seit drei Tagen nichts zum Trinken gegeben, seit drei langen Tagen stehen wir hier auf der Laderampe, hungrig, durstig.

- Waren das wohl litauische Kühe? Ja, es kann sein ... , vielleicht kam der alte LKW aus Vilnius. Und wohin fuhren die Kühe? Ich weiß es nicht, irgendwohin.

Das Mädchen stand am Straßenrand und wusste nicht weiter. Was sollte sie tun? Ja, es kommt manchmal so, dass der Mensch nicht weiß, was richtig ist und was falsch, und manchmal kommt es auch vor, dass der Mensch einfach Angst hat. Die Angst verleiht dem Leben die Tiefe.

- Der kluge Mensch hat Angst? Nun, es ist möglich, dass du recht hast. Das Mädchen stand also da und hatte Angst, es schaute in die tiefen, tiefsten Augen der Kühe und erkannte, wenn sie jetzt den Kühen kein Wasser gibt, wird sie in ihrem Leben nie wieder Ruhe finden. Warum nicht? Weil sie das nie vergessen kann, dass sie ... ja, nie mehr. Denn worüber wir am Tag meinen, es ist weg, endlich raus aus der Seele, ja, in den Träumen kommt es wieder und schreit uns an. Du sagst, manchmal sollte der Mensch auch vergessen können? Ja, es kann sein.

Ja, das Mädchen, die Dämmerung, die leere Landstraße, die durstigen Kühe, der unruhig schnüffelnde Hund, das ferne Rauschen des Meeres. Das Mädchen trat näher, schlug die Plane hoch und sah, die Kühe hatten Wunden. Und sie sah auch, dass eine Kuh schon tot war; ihr Körper lag aufgedunsen da. Und sie sah auch noch ...

- Ist das zu schrecklich für dich? Soll ich nicht weiter erzählen? Soll ich nicht erzählen, was da für ein Gestank war? Soll ich auch nicht erzählen, wie gebrochen, leer die Augen der Tiere waren? Dass die Tiere sich gegenseitig schon angefress... Gut, ich schweige. Aber Du solltest wissen: der Schmerz kann auch heilen.

Und die Kuh sagte wieder, bitte, gib mir Wasser. Und das Mädchen ging nach vorne, nahm die Feldflasche des Mannes und tränkte die Kuh. Das Wasser ging aus, und die anderen Kühe schrien, gib uns Wasser, wir sind durstig, so durstig, bitte, hilf. Aber woher soll ich euch Wasser nehmen?, flüsterte das Mädchen. Wir kamen durch ein Dorf, dort gibt es einen Brunnen, antwortete die eine Kuh. Und wie soll ich euch das Wasser bringen?, fragte das Mädchen. Öffne doch die Sperre an der Rampe und treibe uns, sagten die Kühe.

Und das Meer rauschte, lockte hinter den gelben Hügeln, und das Mädchen wäre so gerne losgerannt, aber die Kühe sahen sie an ...

- Mit Schmerz? Ja, mit Schmerz. Wenn der Schmerz kommt, dann frage ihn, was er von dir will, schließlich so soll es doch sein, oder?

Ja, das Mädchen ließ die Kühe vom LKW runter. Die Tiere brüllten, strömten auf die Straße, liefen los in Richtung Dorf. Der Alte wurde wach, schrie, schlug mit der Peitsche auf die Kühe ein, das ist meine letzte Fuhre, mir ist so was nie passiert, morgen höre ich auf, ich habe genug geschuftet. Die Kühe liefen auf der Straße. Sie fühlen das Wasser, dachte das Mädchen, genauso, wie ich die Nähe des Meeres fühle. Und sie lief mit den Kühen.

- Warum nicht zum Meer? Das ist eine gute Frage. Das Laufen der durstigen Kühe hat sie mitgezogen? Oder sie empfand doch nichts, lief nur mit aus Angst? Wer weiß das schon? In einem Märchen gibt es nicht immer ein Warum und Deshalb. Kinder sind den Elementen immer näher, fühlst du das nicht? Kinder verstehen sogar den Wind besser, oder?

Die Tiere strömten in das Dorf, sie tranken aus dem Brunnen, die Menschen kamen verschlafen aus den Häusern heraus, sie standen stumm da und sahen, wie die verdreckten, blutenden Kühe tranken, tranken und tranken. Dann fing jemand an zu weinen, jemand schrie los und hat dem alten Fahrer einen Tritt gegeben, jemand schlug ihm in den Rücken. Die Frauen schimpften, die Männer fluchten.

- Die Instinkte beruhigen die Seele? Woher nimmst du so was?

Ja, die Tiere tranken das Wasser, das Mädchen stand nur da, und der alte Mann klagte laut, er habe nie Tiere verletzt, aber diese Kühe kämen auf den Schlachthof, und er sei ein einfacher, ehrlicher Mann. Er sei Tag und Nacht unterwegs, er habe sein ganzes Leben in der Fahrerkabine verbracht, er würde seine Enkelin nie sehen, es müsse immer schnell gefahren werden, und jetzt habe er dieses taubstumme Mädchen mitgenommen, auch den Hund ließ er mitkommen, und das ist nun der Dank. Das Mädchen hat die Kühe raus gelassen. Wer zahlt mir diesen Schaden? Das Schiff wartet auch nicht, jammerte der alte Mann weiter, und die Menschen wurden stiller, alle starrten das kleine Mädchen an. Und sie sagte leise, die Kuh hätte sie angesprochen, sie könne doch für nichts. Die Kuh? Ein Mann fragte sie verdutzt.

- War der Mann aus dem Dorf? Ja.

Ich wollte nur das Meer sehen, die Kuh hat um Wasser gebe ..., antwortete das Mädchen. Kühe können nicht sprechen, sagte darauf der Mann fest. Alle lachten, sprechende Kuh? Ach was. Das Mädchen trat vor die Kuh, aber das Tier wich ihrem Blick aus, sie schaute zur Seite, sie schaute nicht zurück.

- Was war das? Dieses Ausweichen? Verrat? Ja, es war wohl Verrat. Und Verrat ist gleich Schwäche, Feigheit? Ja, kann sein, aber jeder ist mal schwach, oder? Die Schwäche gehört zum Leben. Oder?

Die Dorfbewohner trieben die Tiere zusammen, der alte Mann brachte den LKW auf den Platz, und das Mädchen sah, wie die Tiere friedlich, still, geduldig auf den Wagen stiegen. Und der alte Fahrer? Er stellte sich vor das Mädchen und sagte, du hast mich angelogen. Du bist weder taub noch behindert.

- Warum sah die Kuh nicht in die Augen des Mädchens? Beschäftigt dich das immer noch? Ja, an diesem Punkt der Geschichte bist du hängen geblieben, ich spüre es deutlich. Nun, alle Lebewesen möchten leben, möchten überleben. Ich denke, dieses Verlangen nach Leben ist ein großer Tyrann. Ich denke, an diesem Punkt darf man nicht mehr urteilen. Über Niemanden. Denn manche lieben das Leben und manche lieben den Sinn des Lebens? Es ist gut möglich, dass du recht hast, ich denke, wir sollten öfter über solche Fragen nachdenken.

Ja, das Mädchen weinte, und der alte Mann hat Mitleid mit ihr bekommen, er streichelte sanft ihren Kopf, dann winkte er, sie soll wieder in den Wagen steigen. Das Mädchen stieg ein, der Alte winkte den Leuten zu, dann startete er den Wagen und so fuhren die beiden los. Still.

Nach einiger Zeit tauchte der Hafen, das Meer auf. Der alte Mann hielt an, das Mädchen stieg aus und ging langsam mit ihrem Hund runter zum Meer.

- Warum sollte sie dem Fahrer Geld geben? Das verstehe ich nicht. Sie war für seine Hilfe dankbar. Ist die Dankbarkeit nicht genug? Die Dankbarkeit ist auch Erinnern, oder? Und das Erinnern ist doch schön, oder?

Nun, das Mädchen saß im Sand, am Ufer. Es war Morgen, das Meer war still. Ja, es lag still vor ihr da, und diese Stille gab ihr das Gehühl, als würde sie selbst auf der schimmernden Wasseroberfläche hin und her schwingen, schweben. Unter dem riesigen Himmel.

- Oder über dem Himmel? Kann sein. Der Hund schnüffelte am Strand, Menschen kamen, gingen, lachten in der Ferne ... Und was war mit dem alten Mann?

Der Alte fuhr los. Er fuhr zum Hafen runter, dort wurden die Kühe hastig in ein Transportschiff geladen, und dieses Schiff taumelte dann Tage lang auf dem stürmischen Meer.

Wohin fuhr es? Nach Süden und nach Osten ... Ja, dorthin fuhr das Schiff mit der Fracht, zu einem Schlachthof. Das alte, rostige Schiff.

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