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Um drei war er dran

© Klaus Herrgen


Nun war es schon drei vor drei, und noch immer machte er keine Anstalten, sich zu erheben. Wie angewurzelt hockte er auf der schmalen Bierzeltbank und stützte beide Ellenbogen auf den Tisch. Von den Leuten, die sich ganz in der Nähe versammelten, nahm er keinerlei Notiz. Noch war es nicht drei. Noch war er nicht dran.
Seine Frau blickte zu ihm herüber. Das spürte er ohne aufzusehen. Sie hatte etwa ein Dutzend Eintrittskarten verkauft, die er gleich abreißen würde. Bei jeder Karte, die sie aus ihrem Verkaufswagen reichte, wurde ihr Blick ungeduldiger und fordernder.
Warum musste er wieder bis zur letzten Sekunde so unbeteiligt dort hocken, als hätte er mit alldem nichts zu tun. Sitzt da, als hätte er Steine im Leib.
Das war heute ja noch schlimmer als sonst. Man musste ihn geradezu zwingen, dabei hatte sie es schwer genug. Sie tat doch, was sie konnte, und er war ihr gar keine Hilfe. Schon längst hätte er die Leute freundlich ansprechen können; die schauten sich bereits fragend um. Auf der Tafel neben dem Wagen stand deutlich zu lesen: "Nächste Führung"; die unter diesem Schriftzug angebrachten Uhrzeiger standen auf drei.
Gleich würde sie aus dem Wagen kommen und die Zeiger auf vier stellen. So ging das jetzt schon eine ganze Zeit, und mit jeder Stunde fiel es ihm schwerer. Sie hatte gehofft, er würde sich an seine Aufgabe gewöhnen; so kompliziert war es schließlich nicht, immer wieder mit den gleichen Worten das Gleiche zu sagen. Den Text hatte er Wort für Wort vom alten Lehrer Lembert übernehmen können, für den diese Aufgabe die passende Beschäftigung für seinen Ruhestand gewesen war. Als der alte Herr spürte, dass die Beine nicht länger mitmachen würden und auch seine Sehkraft nicht mehr ausreichte, hatte er Eva angesprochen, ob Volker nicht an seiner Stelle die Führungen übernehmen könne. Bei schönem Wetter war in den Sommermonaten schon ein gutes Taschengeld zu verdienen. Der Lehrer wusste, wie es um seine ehemaligen Schüler stand. Alle aus dem Dorf waren bei ihm zur Schule gegangen, als die Schule noch im Dorf war. Was war da heute noch?
Die Zuckerfabrik stand seit Jahren leer, das Sägewerk war verschwunden, und in die kleine Brauerei war vagabundierendes Kapital eingestiegen und hatte sie rasch entführt. Nicht einmal der Markenname war erhalten geblieben. Auch den Lebensmittelladen, in dem Eva gelernt hatte, gab es nicht mehr. Früher war es Dorfbewohnern unangenehm gewesen, wenn die ortsansässigen Geschäftsleute sie dabei beobachteten, wie sie die in der Stadt gekauften Waren aus dem Auto ins Haus schafften. Mit dem Angebot und den Preisen der städtischen Supermärkte konnten die kleinen Läden, die Generationen überdauert hatten, nicht konkurrieren. Bald hatte das letzte dieser Geschäfte geschlossen. Die Schaufenster und Ladentüren wurden mit Gardinen verhängt oder zurückgebaut.
Aus selbstbewussten, aktiven Geschäftsleuten waren Frührentner und Sozialhilfeempfänger geworden. Den paar Bauern, die es hier noch gab, ging es nicht besser. Arbeit hatten sie genug. Selbst heute, am Sonntag, waren sie auf ihren Feldern und Wiesen tätig. Sie nutzten das gute Wetter. Vor dem Pastor brauchten sie sich deshalb nicht zu genieren. Die Kirche hatte man im Dorf gelassen, doch einen eigenen Pastor gab es schon lange nicht mehr. Die Gottesdienste wurden abwechselnd in den Kirchen der Umgebung gehalten. Man wartete, bis man alle paar Wochen an der Reihe war. Die Sonntagsarbeit brachte den Landwirten keinen Geldsegen. Die Zukunft ihrer Höfe hing weniger von ihrem Fleiß als von Entscheidungen im fernen Brüssel ab. Trotz aller Mühe waren sie zu Subventionsempfängern geworden. Wie lange würde das noch so weiter gehen? Und wie stand es um die Bergleute? Für Volker war Schicht im Schacht. Er stand nicht auf der Straße, als die alte Zeche schloss; er wurde unsichtbar, verschwand in seinem Haus und setzte kaum noch einen Fuß vor die Tür. Der Kontakt zu den ehemaligen Kumpeln brach ab. Zu tun gab es am Haus für ihn nichts mehr, da hatte der Heimwerker im Laufe der Jahre alles gerichtet, und für größere Unternehmungen fehlte nun das nötige Geld. Für Evas rollenden Kiosk mussten sie ihren Campingwagen opfern. Wie lange hatten sie von dem Wagen und den Fahrten geträumt! Vor dieser Anschaffung konnte man Volker nur schwer zu einer Reise bewegen. Er fühlte sich nicht wohl in Hotels. Fremde Menschen machten ihn ebenso befangen wie umfangreiche Speisekarten, die ihm Kellner erwartungsvoll vorlegten. Er bevorzugte die Campingküche seiner Frau. Ihre Tochter Jacqueline fuhr schon lange nicht mehr mit. Ihr war diese Art von Urlaub zu spießig. Sie studierte Betriebswirtschaft und kam nur noch selten nach Hause. Freunde brachte sie nie mit. Auch als die Eltern sie einmal besuchten, blieb man unter sich.
Jacqueline schien befangen. Man merkte ihr die Erleichterung an, als die Eltern wieder aufbrachen. "Sie ist ehrgeizig und muss viel lernen", sagte Eva entschuldigend. "Zu deinem Kiosk hat sie gar nichts gesagt", antwortete Volker. Eva schwieg. Jetzt würde er auch gern schweigen, aber nun war es drei, er war dran, musste aufstehen, sich zu erkennen geben, fremde Menschen begrüßen und sie durch die Höhle führen.
Das Bergwerk war zu, die Läden und Betriebe des Ortes hatten aufgegeben, geblieben war diese Höhle, die vor mehr als hundert Jahren zufällig entdeckt wurde. Nun interessierten sich Schulklassen und Wanderer dafür, wie die Menschen hier früher gelebt hatten. Volker fürchtete, es könne aus ihm herausbrechen, wonach niemand fragte, was niemand hören wollte. Sollte aus ihm herausplatzen, wie er sich fühlte, wie es den Menschen hier heute ging?
Er trat vor. Man blickte ihn erwartungsvoll an. Er hatte Angst, verspürte einen Druck. Heute war es besonders schlimm. Und jetzt, wo er den Mund öffnen wollte, entwich ihm vor Aufregung und Anspannung ein Furz. Gleich würde er in der Erde versinken.

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