Der Mann, der einen Vogel bekam
© Jan Werner
Michael hat keinen Job mehr. Seit gestern. Acht Wochen nach seiner komischen Begegnung mit diesem Vogel. Überhaupt fing von da an alles aus dem Ruder zu laufen und nichts in seinem Leben war wie zuvor.
Dieser Vogel.
Michael hatte keine Ahnung von Vögeln und konnte deshalb nicht sagen, was es für einer war. Nur, dass er ein süßer kleiner Kerl war. Oder vielleicht war es ja sogar ein Vogelweibchen. Aber das spielte im Grunde keine Rolle. Jetzt hatte er ihn nun mal und musste damit Leben. Mit dem Vogel. Er wurde auch nicht gefragt, er tauchte einfach auf und wollte fortan nicht mehr von seiner Seite.
Es geschah auf dem Weg zu seiner Arbeit. Michael fuhr jeden Morgen mit dem Bus. Nur drei Stationen. Als er ausgestiegen war, verweilte er kurz an der Haltestelle, weil gerade die Sonne aufgegangen war und er die wärmenden Strahlen genießen wollte, die ihn erwärmten. Da zwitscherte es plötzlich hell von dem Papierkorb neben ihm und Michael sah hin. Da saß er. Der Vogel. Pelzig klein und kunterbunt gefiedert. Mit offenem Schnabel machte er sich lauthals bemerkbar und betrachtete Michael aus kleinen schwarzen Augen,
die wie glänzende Stecknadelköpfe aussahen. Er hatte das Gefühl, als sähe ihm der vorlaute Piepmatz direkt in die Augen. Wie konnte das sein?!
Als Michael mit faszinierter Neugierde einen Schritt zum Papierkorb tat, blieb der Vogel ruhig sitzen und starrte ihn noch immer an. Sein Herz füllte sich mit watteweicher Wärme, die sich von dort aus in seinem ganzen Körper ausbreitete.
Der kleine Vogel flog nicht weg. Auch nicht als Michael sich bückte, um den kleinen gefiederten Freund näher zu betrachten. Und auch der Vogel nutzte die Gelegenheit und besah sich den interessierten Menschen genauer. Zwitschernd setzte er sich dann ohne Vorwarnung auf Michaels rechte Schulter, wo er fortan verweilte.
Das war sie, die erste Begegnung mit dem Vogel.
Und es war wirklich so gewesen, sagt Michael, der noch immer diesen Vogel auf seiner rechten Schulter sitzen hat. Gemeinsam gehen sie überall hin, wo man halt so hin geht. Auch in seiner Wohnung ist der Piepmatz immer dabei. Außer nachts natürlich, wenn er sich zudecken muss. Oder in der Dusche. Dann sitzt der Vogel irgendwo in der Nähe und scheint ihn zu bewachen. Überhaupt glaubt Michael, dass er von dem gefierten Tierchen bewacht wird. Es ist sein ganz persönlicher kleiner Schutzengel. Und heißt es nicht immer
das Engel Flügel haben? Seiner hat ganz besonders Schöne, Bunte.
Der Vogel beschützt Michael nicht nur vor Gefahren, sondern auch vor all den falschen Freunden und schlechten Menschen dieser Welt. Das hatte er zum ersten Mal bemerkt, als er an diesem besonderen Morgen mit dem Vogel bei seiner Arbeitsstelle erschien. Stolz, und in der Erwartung, sein zugeflogener Freund würde auf großes Interesse stoßen, zeigte er ihn seinen Kollegen. Sie hätten ihn doch auch süß finden müssen. Oder zumindest mutig - fliegen sie den Menschen doch normalerweise davon. Aber niemand fand den Vogel
süß oder mutig, sie tippten sich alle nur an die Stirn und zeigten ihm einen Vogel. Keiner wollte wissen, woher er ihn hatte, wie er hieß oder warum er immer auf seiner rechten Schulter saß.
Das hatte Michael sehr wehgetan.
In den folgenden Tagen vernachlässigte Michael seine Arbeit, da er sich immer mehr um seinen Vogel kümmerte, der ihn auch bei seiner Lagertätigkeit nicht alleine ließ. Die Kollegen schüttelten verwundert den Kopf und redeten über ihn.
Auch seine wenigen Freunde die er hatte, nahmen Abstand, da Michael nur noch den Vogel im Kopf hatte, den er liebevoll umsorgte. Er fütterte ihn, gab ihm Wasser, spielte mit ihm und erzählte ihm viel. Manchmal hörte Michael ihm einfach nur zu. Stundenlang. Dann sang der Vogel in den schönsten Tönen und wollte gar nicht mehr aufhören.
Auch Michaels Vermieter fand das bedenklich. Seine Verwandten sowieso. Und als er gestern bei der Arbeit erschien, da hatte ihm der Chef einfach gekündigt, da sein Verhalten nicht mehr hinzunehmen war. Michael zeigte nur auf seinen Vogel und entschuldigte sich damit, dass er einen persönlichen Begleiter habe, um den er sich kümmern müsse. Das hatte er auch seinem Vermieter gesagt, der sich über die zunehmende Verwahrlosung von Michaels Wohnung sorgte. Aber sie hatten alle kein Verständnis für ihn und seinen Vogel.
Auch nicht sein Vater, der ihn sogar mal angeschrieen hatte, so verzweifelt war er wegen seinem Sohn. Den Vogel hatte das nicht gestört. Er blieb auf Michaels rechter Schulter sitzen. Michael erkannte, dass all die Leute um ihn herum nicht wollten, dass er glücklich war - jetzt, wo er einen richtigen Freund hatte, der ihn einfach so nahm wie er war. Dem er nichts erklären musste, dem er nichts schuldete. Noch nie war ihm ein Freund so treu wie der bunt gefiederte Vogel, der so schön singen konnte.
Michael hielt sich von den Menschen fern, die ihn nicht verstanden. Er wollte nicht, dass man ihn verspottete. Er wollte nur seine Ruhe.
Die bekam er in einem Haus, wo er mit vielen anderen Menschen untergebracht war. Sein Vermieter hatte ihm die Wohnung gekündigt. Sein Vater hatte ihn dann zu diesem Haus gebracht, wo er wohnen könne und sich um nichts mehr sorgen müsse.
Zum ersten Mal hatte sein Vater Recht. Hier musste er sich wirklich um nichts mehr kümmern. Er hatte den ganzen Tag Zeit für sich und seinen Vogel.
Manchmal durfte er mit einem Mann reden, der immer in einen weißen Kittel gehüllt war und einen Doktortitel trug. Das waren interessante Gespräche, denn Michael glaubte, dass der Mann ihn verstand. Er freute sich sogar, wenn Michael über seinen Vogel redete und machte sich dabei viele Notizen. Einmal sagte der weiß gekleidete Mann zu ihm, dass viele Menschen einen Vogel hätten - man würde sie nur nicht immer sehen. Er brauche sich deshalb nicht zu wundern, wenn andere seinen nicht erkennen würden.
Das hatte Michael sehr beruhigt. Denn manchmal kam er an einem Spiegel oder einem Fenster vorbei, in dem er sich flüchtig betrachtete. Dann war der Vogel auf seiner Schulter plötzlich weg. Aber wenn er dann zu seiner Schulter sah, saß da noch immer der kleine, bunt gefiederte Vogel, der ihm so viel bedeutete.
Michael liebte seinen Vogel und es erfüllte ihn mit Freude, zu wissen, dass viele Menschen einen haben.
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