Sommergewitter
© Enrico Andreas Brodbeck
Es war an einem Tag im Sommer. Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten und langsam quälten sich die Schatten in die Länge. Ein Vater ging mit seinem kleinen Sohn entlang der riesigen Anbaufelder auf denen verschiedene Sorten Getreide angepflanzt waren. Die Halme standen kräftig und die Ähren hingen satt mit Korn. Roter Mohn am Rande und blaue Kornblumen im Innern mischten sich unter den blassgelben Farbton der Getreidefelder und die grünen Hecken, die man zur Abgrenzung des Ackerlandes kultiviert hatte,
gaben dem Betrachter das harmonische, klare Bild einer verträumten Landschaft. Bis weilen wurde die beschauliche Ruhe von unbändigen Jungvögeln aufgewühlt. Sie sind die erste Brut, die Ende des Frühjahrs flügge wurden, nun in den Hecken lernten zu überleben und dort Schutz vor Feinden fanden.
Vater und Sohn befanden sich auf dem Heimweg. Sie waren schon eine lange Wegstrecke gegangen, so dass der Junge des Laufens überdrüssig wurde und der Vater ihn huckepack auf den Schultern trug. Der Vater liebte seinen Sohn, und er erlaubte ihm bisweilen wie ein Jockey seinem Pferd die Sporen zu geben. Das gefiel dem Jungen sehr, so dass sein Lachen weit über die Felder schallte und sich mit den Geräuschen des heißen Sommertages vermischte. Insekten schwirrten durch die Luft und gelegentlich stiegen Vögel in den
Himmel auf und zwitscherten ihre Weise. Die Beiden kamen von dem Jahrmarkt in der Nachbargemeinde und vor ihnen lag eine Stadt, auf die sie gemächlich zugingen. Auf dem Jahrmarkt hatte der Vater dem Jungen einen bunten Luftballon gekauft, den sie mit einem feinen Faden an dessen Handgelenk befestigt hatten. Von Weitem hatte es den Anschein, als würde der Ballon aus eigener Kraft über ihnen schweben und mit des Weges ziehen. Windstill war es an diesem Tag und die ungetrübte Kraft der Sonnenstrahlen schien unerbittlich
auf die Erde nieder. Aus Vorsicht hatte der Vater dem Jungen seinen alten ausgefransten Strohhut aufgesetzt. Der Hut war viel zu groß und rutschte auf dem Kopf des Jungen hin und her, sobald der Vater ein paar übermütige Sprünge machte. Unerwartet frischte der Wind plötzlich auf und eine leichte Brise verfing sich an der Krempe des Hutes, so dass der Hut fort getragen wurde und weit vor ihnen zu Boden fiel. Erstaunt hob der Junge den Kopf und atmete einmal tief ein, so wie es ihm der Großvater beigebracht hatte.
"Vater", sagte er aufgeregt, "ich glaube der Wind will uns was sagen."
Der Vater drehte sich herum und tat es dem Jungen gleich. Er hob seine flache Hand an, so dass die Sonnenstrahlen seine Augen nicht blendeten. Weit in der Ferne, nahe dem Horizont, türmten sich dichte Wolken unheilvoll. Sie erweckten den Anschein von hohen Bergen, deren Gipfel schneebedeckt anmuteten, und an der Front reflektierten sich die Sonnestrahlen in einem pastellfarbenen Orange. Der ausgedehnte Grund der Wolkenwand zeichnete sich fast schwarz über die Landschaft ab, als wäre der Schlund der Unendlichkeit
einen Spalt geöffnet, und im Begriff die Erdoberfläche in sich aufzusaugen. Und dort, wo man den Grund des Schlunds vermutete, hörte man in leisen Tönen das dumpfe Grollen des Donners über das Land verhallen.
"Du hast recht", entgegnete ihm der Vater, es ist der Westwind und der Vorbote des Gewitters, das dort in der Ferne aufzieht. Mit seinem kühlem Hauch will uns etwas mitteilen."
Der Junge blickte zum Horizont und gab dem Vater zu verstehen, dass er sich vor dem Gewitter fürchte und schnell heim will zur Mutter, denn dort fühlte er sich sicher und geborgen. Der Vater hatte Mitleid mit dem Jungen und ging weiter. Um ihn zu beruhigen erzählte er die Geschichte vom alten Göttervater Zeus, dem Natur- und Donnergott, und Urheber des Gewitters und des befruchtenden Regens. Und von Jupiter erzählte er, dem Himmels- und Kriegsgott, und wie vor vielen tausend Jahren beide mit einer Quadriga über
das Himmelsgewölbe fuhren. Weil sie verwegen waren und viel zu schnell gefahren sind, wirbelten sie Staub von der Erde auf, den sie wie eine dunkle Wolkenwand vor sich hertrieben. Jupiter verlor in einer scharfen Kurve ein Paar Blitze aus seinem Köcher, die funkensprühend und laut donnernd auf die Erde fielen. Mars, der Kriegs- und Wettergott, berichtete das Geschehen dem Himmelsgott Uranos und der Regenwolkengöttin Maya, die daran Gefallen fanden. Weiter erzählte der Vater, dass Mars daraufhin ein Himmelsdrama
komponierte, das einer Sinfonie glich und er es "Aufruhr der Elemente" nannte.
Beruhigen konnte der Vater seinen Sohn mit dieser Geschichte nicht. Und während der Vater schnellen Schrittes des Weges ging, saß der Junge unruhig auf seinen Schulten und schaute sich ängstlich um.
"Lauf schneller", bat er den Vater mit weinerlicher Stimme, "das Gewitter kommt immer näher."
Ein greller blauschimmernder Blitz, der sich über den ganzen Wolkengrund ausbreitete, machte den Auftakt für das ominöse Naturschauspiel und der Wind wandelte sich vom Vorboten des Gewitter zum aktiven Verbündeten. Kräftig blies er über die Weite des Landes und wirbelte den Staub vom Boden auf. Im Getreide zeichnete er seine wilden Bewegungen, und die Halme bogen sich willenlos mit lautem Rauschen im Takt seiner Beharrlichkeit. Immer schneller zog die Wetterfront heran, und schon bald wurde das Antlitz der Sonne
verhüllt. Die Helligkeit und Freundlichkeit des Sommertages wurde durch bedrohliche Dunkelheit ersetzt, und das verbliebene Licht des unbefleckten Himmels, das vor der Wolkenwand zu verschwinden drohte, tünchte das Land unter der Gewitterfront in ein sonderbares Farbspektrum. Blitze zuckten am Grund der Wolkenwand und nahmen fürchterliche Gestalt an. Ihr Aussehen glich dem Arm des Todes, der mit seinen knöchernen Fingern nach dem Lebenshauch der Menschen zu greifen versuchte. Donnerschläge grollten dumpf über
die Weite des Landes, die an Stärke zunahmen und bedrohliche Schwingungen hervorbrachten.
Dem Jungen ward bang und er verbarg ängstlich das Gesicht in seinen Händen.
"Lass mich bitte herunter", bat er den Vater furchtsam, und dieser setzte ihn behutsam zu Boden.
Schon prasselten die ersten dicken Regentropfen vom Wind getrieben auf den ausgedörrten Boden, als die beiden einen Heuschober erreichten, der ihnen Schutz geben konnte. Schutz vor dem Wind, vor dem Regen und der Urgewalt des Gewitters. Ungestüm prasselten jetzt die Regentropfen auf die trockene Erde nieder und die Wolken entluden sich ihrer schweren Last. Unzählige Blitze folgten aufeinander, hellten die Dunkelheit auf und Donnergrollen überlagerte sich zu einem Höhepunkt von Paukenschlägen. Mit einem grellen
Blitz nahe des Feldweges und einem lauten Knall gipfelte der Gewaltakt und gab das Debüt frei zum letzten Teil des monumentalen Schauspiels.
Ein Lauter Schrei und ein Knall hallten durch den Schober und der Vater fand seinen Sohn eingerollt unter einem Haufen Stroh wieder. Die Hülle seines Luftballons lag entkräftet neben ihm, denn den spitzen Halmen des Strohes hatte sie nichts entgegen setzen können.
"Angst mein Sohn", sagte er und nahm den Jungen behutsam in den Arm, "Angst sollst du keine haben. Dafür bin ich immer bei dir."
Der Wind blies mit unverminderter Kraft unter der Gewitterfront und peitschte den Regen und gelegentlich Hagelkörner gegen die Wände. Dort, wo die Wände nicht ganz geschlossen waren, zwängte er sich in das Innere. Das Ächzen des Holzes und der gequälte Laut des Windes vermischten sich zu einem unheilvollem Ton, der sich mit dem Unwillen des Gewitters mischte, um das Wehklagen der Hölle preiszugeben.
Der vor Angst, am ganzen Körper, zitternde Junge, schmiegte sich vertrauensvoll an die Brust seines Vaters.
"Erinnerst du dich noch, was ich dir über die Entfernung von einem Gewitter erzählt habe?", fragte der Vater mit ruhiger Stimme und fing nach dem Aufhellen eines Blitzes zu zählen an.
Es folgten viele Zählansätze, dann konnten sie endlich bis zehn durchzählen.
Zaghaft schien ein Sonnenstrahl durch eine Ritze in der Wand und stemmte sich der Dunkelheit entgegen, und sein freundlich heller Glanz kündigte das Ende des Gewitters an. Der Vater öffnete das Tor, und nun konnten sie auf die unheilschwangere Kehrseite der Wolkenwand schauen. Die Sonnenstrahlen, die von der sich entfernenden Regenfront reflektiert und gebrochen wurden, zauberten einen hohen Regenbogen mit weiteren kleineren Regenbögen am Himmel, und sie spiegelten mit ihren Farben die Erhabenheit der Sonne wieder.
"Schau ein Regenbogen", sagte der Vater zu seinem Sohn und lächelt zu ihm herüber, "in Irland erzählen sich die Leute, dass dort, wo der Regenbogen den Boden berührt, das Gold der Kobolde, die dort Leprechaun heißen, versteckt sein soll.
Die Sonnen strahlte nach ein paar Minuten wieder hell und freundlich. Die Furcht des Jungen war gewichen, und freudig hüpfte er aus dem Schober auf den Feldweg.
"Komm Vati", sagte der Junge und nahm den Vater bei der Hand, "dann lass uns schnell dort hingehen, wo der Regenbogen den Boden berührt, damit wir uns die Taschen mit Gold voll stopfen können."
Und so gingen sie weiter ihres Weges nach Hause, der Junge hüpfte unbekümmert neben dem Vater her und die Sonne beendete langsam ihr Tagwerk. Als sie zu Hause ankamen, deutete nichts mehr darauf hin, dass noch vor einer Stunde ein Gewitter das Land überzog. Nur der geschwächte Westwind, dessen starker Verbündete weiter gezogen war, erzählte leise von diesem Abenteuer. Vater und Sohn hoben den Kopf und atmeten die Frische des Westwindes tief in sich ein, so wie sie es vom Großvater gelernt hatten.
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