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Rahels letzte Reise

© Ulrich Rakoún


"Mein Gott! Was tut mir dieses Land an? Da es mich von sich
stößt, betrachten wir es kalten Blutes und schauen wir zu,
wie es seine Ehre und sein Leben verliert."
Beginn der Arbeitsnotizen
zu "Suite francaise" von
Irène Némirovsky,
1942 in Auschwitz ermordet
Rahel Goldstein lebte nun seit über vierzig Jahren in Nordamerika und zwar ungefähr seit der Zeit, als die Amerikaner Auschwitz und andere Konzentrationslager befreiten und sie und einige ihrer Mitgefangenen aus demselben Block die weite Reise mit dem Schiff in die Vereinigten Staaten oder nach Palästina antreten durften. Rahel war damals nur eine von vielen jungen Frauen gewesen, die ihre ganze Familie und fast alle ihre Verwandten in Auschwitz, Treblinka und anderen Lagern verloren hatten, und deshalb schien es ihr eigentlich egal, wohin sie nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches deutscher Nation und der Befreiung durch die Amerikaner und Russen ging. Sie wollte lediglich weit fort von einem ihr wenig christlich erscheinenden Abendland - der alten Welt, weg von Europa und natürlich von Deutschland, dort wo ihr und ihrer Familie so unendlich viel Leid zugefügt worden war. Auch Beethoven, Goethe und Schiller konnten nichts an dem Entschluss ändern, dass sich Rahel letztendlich für die Reise nach Amerika entschied, weil eine gute, alte Freundin von ihr noch rechtzeitig, nämlich zu Beginn der Hitlerzeit, mit ihrer Familie dorthin auswandern konnte - nach New York, genauer gesagt nach New York City im Staate New York, denn daher hatte sie einmal eine Postkarte von ihrer Freundin Sarah mit dem Stempel "Airmail" erhalten. Eine Karte mit dem Empire State Building und anderen hohen Wolkenkratzern aus Manhattan und ein paar Grüssen darunter, die nicht viel mehr besagten, als dass es der Freundin und ihrer Familie dem Anschein nach gut ging.
Nur diese wenigen Worte, denn Rahel befand sich damals ja schließlich noch im Nazideutschland der dreißiger Jahre, in einem Stadtteil von Berlin mit Namen Friedenau, wo ihr Vater ein kleines Kurzwarengeschäft betrieb und ihre Mutter, neben dem Haushalt und der Betreuung der vier Kinder, noch manchmal im Geschäft aushalf. Der mit dicker gelber Ölfarbe auf die Fensterscheibe des Geschäftes aufgemalte David- oder Judenstern hätte Rahel eigentlich schon vorwarnen oder zumindest beunruhigen müssen, denn im Frühjahr 1943 wurde die gesamte Familie vom Bahnhof Grunewald, vom berüchtigten Gleis Nummer 17, zu nächtlicher Stunde, nach Auschwitz deportiert. In sechs Tagen, die ihnen wie eine Weltreise in der niedrigsten Kategorie vorkamen, waren sie alle, bis auf Rahel, in den sicheren Tod gefahren. Ihre Eltern und ein jüngerer Bruder, die auf der langen Fahrt bis Polen in dem schmutzigen Viehwaggon sehr krank wurden, kamen sofort unter die Dusche oder ins Gas, zwei weitere Brüder von Rahel starben wenige Wochen später auf ihr unbekannte Weise. Rahel hatte die Deutschen jahrelang wegen dieser furchtbaren Verbrechen nur hassen können, obwohl sie doch selber eine Deutsche war. Jetzt empfand sie eigentlich nur noch eine innere Gleichgültigkeit gegenüber diesem, ihrem Heimat-Volk, das ihr und ihrer Familie so viel Unrecht und Böses angetan hatte - ein Gefühl, dass sie innerlich schützte und ihre zeitlebens unverheilten Verletzungen und Wunden nicht mehr andauernd anrührte und von Neuem aufbrechen ließ. Wenn sie sich später einmal besonders elend und am Ende fühlte, hörte sie sich die Erlöserarie aus Händels "Messias" an. Und obgleich Rahel eine Jüdin war, spürte sie die Kraft und Wärme, die von dem Gott ausging, von dem gesagt wurde, dass die Juden ihn ans Kreuz genagelt haben sollten.
Nun hatte Rahel nur noch ihre zwei Kinder, ihren Sohn John, der mit seiner kleinen Familie als Anwalt in der Nähe von Tel Aviv lebte und ihre Tochter Ana, die in Los Angelos wohnte und dort mit ihrem Mann ein fortwährend expandierendes Damenkonfektionsgeschäft betrieb. Außerdem lebte bis vor einem Jahr noch ihr Schwager David mit seinem erwachsenen Sohn Richard im New Yorker Stadtteil Queens, der sie manchmal am Sonntag allein oder in Begleitung seines Sohnes in ihrer Wohnung in Brooklyn besucht hatte. Aber auch er war seit etwas über einem halben Jahr tot, wie fast alle ihre alten Freundinnen und Freunde mit denen sie und ihr Mann sich früher des Öfteren trafen. Und Rahels Ehemann Herschel Goldstein war vor drei Jahren an einem Herzinfarkt nach der Hochzeitsfeier seiner Tochter Sarah, zu der sie beide extra mit dem Zug nach San Francisco gefahren waren, weil Herschel aus gesundheitlichen Gründen das Fliegen so weit wie möglich vermied, gestorben. Rahel fühlte sich seitdem oft einsam in ihrer schönen Wohnung mit dem großen, von bunten Blumen in Blumenkästen umrankten Balkon, im Stadtteil Brooklyn, denn die Kinder waren ja auch schon seit langem aus- und fortgezogen und lebten mit ihren Familien ihr eigenes Leben.
Rahel waren die weiten Fahrten zu ihren Kindern, einmal im Frühsommer mit dem Flugzeug nach Israel (wobei sie sich immer nach den Ferienzeiten ihrer Verwandten richtete) und ein zweites Mal im Spätsommer mit dem Zug oder Flugzeug nach Kalifornien, inzwischen zu anstrengend geworden. Ihre Kinder finanzierten ihr zwar jedes Mal die teure Reise, aber Rahel spürte immer mehr die Lasten des Alters, das jeden Tag ein wenig stärker und lauter an ihre Lebenstür klopfte und um ungewünschten Einlass bat, denn Rahel hätte sich wohl noch ein wenig mehr Vitalität und Jugend gewünscht, von der sie einen ihr mehr verhassten, als geliebten Teil, im Deutschland der Nazizeit verloren hatte.
Rahel hatte gerade im Januar ihren 86. Geburtstag wieder ganz allein und ohne Herschel feiern müssen, denn ihr Neffe Richard war wie immer beruflich für seine Firma unterwegs gewesen und ihre beste noch lebende Freundin Esther schon seit Jahren Insassin eines Pflegeheims im Stadtteil Queens, da sie schwer gehbehindert war und nur noch im Rollstuhl in den Park ihres Heims gefahren werden konnte. Rahel durfte sie zwar ab und zu in Queens besuchen, aber die Besuche waren immer nur von kurzer Dauer, da Esther, die vor wenigen Tagen 96 Jahre alt geworden war, schon nach kurzer Zeit ermüdete und dann ins Bett gebracht werden musste. An ihrem 86. Geburtstag erhielt Rahel sogar einen Anruf von ihrer Freundin, aber nach ein paar Sätzen wurde das Gespräch schon abgebrochen, da Esther das Sprechen sehr schwer fiel und ihr die Schwester den Hörer aus der Hand nehmen musste. Auch Rahels Sohn und ihre Tochter hatten angerufen, aber auch hier waren die Gespräche, aufgrund der weiten Entfernungen, nicht sehr lang gewesen. Man gratulierte der Mama herzlich und freute sich schon wieder auf ihren Besuch - wie in jedem Jahr seit dem Tod von Herschel.
Und Rahels erste und beste Freundin Sarah, die sie noch aus ihrer Berliner Zeit kannte und die mit ihrer ganzen Familie schon sehr früh in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, hatte die Welt schon vor Jahrzehnten verlassen, so dass Rahel nichts als die wenigen schönen Erinnerungen an die gemeinsame Kinderzeit in Deutschland und an ihre ersten Jahre in New York blieb. Die Jahre in denen Rahel auch ihren späteren Ehemann Herschel, einen gelernten Schlachter, der damals im Fleischerladen seines Vaters in der Lower East Side arbeitete, kennen- und lieben lernte und in denen sie eine so wundervolle und harmonische Zeit miteinander verlebten. Mitte der fünfziger Jahre heirateten Herschel und Rahel in der Synagoge ihres Viertels in der Lower East Side, wo sich auch ihre erste kleine Wohnung befand und waren seitdem ein glückliches Paar gewesen, dem Gott zwei wunderbare Kinder schenkte, einen Jungen und eine Tochter. Ja, Rahel war sich damals als die glücklichste Frau und Mutter von der Welt vorgekommen, denn Herschel war ein liebevoller und gut aussehender Mann und ein guter Vater gewesen, aus dessen Munde man nie ein böses Wort hörte und der immer und stets zu allen Menschen freundlich und zuvorkommend war. Zehn Jahre später wurde Herschel dann Rabbi in seiner Synagoge, worauf er sich jahrelang neben dem Schlachterberuf vorbereitet hatte. Er hörte mit dem Fleischerhandwerk auf und übertrug sein Geschäft auf seinen Bruder David, der auch von Beruf Schlachter war.
Nun gab es beinahe alle die ihr liebgewordenen Menschen aus dieser Generation nicht mehr. Nur Rahel war noch da, sie musste der liebe Gott vergessen haben, als er oder sein Engel das letzte Mal die Erde besuchten. So schien es Rahel, wenn sie in einsamen Nächten an Herschel und an ihre schönen gemeinsamen Jahre zurückdachte und sich wünschte, bei ihrem Mann zu sein, wo immer dies auch sein mochte.
Als Rahel das erste Mal auf dem Flughafen Ben Gurion in Lod bei Tel Aviv aus ihrem Flugzeug stieg, wunderte sie sich über die gewaltige Hitze in diesem Land. Denn obwohl erst Ende Mai, herrschte schon eine Lufttemperatur von fast 28 Grad Celsius, und irgendwie konnte Rahel das afrikanisch geprägte Mittelmeerklima auf die Dauer schlecht ertragen, da sie schon seit Jahren unter einem hohen Blutdruck litt und zwei Herzanfälle auf der Intensivstation eines nahe gelegenen Krankenhauses in Brooklyn einigermaßen überstanden hatte. Ihr Sohn John erwartete sie schon mit seiner Frau und seiner Tochter, einem Mädchen im Teenageralter und Schuluniform, in der großen Abfertigungshalle des Flughafens, und kurze Zeit später saßen die vier in einem offenen Wagen und fuhren zu Johns Haus in der Nähe von Tel Aviv. John absolvierte seine Ausbildung als Stipendiat an der Columbia Universität in New York und entschied sich schon bald danach, nach Israel auszuwandern, wo es ihm, nach einer vorübergehenden Phase der Eingewöhnung, auch sehr gut gefiel, obwohl er die ersten beiden Jahre als Getränkekellner in einem Restaurant arbeiten musste, weil es für Rechtsanwälte und Notare keine Arbeitsmöglichkeiten gab. Wenn Rahel ihren Sohn betrachtete, erkannte sie in ihm immer nur den kleinen dreizehnjährigen Knaben, der mit der Bar Mizwa eben zu einem Sohn der Pflicht geworden war, obwohl er sich äußerlich damals in keiner Weise von den anderen amerikanischen Jungen seines Alters unterschied und auch heute äußerlich nichts von einem orthodoxen Juden verkörperte, sondern eher wie ein moderner israelischer Geschäftsmann wirkte.
Und Rahel konnte sich auch nach wochenlangem Aufenthalt immer noch nicht an die große Hitze des Mittelmeerstaates gewöhnen. Sie liebte, als ehemalige Europäerin und jetzige Nordamerikanerin, den Rhythmus der unterschiedlichen Jahreszeiten: "Frühling, Sommer, Herbst und Winter", weshalb es ihr auch in Kalifornien bei ihrer Tochter Ana nicht so gut gefiel. Rahel war ein Mensch, der die Natur im Herbst in ihren vielen bunten Farben sterben sehen musste und im Winter den Schnee liebte, denn dann waren Herschel, sie und ihre Kinder meistens durch den Central Park gewandert, um nach Eichhörnchen Ausschau zu halten, die an den Baumstämmen hochkletterten, um kurz darauf in deren Kronen zu verschwinden oder auf den Ästen ihr possierliches Spiel zu treiben.
Wenn es der Familie zu kalt wurde, waren sie meistens in Emmas nahe gelegenem Restaurant eingekehrt, einer kleinen Imbissbude, in der ihnen die Hamburger und Donuts bei einer Tasse heißem Kaffee besonders gut schmeckten. Die heißesten Sommertage, die auch oder gerade in New York unerträglich sein konnten, verbrachte die Familie oft in einer kleinen Pension am Strand von Long Island, die jüdischen Freunden gehörte, die in den anderen Jahreszeiten manchmal am Wochenende zu Besuch bei Rahel und Herschel in New York wohnten.
Ja und was Rahel besonders an Israel störte und was auch Herschel bei seinem ersten und einzigen Besuch dort missfiel, waren die vielen Soldaten zur Bewachung gewesen. Junge hübsche Frauen und Männer in Uniform, die überall irgendwo präsent waren, um das Leben der Menschen zu schützen, war etwas, das sie an ihre Jugendjahre in Berlin zurückerinnerte. An die jungen oder fast schon erwachsenen Männer in braunen und manchmal sogar schwarzen Uniformen mit ihren engelhaft schönen und doch so kalten Gesichtern. Freundliche Gesichter und herzenswarme, sympathische junge Menschen gab es in Israel, im Unterschied zum Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre, sehr viele zu sehen, aber Rahel wollte nicht mehr ständig an einen Überwachungsstaat erinnert werden, sondern unter freien Mitmenschen leben, die überall hingehen konnten, ohne einer Bedrohung ausgesetzt zu sein.
Und sie wollte auch niemals mehr an die Nacht zurückdenken, in der sie und ihre Eltern und Geschwister mit ihren Koffern am S-Bahnhof Feuerbachstrasse von Lastautos abgeholt wurden, die sie zum Bahnhof Grunewald brachten, wo schon Polizisten und SS-Männer in "Schwarz" mit Hunden warteten, um die Menschen wie Tiere in Viehwaggons zu treiben und in diese zur Reise ohne Wiederkehr einzusperren. Sie hörte manchmal noch die lauten Geräusche, wenn die Waggons verschlossen wurden und das Weinen der vielen darin eingesperrten Menschen und erinnerte sich an die langen Nächte, in denen sie fror und vor Hunger und Durst ängstlich durch den Stacheldraht vor den Gucklöchern des Waggons den Mond und die Sterne betrachtete, die sie und die vielen anderen lebenden Toten den Weg bis nach Polen über still und schweigend begleiteten.
Uniformen, überall nur Uniformen, aber sicher kein Vergleich mit dem Deutschland in den dreißiger Jahren, dachte Rahel. Trotzdem würde sie niemals wieder in einem Land leben können, in dem Freiheit und Sicherheit keine alltägliche Selbstverständlichkeit waren und man dieselben durch Militär beschützen musste. Denn Rahel erinnerte sich auch noch sehr gut an die Angst, in der sie und ihre Familie im Nazideutschland ständig lebten und an die Nacht, in der die Synagogen in Berlin brannten und man die Fensterscheiben ihres kleinen Ladens, mit den bescheidenen Auslagen darin, einwarf und danach denselben ausplünderte. Die Mutter wäre in dieser Nacht vor Angst in ihrer Wohnung über dem Laden fast gestorben, und der Vater, Rahel und ihre Geschwister mussten sie die ganze Zeit über in den Arm nehmen und beruhigen. Auch alle anderen hatten sich natürlich vor dem plündernden Gesindel schrecklich gefürchtet, obwohl sich niemand wegen der Mutter etwas anmerken ließ, um diese nicht noch mehr zu beunruhigen. Rahel hörte die schweren Stiefelabsätze der SS schon in Gedanken auf den Stufen der Treppe, die vom Laden nach oben bis zur Wohnung führten. Aber die Männer hatten die Wohnung von innen sicher verbarrikadiert, aus Angst davor, dass die wilde Horde versuchen konnte, hier einzubrechen, wozu es Gott sei Dank in dieser und in den folgenden Nächten nicht mehr gekommen war.
Rahel erzählte ihrem Sohn John bei seinem letzten Anruf zu ihrem 86. Geburtstag, dass sie nun wohl nicht mehr nach Israel kommen würde, weil ihr das dortige Klima in ihrem hohen Alter, bei ihrer stark angegriffenen Gesundheit, große Probleme bereiten würde, wofür John sofort Verständnis aufbrachte. Aber als es wieder Ende Mai war, flog sie doch noch einmal zu ihrem Sohn, dessen Frau Hannah und ihrer Enkeltochter Rebecca. Ein letztes Mal, hatte sie sich selber innerlich gesagt. Sie wollte sie alle noch einmal wieder sehen und sich von ihren Lieben verabschieden, weil sie spürte, dass ihre Zeit auf der Erde bald abgelaufen war und ihr nur noch eine kurze Frist blieb, die sie nutzen musste. Sie hatte in den letzten Monaten zweimal mit Mühe und Not einen schweren Kreislaufkollaps überstanden, litt gelegentlich unter Schwindelanfällen und fühlte sich dabei müde, matt und abgespannt, woran sicher auch die vielen Medikamente Schuld waren, die sie ständig einnehmen musste. Aber vom Flugzeug bis zum Haus ihres Sohnes würde alles gut klimatisiert sein, denn selbst die Autos wären mit einer modernen Klimaanlage ausgestattet, so dass sie sich wegen der Hitze keine allzu großen Sorgen machen brauchte. Das hatte ihr Sohn John ihr vor ihrem Abflug aus New York seit Wochen am Telefon zu erklären versucht, um sie zu beruhigen und sich keine unnötigen Sorgen zu machen, die Reise aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten zu können.
Und Rahel war schließlich noch einmal aus Amerika gekommen. Als sie das Flugzeug auf dem Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv verließ, kam ihr wieder die große, von ihren früheren Besuchen bekannte Hitze entgegen, und sie glaubte diese, aufgrund ihrer stark angegriffenen Gesundheit, diesmal nicht zu überstehen. Aber es wurden, trotz aller gesundheitlicher Bedenken, vier wunderbare Wochen, die sie bei ihrem Sohn und dessen Familie verbrachte und die sie dem Land Israel und den Menschen auf eine herzliche Weise näher brachte, wie sie es sich niemals vorher hätte vorstellen oder erträumen können. Besonders der Besuch von Jerusalem, das ihr Sohn als die "Seele der Welt" bezeichnet hatte und die in der Abendsonne schimmernde Kuppel des Felsendoms, würden ihr immer in Erinnerung bleiben. Einer islamischen Legende nach sollte unter der goldenen Kuppel des Doms von Jerusalem ein Steinbock aus dem Paradies ruhen.
Und es kam schließlich sogar so weit, dass sich Rahel nach den vier Wochen wünschte, immer bei ihrem Sohn und dessen Familie bleiben zu können, obwohl sie wusste, dass dies nicht möglich sein würde, weil ihr zu Hause doch in New York bei Herschel war, obwohl ihr Mann seit drei Jahren tot war und sie sein Grab nur noch sehr selten besuchte, weil sie alles, was mit Sterben und Friedhof zu tun hatte, seit ihren frühen Erlebnissen im Konzentrationslager, so gut es eben ging, aus ihrem Leben und Gedächtnis verdrängte. Und irgendwie glaubte Rahel auch, ihrem Sohn und vor allem ihrer Schwiegertochter unnötig zur Last zu fallen, weil die beiden voll berufstätig waren, auch wenn sie sich diesbezüglich nichts anmerken ließen und stets liebenswürdig und aufgeschlossen gegenüber ihrer Mutter waren. Aber Rahel wollte nicht so etwas wie "das fünfte Rad am Wagen" sein, und das würde sie früher oder später sicher werden, wenn sie in Israel bliebe, auch wenn ihr dieses Land schon lieb und zu einer zweiten Heimat geworden war. Nein, sie musste zurück nach New York, nach Brooklyn und in ihre schöne Wohnung, in der sie mit Herschel und den Kindern so viele Jahre glücklich gewesen war. Die Erinnerungen lebten immer noch in den Räumen dort, und Rahel würde zurückfahren in die schönste Zeit ihres Lebens, die mit dem Öffnen der Wohnungstür von neuem zu leben beginnen würde. Gestalt annähme, denn nur sie selber konnte der toten Vergangenheit mit ihrer Gegenwart zum Leben verhelfen. Ihr den Lebensatem einhauchen. Ja, Herschel wartete dort insgeheim noch immer auf sie, seine Rahel, die niemals lange fort von ihm gewesen war. Er würde ohne sie gar nicht zurechtkommen, so wie Rahel ohne Herschel nicht zurechtkam.
Schon beim Frühstück zubereiten würde sie das Gefühl haben, dass Herschel neben ihr säße und sie beide gleich einen langen Spaziergang durch Brooklyn unternehmen würden, wo eben ein wunderschöner Spätsommer oder Herbst herrschte, den Rahel besonders liebte, obwohl es dem Kalender nach noch Hochsommer war. Aber was machte das schon aus, wenn Rahel sich nur glücklich in ihren Erinnerungen fühlte, denn die bestimmten jetzt ihr Leben im höheren Alter. Ein Leben, das einmal so schön und aufregend gewesen war, auch wenn sie einen Teil davon, nämlich den wertvollsten ihrer Jugend in Deutschland und im Konzentrationslager verbringen musste. Wenn sich wieder einmal dunkle Wolken am Himmel auftaten und sich Schatten der Bitterkeit, Angst, Verzweiflung und Ohnmacht über ihre Seele schoben, dachte sie zurück an ihren geliebten Herschel, wie er sie bei der Hand nahm und sie zusammen auf einem Ball der Schlachterinnung tanzten, was sie so oft in den ersten Jahren ihrer Ehe getan hatten. Nein, Rahel konnte nur bei ihrem lieben Ehemann Herschel in New York leben, eine andere Alternative gab es für sie nicht, auch wenn dieser in Wirklichkeit nicht mehr da war, gab es doch noch die Umgebung, in der er und Rahel einst so glücklich zusammen lebten.
Als Rahel wieder im Flugzeug saß und sich nicht mehr in allzu weiter Entfernung von New York befand, konnte sie an nichts anderes mehr denken, als an ihr schönes gemeinsames, amerikanisches Leben mit ihrem toten, in ihr immer noch weiter lebenden Ehemann und an ihre Kinder. Als die Ansage kam, dass das Flugzeug aus technischen Gründen, auf die nicht näher eingegangen wurde, leider nicht den John F. Kennedy Airport anfliegen könne, sondern stattdessen den etwa 26 km von Manhattan entfernten Newark International Airport, dachte Rahel noch, dass ihr Neffe Richard, falls er nur ein einziges Mal für sie Zeit gehabt hätte, um sie am Flughafen abzuholen, jetzt vergeblich auf seine Tante am Kennedy Airport warten würde. Als Rahel kurz darauf fest eingeschlafen war, dachte sie in ihrem Traum nicht weiter an Richard, sondern wieder an Herschel, bis sich ein älterer Herr über ihren Sitz beugte und sie bei ihrem Namen ansprach. Sie drehte sich langsam um und erkannte den, auf den sie ein ganzes Leben oder noch länger gewartet hatte. So kam es einer älteren und sehr müde wirkenden Reisenden jedenfalls vor.
Als Rahel sich nun in ihrem Traum noch einmal nach ihren beiden Kindern und Enkeln und der goldenen Kuppel des Felsendoms in Jerusalem umsehen wollte, nahm der alte Mann behutsam ihre Hand und dann den kleinen Rucksack, den sie als Kleingepäck immer auf ihren Reisen mit sich führte, und zwei alt und ständig neu Verliebte verließen glücklich in New York das Flugzeug. Sie passierten, ohne kontrolliert oder aufgehalten zu werden, die einzelnen Durchgänge des Flughafenterminals und durchschritten wenig später die riesige Eingangshalle des Newark International Airport, und der Mann winkte für sie beide ein Taxi herbei.
Rahel war im tiefsten Innern ihres Herzens froh und glücklich, denn in einer Stunde konnten sie beide vielleicht schon zu Hause sein, und sie würde für Herschel und sich das Abendessen zubereiten können. Wie immer um diese Zeit. Auch in New York herrschte gerade ein sehr warmer Sommer, wie in Tel Aviv. Ein schöner Sommerabend für zwei junge, ewig Verliebte, dachte Rahel in ihrem letzten Traum. Sie würde jetzt für immer zu Hause bleiben, nicht mehr irgendwo anders in Amerika oder in Israel, sondern bei Herschel - weil ihre letzte und schönste Reise beendet war. Oder gerade erst begonnen hatte …!
Auch der Steward konnte etwas von dem Glück der alten Dame erkennen und deckte sie behutsam und vorsichtig mit einer warmen Decke zu.

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