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Allein unter Menschen - Walter Schmidheiny

© Flavia Hangartner


Beschreibungstext:
- "Eigentlich schreibe ich nicht. Ausser an Weihnachten und zu Geburtstagen", sagt ein Jemand. Ein Jemand, der haargenau weiss, was in einem Mietshaus auf jeder Etage gekocht wird, wann die Leute das Haus verlassen oder wer Besuch bekommt.
- Ich schreibe auch nicht, ich erzähle.
Und dann erzählt er die Geschichte von Walter Schmidheiny an der Rorschacherstrasse 73. Die Geschichte von einem Mann, der einfach da ist, der da lebt und wohnt und haust und seine Pflanzen giesst und im Sommer am liebsten gar nicht weggehen möchte.
Eine Geschichte über die einfach komplizierten Dinge des Alltags.
Bemerkt und beobachtet und erzählt von einem Jemand ohne Spur.
Allein unter Menschen - Walter Schmidheiny
Menschen sind grausam, denn sie wissen zu wenig.
Nicht-Wissen macht neugierig und Neugier muss gestillt werden.
Es soll schon vorgekommen sein, dass in jenem, in unserem Mietshaus an der Rorschacherstrasse in St. Gallen, des Nachts merkwürdige Gestalten ein und aus gehen würden. Auch soll anscheinend ein früherer Mieter aus Versehen die Post des betreffenden Herrn, Walter Schmidheiny, geöffnet haben und darin eine giftige Art eines Insekts aufgefunden haben.
Dazu kann ich leider nichts sagen. - Weil ich es nicht möchte.
Meiner Ansicht nach gibt es dazu auch nichts zu sagen. ? Weil ich es besser weiss.
Doch vielleicht zuerst einmal das, was man eben so weiss, einem direkt auffällt, sozusagen auf die Nase gebunden wird.
Walter Schmidheiny. Gute Vierzig. Eher schmächtig und klein. Ein spindeldürres Männchen mit noch höchstens ein paar Häärchen.
Lupengläser, welche in einem Brillengestell fest montiert sind, rutschen ihm ständig von der Nase. Scheinbar ist er noch Junggeselle.
Vielleicht auch darum.
Das weibliche Wesen, das jeweils am ersten Dienstag im Monat ein wohl zugeschnürtes Paketlein vorbeibringt, ist ohne Zweifel seine Mutter.
Früher, kann ich mich noch erinnern, wollte sie stets noch zwei bis drei Tage länger bleiben, was der Sohn aber partout nicht haben wollte.
- Nicht das ich an fremden Türen lausche; nein, die Unterhaltung war eben etwas lauter. Ausserdem muss ich gleich zu Beginn erwähnen:
Ich weiss vieles; woher ist hier jedoch nicht von Bedeutung.
Es ist sieben Uhr fünfzehn. An der Rorschacherstrasse 73 öffnet sich die knarrende Haustüre.
Lautlos, und wird auch wieder so geschlossen. - Das Hausgespenst schleicht sich in den Morgen hinaus-, wie wahrscheinlich die Leute aus dem Siebten sagen würden.
Ja, sie sind anders, die Leute aus dem Siebten. Auf jeden Fall anders als Walter Schmidheiny. Erst gerade war ich auf einen Sprung dort oben, da traf ich Alle in sauber gebügelten, blau karierten Hemden an; es waren genau solche, die Walter zu tragen pflegt. Sie belächeln ihn in aller Öffentlichkeit und lachen heimlich über ihn.
Über einen Mann mittleren Alters mit einem anständigen Beruf, einer ehrlichen Arbeit.
Hab ich mal rausgefunden, ihn einfach gefragt, bin schliesslich interessiert an dem was die Leute so machen. Er arbeitet im Archiv des Naturhistorischen Museums. Das ist das grosse Gebäude gleich neben dem Stadttheater. Ich war noch nie in so einem Museum und so stelle ich mir vor, wie Walter dort im Keller herum schiesst, zwischen den Regalen und Abstellplätzen, wie er die verstaubten, ausgestopften Tiere abwischt und dabei leise vor sich hin summt.
- Archivator oder so, wird man dem wohl sagen.
Vor ein paar Jahren, war er eingezogen in den Dritten. Wochenlang hatte ihn niemand zu Gesicht bekommen.
Sieben Uhr fünfzehn raus, siebzehn Uhr dreissig rein, Treppe rauf, Türe auf: zu.
Und da in dieser Hütte nur Frührentner und Nichtstuer wohnen, war natürlich nie jemand zur rechten Zeit am rechten Ort.
Einmal hatte es geklingelt bei ihm, ich glaube es war am 23. Juni vor zwei Jahren. Es war nicht seine Mutter und auch nicht an einem Dienstag.
Es war ein Mann, etwa so alt wie er, gross und mollig und mit Teddybärenaugen. Er stand da, vor der Türe mit einem Eimer in der Hand und einem schmucken kleinen Holzkästchen. -Wie ein grosser Junge, habe ich mir damals gedacht.
Sie werden wahrscheinlich an den See fahren, diesen Stadtweiher, der hier ganz in der Nähe liegt. Sie werden nebeneinander stehen.
Nicht zu nahe und nicht zu weit, gerade so, dass sich ein paar wenige Worte wechseln lassen, über das Angeln, versteht sich.
Und sie hatten angebissen.
Als Schmidheiny zurück kam, musste er auf jeder Etage den Eimer für kurze Zeit hinstellen ? so schwer war er. Man hörte Schnaufen und Wasser schwappen.
Es roch im Gang, so blieb ich stehen und roch noch ein wenig mehr.
Sog den feinen Duft auf, solange bis ich es nicht mehr aushielt und in die Wohnung zurück musste, um etwas in den Magen zu bekommen.
Ofenfleischkäse und Fertigrösti.
Gebackene Forellen an Weissweinsauce, Dillkartoffeln mit Mandelsplitter. Ich wusste haargenau, was hingegen in seiner Pfanne da so delikat kochte und brutzelte.
So erwartete ich zumindest einen Verwandtenbesuch. Eine hübsche Dame wäre natürlich aufregender.
Klimpern und Rascheln hinter der Türe; Kochkunst vom Feinsten betrieben.
Das Balkongeländer war kalt und etwas rutschig, als ich mich darauf stellte um mich danach an einem kleinen Wasserabflussrohr festzuhalten.
Kerzenlicht füllte den Raum. Auf dem Tisch in der Mitte standen herrlich angerichtete Dinge in Schüsseln und Platten. Und dann: ich traute meinen Augen kaum, sieben Gedecke.
Ich wartete und wartete, doch niemand kam. Die ganze Nacht kam niemand. Irgendwann ist mir klar geworden, dass wahrscheinlich auch nie jemand eingeladen war.
Er hatte stundenlang gekocht, den Tisch gedeckt, alles so festlich angerichtet, den Wein ausgesucht, das Dessert kaltgestellt, Kerzen angezündet, leise Musik angemacht, sich auf einen Stuhl in der Mitte gesetzt, die Serviette auf die Knie gelegt, das Glas angehoben und bedächtig einen ersten Schluck genommen, bevor er sich etwas von den Köstlichkeiten auf den Teller legte und alleine anfing zu essen.
Altpapiersammlung
Letzten Samstag war Altpapiersammlung und die Pfadfinder wieder einmal an der Reihe mit alten Lastwagen von Haus zu Haus zu tuckern und dabei die Zeitungsbündel auf die Ladefläche zu schmeissen.
War bei denen früher auch dabei, ein disziplinierter Verein, muss ich sagen. Doch heute, keine Spur mehr von dem, was einmal war.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, so dass es vergessen ging, die Zeitungsstapel nach draussen vor die Türe zu tragen.
Die jungen Flegel drückten überall auf die Klingel. Schmidheiny war der Erste der unten war, ist eben auch der Jüngste und die Nichtstuer wohnen ja im zuoberst im Siebten.
An der Glasscheibe der Haustüre plattgedrückte Nasen starrten Schmidheiny entgegen, als er unten ankam und öffnen wollte.
Fürchterlich erschrocken und heftig schnaufend, mit gestörtem Blick, rannte er an mir vorbei, in seine vier Wände. Die Türe war immer noch zu und die Bande fing ungeduldig an die Türe zu trommeln.
Er hatte eine alte Decke hervor genommen, hockte auf dem Sofa und zitterte, wie noch nie jemand zittern sah.
Das Hausfest
Traditionsgemäss, Anfang Juli findet das Hausfest der Rorschacherstrasse 73 statt.
Ich schmeisse den Grill an, brate alles, was man mir anvertraut und erfrische mich mit kühlem Bier. Die jungen Leute aus dem Siebten stolzieren in Badebekleidung im mickrigen Vorgärtchen umher und die Rentner essen Kartoffelsalat. Ich muss sagen, es ist schon eine tolle Sache, so ein Hausfest.
Herzliche Einladung zum zweiundvierzigsten Fest des Hauses für den 7. Juli.
Das gemütliche Beisammensein findet wie immer auf der grossen Wiese bei der Wäscheleine statt. Natürlich pünktlich um 18.00, der Grill ist dann soweit.
Der Kartoffelsalat wird traditonsgemäss von Hilde Huber zubereitet. Herzlichen Dank im Voraus. Nun bleibt uns nur noch auf gute Witterung zu hoffen.
Mit freundlichen Grüssen
Die Verwaltung
Rorschacherstrasse 73
Schon vor Wochen hat Schmidheiny kurz erwähnt, dass er zur besagten Zeit in den Ferien wäre. Südamerika, hat er mir gesagt. ?Das ist aber weit, habe ich geantwortet.
Schade, ich hätte gerne gesehen, wie er sich zu den anderen setzen würde, schüchtern etwas Kartoffelsalat auf einen Pappteller schaufeln würde, und beobachtet, wie sie ihn ansehen.
- Südamerika also; ein grosses Gebiet, eine lange Reise.
Schmidheiny allein unterwegs.
Die Mieter
Alles bereitet sich auf den Sommer vor, die Leute sitzen mit Winterspeck und schneeweissen Oberarmen auf ihren Balkons.
Frühlingsfrische Blusen baumeln im warmen Lüftchen.
Schmidheinys Garten, ein perfekt und sorgsam gepflegtes kleines Idyll. Kaum zeigen sich die ersten Sonnenstrahlen, spriessen schon grüne Blättchen. In all den Jahren, in denen ich schon hier wohne, hat noch nie jemand so etwas vollbracht. Verdörrte Geranien vom vorletzten Jahr aus dem Siebten sind nicht einmal das schlechteste Beispiel.
Obwohl Frau Wiesenthal aus dem Vierten dauernd mit ihren Pflanzen spricht, wachsen sie anscheinend auch nicht besser.
Der Einfachheit halber wäre es vielleicht nun einmal angebracht eine kleine Erklärung der Wohnsituation an der Rorschacherstrasse 73
abzugeben:
In der ersten Etage wohnt schon seit Langem niemand mehr, nachdem dauernd eingebrochen wurde. Die Verwaltung hat es dann nach Jahren auch für korrekt befunden, diese Information den eventuellen zukünftigen Mietern zukommen zu lassen.
Zweite Etage: Ich
Dritte: Walter Schmidheiny
Im Vierten Stock: Hier wohnt Frau Wiesenthal, niemand weiss, wie sie mit Vornamen heisst. Wie erwähnt, sie beschäftigt sich hauptzeitlich mit ihren Pflanzen. Manchmal kommt sie hinunter und erzählt mir von ihren Enkeln. Sie erzählt ausführlich und ist äusserst ausdauernd. Das Haus verlässt sie nur, wenn sie unbedingt muss. Ihre Enkel wird sie aber wahrscheinlich noch nie kennen gelernt haben, falls sie überhaupt welche hat.
Im Fünften: Herr und Frau Huber, ebenfalls Rentner. Frau Huber macht den besten Kartoffelsalat und sie weiss es auch. Früher wollte sie ihn deshalb bei den umliegenden Bäckereien und Metzgereien ins Sortiment aufnehmen lassen. Das hat dann aber nicht geklappt.
Vertragliche Schwierigkeiten mit der Einigung auf Verpackung und Preis.
Herr Huber konnte sich nur schwer von seiner Firma trennen, ihm gehörte ein kleine Druckerei, die nun sein Sohn weiterführen muss.
Etage Sechs: Signor Rossi, er würde italienisch sprechen, wenn er könnte. Der arme Mann ist stock taub und stumm. Was jedoch in Anbetracht der Wohnlage ? direkt unter dem Siebten ? sicher erholsamer ist. Die Zeichensprache hat er nie erlernt; man versteht ihn aber trotzdem. Er macht eine Geste, führt die Hand zum Mund, und lächelt verschmitzt. Und schon sitze ich bei ihm in der Küche trinke Rotwein, nachmittags um halb vier.
Die Siebte Etage: Dauergestank- und zank. Vielleicht sind fünf Leute einfach zuviel.
Studenten und andere Nichtstuer geben sich die Klinke. Die Beziehungen untereinander und die Zahl um wie viel die tatsächliche Bewohnermenge die Registrierte überschreitet sind unklar.
Das macht elf Mieter also. Viele Leute.
Sommertage
Die Ferien rücken näher. Für Rentner bedeutet dies nichts anderes, als dass ihre Spazierwege von polysportiven Menschen überfüllt sind und sie beim Schwimmen im Weiher von Luftmatratzen überspült werden.
Für die Nichtstuer ändert es sich insofern, dass sie nun nichts tun können, ohne schlechtes Gewissen. Was sie aber ohnehin nie haben.
Es zieht jemand aus ? dem Anschein nach.
Tasche, Rucksack, schwer gefüllt mit Kleidern, Essenwaren, Bücher.
Und ein merkwürdiges kleines Kästchen.
Die Reise beginnt. Hier und jetzt an der Haltestelle Eichholz bis weit über den Ozean auf die andere Seite der Welt.
Schmidheiny schnallt sich den Rucksack um, hängt die Tasche über die Schultern und verlässt die Etage mit einem Kopfnicken.
Ich rufe ihm noch nach.
- Schöne Ferien.
Der Bus ist zum Bersten voll. Nirgends Platz um Gepäckstücke abzustellen. Bahnhof. Noch mehr Leute, noch grössere Eile. Nochmals in einen Bus. Dann im Bähnli: Es ist ruhiger. Schulkinder steigen ein, an den Wänden prangen unauffällige Werbeplakate für Quöllfrisch.
Höfe und Apfelbäume auf grünen Wiesen ziehen vorbei. Endstation.
Ausserkantonal.
Reisezeit: 52 Minuten.
Stille; frische Luft und ab und zu ein dumpfes Läuten.
Fussweg, privat: Kein Wanderweg!
Das Haus liegt auf einer kleinen Anhöhe, ein Waldstück trennt es von den wenigen restlichen Häusern. Die robusten Holzläden, fest verschlossen. Schmidheiny öffnet sie und befestigt sie sorgfältig.
Ein langer und einsamer Sommer beginnt.
Es ist der 6. Juli. Die Läden werden noch verschlossen und wieder geöffnet werden bis der August Einzug hält.
Schmidheiny hat sich an den Computer gesetzt, eine neuere Ausgabe.
Kleiner Einkauf per Internet. Sonst hat er die wichtigsten Sachen dabei.
? So einen Rucksack, wie der auf dem Buckel hatte.
Das mit seinen Ferien habe ich mir ganz anders vorgestellt.
Es ist sieben Uhr fünfzehn. Die Türe öffnet sich und Schmidheiny tritt vor die Schwelle. Er atmet tief durch, wärmt sich an der Sonne, die erst seit kurzer Zeit vollständig über den Berg gewandert ist, schaut sich vorsichtig um und lauscht nach Geräuschen, die von Menschen her kommen könnten. Und es gibt sie, die absolute Stille; für einen Moment. Sie gibt Schmidheiny Kraft, er beginnt zu laufen, wird immer schneller, läuft, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
Zurück, wartet er auf die Zeitung, die er auf diese Adresse hat umleiten lassen.
Da hat es anfangs Schwierigkeiten gegeben, das Tagblatt hat er darum erst nach drei Tagen erhalten.
Um sieben Uhr fünfzehn und kurz vor dem Abendessen lässt er sich dann nochmals draussen blicken. Jeden Tag, dieselbe Zeit, bei jedem Wetter. Vier Wochen lang.
Wahrscheinlich hat er sich über mich gewundert. Ich habe nichts gefragt und ich frage ja sonst so viel.
Sie sind aber überhaupt nicht braun geworden!
Waren Sie auch in den Slums der Grossstädte? Es gibt einem schon zu denken, wenn man die Kinder auf den Strassen sieht, oder? Konnten Sie sich gut auf Spanisch durchschlagen? Also bei mir gab es immer Missverständnisse mit der Sprache.
Darf ich Ihre Fotos anschauen? Hatten Sie keine Angst vor Überfällen oder gefährlichen Tieren? Es würde mich interessieren Ihre genaue Reiseroute auf der Karte verfolgen zu können. Ach, am Besten erzählen Sie einfach.
Nein, ich habe eben nichts gefragt. Möchte ihn ja nicht in Verlegenheit bringen. Wobei ich mir sicher bin, dass er meine Fragen ohne Mühe hätte beantworten können oder anderweitig ohne grossen Zeitaufwand ganz gut eine plausible Erklärung für seine Unlust zum Berichten hätte geben könne. Seine Vorbereitung auf Gespräche geht schnell und man nimmt sie nicht wahr, sondern nur, wenn er einmal überrascht oder sogar überrumpelt wird.
Souvenir aus Südamerika
Es ist noch dunkel, doch im Hausflur brennt Licht. Leise Schritte gehen treppauf und treppab. Huschen im Keller umher. Hände verrücken Schuhmöbel, Fussabtreter und Pflanzentöpfe.
Schmidheiny irrt zielgerichtet durch die Gänge, so wie man sich eben fortbewegt, wenn man sucht.
Es wird hell, die Bewohner erwachen und Schmidheiny kehrt in seine Wohnung zurück, geht zur Arbeit.
Um halb elf in der Nacht brennt im Hausflur nochmals Licht. Ich bleibe drinnen, weil ich ihn sonst nur aufschrecken würde und dann am Ende überhaupt nicht gescheiter wäre.
Irgendwann gehe ich schlafen.
Am frühen Morgen brennt immer noch Licht, oder vielleicht eher, schon wieder.
Ein neuer Tag beginnt und alle gehen zur Arbeit, vorausgesetzt, sie sind weder Renter, noch Nichtstuer. Man könnte auch sagen:
Schmidheiny geht in sein Museum und die anderen tun so, als hätten sie zu Hause viel zu tun.
Frau Wiesenthal hat Waschtag, dann kommt sie hinunter und spricht von ihren Enkeln und von dem, was sie am Wochenende mit ihnen unternommen hat.
Heute bleibt sie lange in der Waschküche. Sie bleibt solange da unten, dass ich anfange mir Sorgen zu machen.
Sie sitzt da, in einer Ecke und atmet schwer. Da ist nicht ungewöhnlich, da sie schon seit langem Probleme mit ihrem Herzen hat.
Doch jetzt macht es den Anschein, als sei es etwas ernster.
Ich bringe sie hinauf und erwäge, den Krankenwagen zu rufen.
Nach einer Weile geht es ihr dann aber besser.
Dann laufe ich noch schnell in die Waschküche.
Ich erkenne etwas Schwarzes in der Ecke.
Wie um alles in der Welt...!
Man kann nicht alles wissen!
Und ich habe keine Ahnung gehabt. ? Ich!
Skorpione gehören zu den Spinnentieren, sie leben schon seit rund dreihundertfünfzig Millionen Jahren auf der Erde, vorwiegend in tropischen und subtropischen Gebieten. Weltweit sind mehrere Hundert Arten bekannt. Wenige davon besitzen Giftmischungen, die für den Menschen schädlich oder tödlich sein können.
Der Körper des Skorpions ist in drei Abschnitte gegliedert, sein Endteil ist dünn ausgezogen, nach oben gebogen und mit einem gekrümmten Stachel versehen. Skorpione beissen nicht, sie stechen und entleeren dabei ihr Gift.
Frau Wiesenthal geht es nicht gut. - Schmidheiny wird bleich.
Ich glaube sie ist von einem Skorpion gestochen worden. - Er wird noch bleicher.
Er konnte ihn nicht finden, er war ausgerückt. Erklären kann er sich das auch nicht. Es tut ihm Leid. Sein Exemplar gehört zur Familie der Buthidae.
Nicht ganz ungefährlich.
Ich mache mir keine Vorstellung, wie die Konsequenzen ausgesehen hätten, wenn ich den Rettungsdienst gerufen hätte.
Keine Ahnung von einer Genehmigung für das Tier, artgerechter Haltung und so weiter.
Die Giftmischung war also nicht gerade tödlich. So gefährlich sind sie auch wieder nicht. Schmidheiny hat sich entschuldigt. Und er hat tatsächlich so einen Papierschein für das Viech.
So haben wir alle versprochen nichts von dem Vorfall nach Aussen dringen zu lassen. Wäre Frau Wiesenthal allerdings noch bei Verstand, hätte es anders ausgehen können.
Ich persönlich halte nicht viel von so einem Hausbewohner. ? Tiere sollten in ihrer natürlichen Umgebung leben.
Das ganze Theater hat sich bis in den Siebten herumgesprochen.
Alte Frau von gefährlichem Skorpion gestochen! Was erwartet man anderes von Schlagzeilen-Leuten, als dass sie sofort so nahe wie möglich an jegliche Informationen wollen und sich rücksichtslos auf jede Quelle stürzen.
Laute Musik tönt aus Schmidheinys Wohnung. Sie haben sich dort breit gemacht.
Der Skorpion sei voll extrem die Kampfmaschine.
Und er? Sitzt verlegen mitten im Geschehen, nach ein paar Gläsern Whisky, bemerkt er den Trubel kaum noch. Lässt sozusagen alles über sich ergehen. Das schlechte Gewissen ist noch immer nicht weg getrunken.
Manchmal erinnere ich mich an das Bild, an die kleine Szenerie, die sie da abgegeben haben; im Wohnzimmer von Schmidheiny: Und er hat da gesessen, und nichts gesagt.
Einfach nichts gesagt hat er, ist in seiner Welt geblieben und auch wenn wir nun das Gefühl haben, ein Stückchen mehr in sein Leben geguckt zu haben.
Einladung vom Siebten
Das mit dem Skorpion hat Schmidheiny in ein anderes Licht gerückt.
Auf jeden Fall ist das Jungvolk aus dem Siebten recht beeindruckt.
Schmidheiny, als einer, der sich mit gefährlichen Tieren auskennt, tagelang in seiner Wohnung hockt, mysteriöse Musik hört, extraordinäre Küchendüfte produziert und aufregende Länder bereist.
Kurzum ein wirklich abenteuerlicher Typ.
Und so kommt es, dass unser Nachbar eine extrem-coole Einladungskarte erhalten, nachdem ich die Fete abgesegnet hatte. ?
Vor elf Uhr sei aber noch nichts los, haben sie als Bemerkung darauf geschrieben.
Rot, oder blau gestreift? Hemd in Hose, oder nicht? Scheitel links oder rechts oder in der Mitte?
Ein lockeres Grinsen. Aufgesetzt. Vor dem Spiegel.
Die Haustür öffnet sich, schliesst sich wieder. Ich zähle: Neun Mal. Und wenn man bedenkt, dass pro Mal vielleicht mehrere Leute kommen...
Schmidheiny sitzt immer noch in seiner Wohnung. Es ist halb eins und er hellwach.
Leise steigt er die Stufen bis zum Siebten hinauf. Sein Blick gleitet an ihm hinunter, obwohl inzwischen das Flurlicht ausgegangen ist. Seine Hände sind feucht, in ihnen hält er eine Tüte Chips. - Wie lächerlich kommt er sich vor.
Dann klingelt er. Niemand öffnet. Die Musik ist an.
Mit Herzklopfen tritt er in den Vorraum. Lachen, Currysaucenduft und grüner Dunst kommen ihm entgegen.
Ein Berg von Jacken, Taschen, Schuhen. ? Schätzungsweise zwanzig Leute.
Mit Herzklopfen verlässt er den Vorraum.
Feigling.
Um halb vier gab es einen kleinen dumpfen Knall. Es hörte sich so an, wie wenn jemand auf eine Chipstüte getreten war, die noch auf der Fussmatte vor der Türe des Siebten gelegen hatte.
Im Einkaufszentrum
Bestellen und noch heute geliefert bekommen. Frische Ware. Kein Einkaufsstress, keine langen Warteschlangen an der Kasse. Trotzdem preisgünstig. Kein Schleppen von schweren Einkaufstaschen. Zeit um etwas anderes zu tun.
Zeit um zu Hause zu sein, an einem freien Tag. Zeit für Wichtigeres im Leben.
Und doch: Was machen die Leute an einem Samstag? Auch bei Sonnenschein fahren sie in das grösste Einkaufszentrum der Stadt, jagen unermüdlich den Dingen auf ihrem ellenlangen Einkaufszettel nach, drängen an die Regale, stürzen sich auf die Aktionen, lassen sich von der Lautsprecher-Musik berieseln, legen Berge aufs Förderband, zücken ihre EC-Karte, damit alles noch länger geht, verpacken alles in Taschen und Tüten und ärgern sich an all den andern Leuten.
Ich habe dazu bemerkt: Menschen wollen sein, wo Menschen sind.
Schmidheiny war noch nie im Neustadt-Zentrum.
Es ist Samstag und es regnet. Allerheiligen steht bevor. Kurz vor Mittag.
Mit zwei grossen Einkaufstaschen verlässt er das Haus. Im Bus ist es eng, die Scheiben sind beschlagen und eine Luft, die nach feuchtwarmen Kleidern riecht, breitet sich aus. Die Halteschlaufen sind nass. Schmidheiny hält sich an einer Stange fest und zählt die Haltestellen. Ein Menschenstrom ergiesst sich auf den Vorplatz des Einkaufszentrums. Die Schiebetüren gehen auf und lassen ihn verschwinden.
Im Innern ist es überhell und alles scheint in Bewegung zu sein.
Nur Schmidheiny steht da, mitten im Chaos. Nimmt sich einen Korb, schaut nach links, nach rechts, bemerkt, dass eine Lampe an der Decke flackert, die Frau hinter dem Käsetresen Wurstfinger hat und ein kleiner Junge seiner Mutter heimlich eine Packung Bonbons in den Einkaufswagen legt.
Schmidheiny schaut auf seinen Einkaufszettel, den er eigentlich gar nicht hätte schreiben müssen.
1 Bund Bananen,
1 Liter Milch,
1 kleine Flasche Rasierwasser.
Am Früchte- und Gemüsestand herrscht Hochbetrieb. Die Bananen hängen neben dem Spinat und der ist gerade Aktion. Schmidheiny nimmt sie und wartet etwas weiter entfernt, bis die Waage frei wird. Nun scheint er da zu sein, der Moment, an dem niemand etwas darauf legen möchte. So macht er die paar Schritte und wird dann seitlich an den Schultern gestreift.
- Passen Sie doch auf, ich war schon vorher da!
Wie viel die Bananen wiegen wird plötzlich unwichtig.
- Könnten Sie mal Platz machen, Sie stehen schon die ganze Zeit vor dem Kühlregal!
Er nimmt die Milch, lässt sie fallen, rennt dann davon und hinterlässt eine Spur von kleinen weissen Pfützen.
Eine Mädchengruppe tummelt sich vor den Kosmetikutensilien. Sie lachen und Schmidheiny zuckt verlegen zusammen, als sie etwas von seinen Schuhen kichern.
Er blickt in seinen Einkaufskorb, der ist immer noch leer. Seine neuen Lederschuhe sind voll von Flecken und Spritzern.
- Kann ich Ihnen behilflich sein? Die Stimme einer solariumgebräunten, grell-pastell geschminkten Mittfünfzigerin lässt Schmidheiny von seinen Schuhen aufsehen.
Bei der Hygiene- und Kosmetikabteilung kann man also noch persönliche Beratung bekommen. Doch Schmidheiny lässt sich nicht beraten. Er murmelt etwas Unverständliches und eilt davon. Erst zehn Minuten später, als die Verkäuferin sich entfernt hat, um die Regale aufzufüllen traut er sich blitzschnell nach einem Rasierwasser zu greifen.
Erleichtert legt er die Flasche in den Korb und geht nochmals gestärkt zu den Milchprodukten. Der See und die kaputte Milchtüte sind immer noch da. Vom Eingang her, kann man aber schon ein Wägelchen mit einem Eimer darauf näher kommen sehen.
Schmidheiny schnappt sich vorsichtig die Milch und kommt erst zwischen den Tierfutterdosen wieder zum Stehen. Er schnauft heftig und ich überlege mir schon fast, ihn anzusprechen und aus dem Laden zu begleiten. Da er aber bestimmt noch mehr gestresst wäre, wenn er bemerken würde, dass ich auch hier bin, überlasse ich ihn weiter sich selbst.
Mit dem Rasierwasser und der Milch im Korb begibt er sich zur Kasse. Reiht sich ein, zwischen all den anderen geduldigen Menschen und klammert sich am Kunststoffgriff fest, der schon langsam feucht geworden ist. Er schaut nicht mehr nervös umher, sondern konzentriert sich auf den Ausgang, noch fünf Leute, dann ist er dran.
- Für solche wie Sie, gibt es eine Express-Kasse! Schmidheiny zuckt zusammen.
Der Mann hinter ihm, schaut über seinen rollenden Haufen und schüttelt den Kopf.
- Wohl zum ersten Mal hier.
- Ja, sagt Schmidheiny leise.
Der Mann hört nichts, da gerade eine Lautsprecheransage die neuesten Aktionen bekannt gibt.
Schmidheiny atmet tief ein und bleibt dann bei dieser Kasse stehen.
Nur noch der Bus, dann ist es geschafft.
Nach einer Weile sehe ich ihn durchs Gartentor kommen.
Er trägt keine schweren, vollen Taschen, wie sonst alle Leute, wenn sie aus dem Neustadtzentrum kommen.
In dem Mantelsack steckt eine Flasche Rasierwasser. Mit einem anderen Duft, als den, den er normalerweise morgens um sieben Uhr fünfzehn im Hausflur versprüht.
In den Hand hält er eine Packung, mit teilentrahmter Milch, obwohl er sonst die Vollmilch aus der Flasche kauft.
Mit stolzen Schritt - und das meine ich wirklich so, auch wenn man es sich kaum vorstellen kann - schreitet er ins Haus und vergisst sogar die Türe lautlos zu schliessen.
Morgen früh wird er dann bemerken, dass er ein Rasierwasser mit neuem Parfum besitzt und seine Flocken in fettarmer Milch schwimmen.

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