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Der Alltag und das kleine Glück

© Sabine Rohm


Der 11. September 2006, 5.00 Uhr.
Nachdem sie die restlichen vier klingelnden Wecker mit müder Handbewegung beiseite geschubst hatte, wurde Melanie Bellheim durch die Nachrichten, die lautstark und scheinbar brutal aus ihrem auf höchste Lautstärke gestellten Radiowecker schallten, endlich wach.
Der elfte September. Wie jedes Jahr wurde an das unvorstellbare Drama von vor fünf Jahren erinnert. Melanie schaltete das Radio aus, quälte sich müde aus ihrem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Sie blickte in den Spiegel und dachte nach über diese unvorstellbare Brutalität, über diese Sinnlosigkeit, über die Menschen die mittlerweile täglich auf beinahe jedem Fleck dieser kostbaren Erde das Leben vernichten.
Wenn sie an Gott dachte, sah sie vor ihren Augen einen weisen, alten Mann, in einem Ohrensessel sitzend vor sich. Die typische Vorstellung eines sich nicht mit dem Glauben befassenden Menschen. Stellte sie sich Gott in diesen Momenten vor, dann sah sie entweder einen verzweifelten Mann vor sich, unruhig hin- und herwandernd in seinem spartanischen Reich, tendierte allerdings zu dem munteren, lustigen Greis, der sich den Bauch hielt vor Lachen, nach jeweils neuen, unbegreiflichen Informationen über seine angeblichen Geschöpfe. Ein Wesen, dem die Bürde des Erschaffens von Monstern auferlegt wird. Sie schüttelte den Kopf. Nein! Nicht hier und jetzt über den Sinn des Lebens nachdenken.
Melanie stellte sich unter die Dusche und hoffte, diesen Tag so komplikationslos wie nur möglich hinter sich bringen zu können.
Der Montag war für sie ein böser Tag. Er selber konnte nichts dazu, es kam auf den Job an, den sie ausüben und möglichst perfekt gestalten wollte. Bei ihrer letzten Tätigkeit war es der böse Tag mit "F" gewesen. Der Freitag. Sie hatte diese Bezeichnung seinerzeit kreiert, und es wurde in ihrer damaligen Branche zum Insiderspruch: Heute ist der böse Tag mit "F". Jeder wusste daraufhin, dass der Betreffende Arbeit bis zum Abwinken zu bewältigen hatte, und ließ ihn in Ruhe.
Die Tätigkeit, die Melanie zurzeit ausübte, machte ihr den Montag zum Feind. Sie war bei einem Kurierdienst beschäftigt, der unter anderem die Postfächer seiner Kunden leerte und zu vertraglich geregelten Uhrzeiten wichtige Briefe an Firmen aushändigen musste.
Bei den Vertragsabwicklungen mit den Kunden, war der böse Tag allerdings nicht erwähnt worden. Der Samstag fehlte, an dem die Kunden nicht anwesend waren und sich somit die doppelte Menge an Briefen ansammelte. Das gehörte eben zum Schicksal der Fahrer, die sich die Hacken wund laufen mussten. Die Zeit des Sortierens wurde vergleichbar mit einem Marathonlauf und Gewichtheberwettkampf. Melanie war der Meinung, dass ein vierjähriges Kind diese Aufgabe mit links erledigen könne, wenn es die körperliche Kraft dafür und die Macht über ein Auto hätte. Vierjährige Kinder durften und konnten nicht eingestellt werden, deshalb hatte sie schließlich diesen Job gefunden. Ein Job, bei dem sie ihren Hund mitnehmen durfte. Lange genug hatte sie danach gesucht und musste sich glücklich schätzen - aber heute ahnte sie arg Böses auf sich zukommen.
Die Zeit verrann. Die vielen Postkisten, gefüllt mit Briefen, die sie lediglich nach Größe sortieren und zum Auto schleppen musste, wollten nicht weniger werden. Dreiundzwanzig Kunden bis spätestens 9.40 Uhr, trotz doppeltem Zeitaufwand zum stumpfsinnigen Sortieren. Handgerecht dargereichte Post: Rechnungen mit vielleicht gewaltigem Inhalt, Mahnungen die das Letzte forderten, Bewebungsunterlagen von unbekannten und hoffnungsvollen Schicksalen; Urlaubsgrüße in Schönschrift, braungebrannt und erholt geschrieben auf bunten Karten, einladend aussehend - Freude oder Neid beim Lesenden hervorrufend. Sie lagen möglichst obenauf.
Service vom Feinsten.
Melanie kam ins Schwitzen, verspätete sich jeweils um fünfzehn Minuten. Die Ampeln, die sie während ihrer Fahrt passieren musste, schalteten, wie untereinander abgesprochen, stur auf Rot.
Mitten im Hafengebiet sah sie einen LKW am Straßenrand parken. Die Vorhänge im Führerhaus waren zugezogen. Ein Fahrer der seine zulässige Zeit, aufgrund von Termindruck, bei weitem überschritten hatte? Was lag da neben seinem LKW? Melanie fuhr immer langsamer, traute ihren Augen nicht. Eine junge, schwarz-weiße Katze, plattgefahren und ignoriert. Vor lauter Entsetzen, in Gedanken vertieft, fuhr sie an dem riesigen und nicht übersehbaren Gebäude ihres Kunden vorbei. Sie wendete bei nächster Gelegenheit, lieferte die hochwohlgeborene Post aus und parkte neben dem LKW, neben der kleinen Katze, stieg aus dem Auto und beugte sich herunter. Plattgefahren, war noch untertrieben. Melanie stiegen Tränen in die Augen.
"Mein Gott, ich kann sie doch nicht einfach hier so liegen lassen!"
Sie hob die Kleine an ihren noch vorhanden vier Beinen in die Höhe, beachtete nicht, dass die herausquellenden Gedärme ihre Kleidung befleckten und legte sie in die nahe gelegene Wiese, setzte sich anschließend ans Steuer ihres Firmenwagens und atmete tief ein.
Auch nicht gerade sinnvoll, aber immerhin etwas, dachte sie.
Melanie fuhr weiter, umkurvte vorsichtig die Tauben, die hier im Industriegebiet immer etwas zum Aufpicken fanden und hatte Glück! Sie hatte keine Taube überfahren und kein Kunde beschwerte sich. Lag es an ihrem verzweifelten Lächeln, das sie jeweils in die Postkiste gelegt hatte? Sie rannte, treppauf, treppab; im Auto zurückgekommen, streichelte sie ihrem geduldigen Hund über den kleinen Kopf: "Nur noch vierzehn Kunden, mein Engel, dann können wir eine kurze Pause einlegen".
Noch fünf Kunden und mittlerweile zwanzig Minuten Verspätung.
Bei dem Kunden, der höchstens lächerliche vier Briefe am Tag bekommt, passierte es!
"Also wissen Sie, junge Frau, vertraglich geregelt ist neun Uhr. Wir bekommen unsere Post um neun Uhr, nicht um zwanzig nach Neun. Wenn das so weitergeht, werden wir ihren Service nicht mehr benötigen".
Die Dame mittleren Alters wurde nicht böse, nicht ausfallend, blieb neutral, vertrat nur ihr Recht, aber sie traf Melanie mit ihrer Aussage mitten ins Herz. Melanie versuchte zu erklären, dass andere Kunden 400 Briefe bekamen, die Katze, die Tauben, sie es zeitlich an dem bösen Tag mit "M" nicht anders hinbekam, verstummte ganz kurz darauf, verstand, dass sich ihre Stimme ungehört im Treppenhaus verlor, hielt sich selber für schwachsinnig, wünschte der Dame mittleren Alters einen schönen Tag und versprach sich zu bessern.
Sich zu bessern! Im Auto angekommen, streichelte sie kurz über den kleinen Kopf und startete den Motor: "Dass ich mir das gefallen lassen muss! Junge Frau! Ich war auch mal Wer! Die damaligen Kunden kannten wenigstens meinen Namen. Ich hatte Schlüsselgewalt, Kontovollmacht, Mitarbeiter, denen ich sagen musste wo es lang geht, und jetzt …?" Während ihrer kurzen Abwesenheit hatte ihr Hund die Zeit genutzt und ihr die Wurst vom Frühstücksbrot stibitzt. Das war Melanie jetzt auch egal. Selbst so genannte Engel hatten ihre Fehler.
Sie düste weiter, versuchte die Gedanken zu verdrängen. Ein Kampf auf Teufel komm raus. Heutzutage müssen Termine eingehalten werden, jenseits von Gut und Böse. Egal was passieren wird. Ein Vertag zählt. Das Gesetz zählt. Was unter dem Strich und in Wirklichkeit übrig bleibt, das betrifft nur die Kleinen. Kleine Firmen und noch kleinere Mitarbeiter. Die großen Konzerne können es sich zumindest leisten, besagtes Vitamin B in hohen Dosen zu kaufen. Den Mitarbeitern wird jedoch selten etwas davon abgegeben. Mitgefühl ist unbekannt.
Melanie kam nicht darüber hinweg. Heute ist außerdem der elfte September, ein Tag der eigentlich zum Nachdenken auffordern sollte. Ach, was solls, die Menschen werden nicht klüger.
Melanie zwang sich, sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Autoradio ließ derweil permanent von der Sinnlosigkeit des Daseins erzählen. Livemitschnitte von damalig eingekesselten, um Hilfe schreienden Menschen, die niemand hören wollte, denen keiner helfen konnte, weil alle unvorbereitet waren! Wie denn auch richtig reagieren? Auf etwas Unfassbares vorbereiten, kann nicht funktionieren.
Es tat weh, das ganze Leben tat weh und fiel oftmals so schwer.
Irgendwann gegen Mittag hatte Melanie ihr Soll für den Vormittag bewältigt. Ihre Füße schmerzten, die neuen Turnschuhe, die sie sich vor ein paar Tagen angeschafft hatte, waren nicht wirklich gut und zu hart. Hart wie das Leben und zu hart für Melanie. In zwei Stunden musste sie wieder fit sein, schließlich erwarteten vertraglich abgesicherte Kunden die pünktliche Abholung ihrer geheiligten Post.
Sie fuhr nach Hause, ging mit ihrem geduldig abwartenden Hund durch den nahe gelegenen Wald und atmete die Ruhe. Kurze Zeit zum Erholen. Kurze Zeit, um den Knoten im Kopf zu entwirren? Nein, nicht wirklich. Melanie war einfach nur müde, freute sich auf einen Kaffee, freute sich auf kurze Entspannung und schloss die Haustüre auf. Melanie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen blonden Haare und öffnete den Briefkasten.
Post! Post für ihren Lebensgefährten. Post für Richard Krohn, Post für Richard Krohn aber, was war das? Ein dicker Umschlag an Melanie Bellheim adressiert! Ein dicker Umschlag, sie drehte ihn hin und her, sie hatte nichts bestellt, was war das? Kein Absender, lediglich ihr Name mit korrekter Adresse und links unten in der Ecke ein Smiley, das hüpfend und lachend seine Strichärmchen fröhlich in die Höhe riss. Sollte das etwa...? Sollte das etwa das Buch sein, das sie sich von Felicitas gewünscht hatte? Felicitas Buch, versehen mit einer Widmung? Melanie warf ihre Tasche auf den Boden, ließ die Briefe auf den Flurboden fallen und öffnete den Umschlag. Zum zweiten Mal an diesem Tag kamen ihr die Tränen.
Sie hielt ein Buch in der Hand und auf dem Deckel stand offiziell der Name der Autorin, Felicitas Koellen. Ein wunderschöner Buchdeckel, versehen mit einem Seepferdchen, das seinen Schwanz um eine Ähre geschlungen hat. Wenn man die Buchdeckel auseinander gehalten sieht, erkennt man eine Kugel, gefüllt mit kleinen Kugeln. Sie erinnerten Melanie in diesem Moment an Sauerstoff, an bewusstes Atmen. Im Hintergrund strahlend blauer Himmel mit dicken weißen Wolken und Ahnung von waldreicher Umgebung. Eine Mohnblüte, einzeln aus dieser Kugel herauswachsend. Schön! Einfach nur Klasse!
Melanie wischte sich mit der Hand über ihr Gesicht, sammelte ihre fallen gelassenen Dinge auf, lief plötzlich ohne Schmerzen in den Füssen ihrem Hund bis zur dritten Etage hinterher, schloss die Wohnungstür auf, ließ sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen und hatte auf einmal, wie weggeweht, die schweren Gedanken des Vormittags vergessen. Sie strich ehrfürchtig über das Buch, klappte es auf und las. Las die Originalwidmung, von eigener ISBN Nummer, das Nachwort, in dem Felicitas zu ihren Freunden und Verwandten spricht.
Melanie begann zu blättern, tastete sich von Kurzgeschichte zu Erzählung langsam durch. Es würde Zeit haben. Zeit zum Genießen. Sie war begeistert, war beruhigt. Beruhigt durch gefühlvolle Sätze, die mit jedem Wort das Leben verstehen. Ein Trostpflaster, genau! Felicitas zweifelte manchmal an ihrem eigenen Können, Melanie fühlte sich anhand der gelesenen Worte schon sehr viel besser.
Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, sie fühlte sich gut. Warm, geborgen und geehrt. Wenn sie in einer Stunde wieder startet und zu einem meckernden Kunden kommt, wird sie stark sein! Sie wird dem Kunden eiskalt lächelnd in die Augen blicken und ihn fragen: "Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie unzufrieden? Womit? Mit sich selbst? Mit Ihrer Tätigkeit? Ich sage Ihnen: Wir dürfen niemals die Augen vor den Tatsachen verschließen. Wir müssen und können bei den kleinsten Kleinigkeiten anfangen. Sie wissen das nicht? Selbst hier vor diesem aufwändigen Gebäude das Unkraut, das abfällig behandelt wird, hat einen Sinn zum Leben - und einen botanischen Namen. Und ich, ich heiße Melanie Bellheim! Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend."

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