Sie schlurfte aus der Haustüre. Zerrte hustend und schnaufend einen ausrangierten Kinderwagen hinter sich her. Jeder kannte sie. Täglich zog Theresia Schubert durch die Straßen der Stadt, die geschwollenen Krampfaderbeine mit schmutzigen Lappen umwickelt, zerfetztes Schuhwerk an den Füßen. Der Anblick für manch einen Älteren eine schockierende Erinnerung an die Bilder von Soldaten in der Schneewüste Russlands. Vor einem halben Jahrhundert.
Bei jedem Wetter war Theresia Schubert unterwegs. Was sie aus Mülltonnen zog, was sie auf der Straße und an Hausecken fand und für brauchbar hielt, stopfte sie in ihren Kinderwagen. Sie sammelte Flaschen auf, Zeitungen, Spielzeug und noch vieles mehr. Lauter Dinge, die weggeworfen wurden, nicht mehr gebraucht wurden. Für Theresia aber ein glücklicher Fund.
Wenn Theresia Schubert, in ihrem früheren Leben eine penible und ordentliche Angestellte in der Schulbehörde, hustend dahergehinkt kam, ein braunes gestricktes Tuch um Rücken und Schultern gewickelt, da sagte so mancher: "Schau, da kommt wieder die Müll-Resl".
Sie war allen Bewohnern der Stadt als Müll-Resl bekannt, keiner aber wusste, wer sie wirklich gewesen und wie sie zu dem geworden, was sie nun war. Sie gehörte zum Stadtbild, zum täglichen Leben. Man war an ihren Anblick gewöhnt, so wie man sich an das Straßenschild an der Ecke, an den Hydranten vor dem Rathaus gewöhnt hatte.
Plötzlich aber war sie verschwunden. "Wo mag wohl die Müll-Resl geblieben sein?", fragte da mancher. Eine eher rhetorische Frage, so nebenher, ohne großes Interesse. Schließlich hatte man ja nichts mit ihr zu tun. Ein kurzer Gedanke nur, dann war die Müllsammlerin vergessen.
Hätte jemand sie fragen können, wo sie geblieben sei, dann hätte er erfahren, dass sie eines Tages von einer Gruppe Jugendlicher, die bierselig vor einer Wirtschaft herumlungerte, beschimpft und misshandelt worden war.
"Du bist doch selber nichts weiter als Müll", riefen sie. Und: "Leg dich doch gleich zu deinem Dreck in den Kinderwagen."
Einer schubste sie und einer streckte sein Bein aus, ließ die alte Frau darüber stolpern.
"Pass doch auf, alte Vettel" rief er in gespielter Empörung und als Theresia weinend auf der Straße lag, da schütteten die Angetrunkenen eine Flasche Bier über ihren grauen Strubbelkopf und lachten unbändig.
Seither hatte Theresia Schubert Angst, traute sich nicht mehr bei Tageslicht auf die Straße. Sie, die aus der Bahn geworfen und in den Augen anderer nichts weiter war als Müll, konnte doch nicht vom Müllsammeln lassen. Musste sich umgeben mit den Dingen, die aus dem Überfluss der besitzenden Gesellschaft ausrangiert wurden, ihr aber ein gewisses Maß an Sicherheit und Geborgenheit gaben, Halt für ihre gequälte Seele. Manches Mal fiel dabei sogar ein kleines bisschen Glück für sie ab.
Theresia verlegte seit dem Vorfall mit den Jugendlichen ihre Sammeltätigkeit auf die Nachtstunden. Auch ging sie hin und wieder im Schutz eines trüben Regentages aus dem Haus, dann, wenn die Menschen nur unter Zwang und mit eingezogenem Kopf durch die Stadt eilten. Da zog sie unbeobachtet ihren Kinderwagen durch die Straßen und sammelte, was andere als Abfall liegen ließen.
Eines grau verschleierten Herbsttages als der Regen gnädig verhüllte, was ungesehen sein wollte, zog die Müll-Resl wieder frierend und hustend mit ihrem Kinderwagen umher. Sie blieb stehen, wo Sperrmüll zur Abholung am Straßenrand aufgehäuft war, zog sich aus den Haufen, was sie für wertvoll hielt. Hätte es nicht so anhaltend geregnet und manche Hausfrau vor ihrer Tür ein Schwätzchen mit der Nachbarin gehalten, so hätte wohl die eine zur anderen gesagt: "Da kommt wieder einmal die Müll-Resl. Mein Gott, ist die alt geworden. Na ja, hat ja auch wahrscheinlich kein gutes Leben." Und die andere würde verständnisvoll nicken, aber ein bisschen die Nase rümpfen und sagen: "Das entschuldigt aber nicht ihr Aussehen. Auch wenn man arm ist, kann man sauber sein und sich die Haare kämmen."
Aber was wussten denn die fröhlich tratschenden Frauen wirklich von der Müll-Resl? Nichts. Gar nichts wussten sie und sie hatten sich auch nie die Mühe gemacht, etwas zu wissen; denn dann hätten sie vielleicht helfen müssen. Das aber war wohl nicht jedermanns Sache.
Wir wollen also dankbar sein, dass es der Himmel so anhaltend regnen ließ und die tratschenden Frauen im warmen Wohnzimmer hockten. Das unwirtliche Wetter ermöglichte es der Theresia, im schützenden Grau der Regengüsse den am Bürgersteig angehäuften Sperrmüll unbeobachtet zu durchmustern. Viel hatte sie diesmal noch nicht gefunden. Einen Topf ohne Henkel, eine zerfetzte Gardine und eine Stehlampe, von der wir annehmen müssen, dass sie nicht mehr funktionsfähig war.
Gerade als der Regen noch etwas zulegte, öffnete sich neben Theresia Schubert in einem der Wohnblocks die Haustüre. Eine zornrote Mutter mit ihrem heulenden Kind im Schlepptau trug einen riesigen Teddybären heraus und warf ihn auf den Haufen mit alten Kleidern, einer durchweichten Matratze, ausrangierten Blumentöpfen und leeren Farbeimern.
"Hör auf zu heulen", wies die Mutter die tränen- und rotzverschmierte Tochter zurecht. "So war es vereinbart. Dein Zimmer sieht aus wie eine Müllhalde. Wenn du nicht aufräumst, fliegt alles auf den Sperrmüll. Der Bär ist nur der Anfang."
Das Heulen und Rotzen und Schniefen der Tochter nahm zu während sie zurück ins Haus gingen. Theresia Schubert konnte gerade noch hören, wie das Kind versprach, jetzt in seinem Zimmer Ordnung zu machen. Dann schlug die Türe zu.
Die Resl stand da und blickte auf den armen Bären, der fast so groß war wie sie selbst und sie meinte zu hören, wie er jammerte, dass es regne und dass er friere. Da warf sie Stehlampe und Kochtopf aus dem Kinderwagen und bettete den Bären hinein. Sie deckte ihn mit der alten Gardine zu und leise ein Schlaflied summend, schob sie den Bär im Kinderwagen nachhause. In ihre kalte Wohnung in dem abbruchreifen Häuschen.
Die Müll-Resl, die bereits ein wenig geistesschwach war, war glücklich. Nie in ihrem Leben hatte sie einen Teddybären besessen. Nie hatte das Geld dafür gereicht. Und hätte es gereicht, so würden ihre Eltern es nie für Spielsachen ausgegeben haben. Ein hartes, ein brutales Elternhaus, Armut und Misshandlung hatte sie erlebt, hatte sich später hochgearbeitet und sorgsam und gut gearbeitet. Nun erst im Alter, bei Kälte, Krankheit und Einsamkeit, da hatte sie endlich Glück, hatte einen wollig weichen Kameraden gefunden. Sie nannte ihn Bruno und sie nahm ihn mit in ihr Bett und kuschelte sich mit strahlendem Lächeln an ihn.
"Das Leben hat es aber heut gut mit mir gemeint", sagte sie zu ihrem Bruno. Sie hustete ein bisschen und sie stöhnte ein bisschen und als nach einer Woche der Mann von den Stadtwerken wegen der nicht bezahlten Stromrechnung kam, da lag die Müll-Resl zwischen all ihrem angehäuften und hochgetürmten Müll tot in ihrem Bett. Umgeben von ihren Schätzen aus dem Abfall der Stadt hielt sie einen großen Teddybären im Arm und sie lächelte auch jetzt nach einer Woche Totsein noch glücklich.
Altwerden lässt sich nicht verhindern. Jeder meistert es auf seine Weise:
Einer geht über Hecken und Zäune, um seine alte Liebe wieder zu sehen, einer
stirbt und wird von seinen Freunden fröhlich zu Grabe getragen, manchen verwirrt
sich der Geist und gibt Raum im Gehirn für Geister, die einen joggen oder
spielen Fußball, andere kämpfen mit ihren Erinnerungen ...
In ihren Geschichten, teils skurril, teils traurig, beleuchtet die Autorin
verschiedene Facetten der Zeit des Alterns. Über manche der Geschichten kann
man lachen, andere enden mit dem Tod. Man darf mit und über die Alten lachen
und mit oder über sie weinen.