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Kläuschen und die Börse

© Stefanie Rößler


Plötzlich war es soweit: der Supergau - ein Zirkon, der unaufhaltsam einmal um die Welt wirbelte. Dabei machte es zunächst einen so harmlosen Eindruck.
Zwei Frauen in der U-Bahn unterhalten sie über parallele Welten - Ein Therapeut macht die Tür hinter der letzten Patientin zu und fragt sich, warum er in ihr etwas zu heilen versucht, was schon lange zur Grundvoraussetzung für Erfolg geworden war - eine Eintrittskarte in die Welt, in der sie bisher überwiegend lebte.
Ein Hochschullehrer will sein Amt an den Nagel hängen. Eben noch hat er einen seiner ungezählten Vorträge gehalten über die Entwicklung an den Börsen und die Mechanismen die sie treiben. Während des Sprechens noch stürzt das mühsam aufgebaute Theoriegebäude auf das Parkett und zerbricht.
Berta C. denkt mal wieder über Ihre Karriere nach. Sie hat heute bereits dem vierten Menschen in diesem Jahr aus tiefster Seele ihre Liebe gestanden - jetzt muß sie weiter ziehen. Walter K. ist gerade im Begriff, die neue Stereoanlage im geerbten Haus seiner Eltern zu installieren - und ich sitze hier und schreibe mit grüner Tinte - unleserlich wie immer.
Acht Frauen zwischen 25 und 35 aus unterschiedlichsten Lebensumständen haben gerade beschlossen zusammenzuziehen. Karina erzählt, dass ihr Lover sie verlassen hat - dabei ist er so schön. Anders als ihr verlassener Freund, der sie immer noch liebt - war er auch körperlich gut gebaut. Jetzt hat sie Sorge zuzunehmen - so völlig ohne Mann - oder soll sie doch lieber lesbisch werden nach diesem Schicksalsschlag?
In Kenia ist endlich die Regenzeit angebrochen, und keiner weiß wohin die nächste Trockenheit führen wird. Jemand erzählt von dem Primatenzwischenfall - Affen hatten einen Laster mit Wasser angegriffen - die Bewohner setzten sich zur Wehr. Es gab Tote unter den Affen.
Follow the Sun - die Uhren ticken weiter: virtuelle Zeit; virtuelle Dollars.
Doch während eine türkische Freundin von ihrem Sohn erzählt, gehen in New York die Lichter aus.
Gerade eben war ich in der Münchner Dombuchhandlung, die gleich neben dieser lauten Ewigkeitsbaustelle - am Mittwoch ist Eröffnung. Heute ist Donnerstag und meine Kollegen in Düsseldorf hatten gestern Theaterprobe. Ich habe zugeschaut. Ein Stück von Botho Strauß: Vernissage - eine beziehungskatastrophale Gesellschaftskritik.
"Geld" klingt es noch an mein Ohr. Kläuschen sagt: Gib mir Geld, gib mir Geld, gib mir Geld. Und schon fliegen die virtuellen Münzen auf die Bühne.
Ich erwische mich bei der Frage, ob Münzen heutzutage überhaupt noch eine Funktion erfüllen - doch mittlerweile bin ich schon wieder gelandet - in einem Münchner Café angefüllt mit gutangezogenen Menschen. Ein Kind fährt mit dem Roller mitten durch das Lokal und die Hintergrundmusik liefert den richtigen Rahmen für das Gemurmel, das meine Gedanken rhythmisiert.
Ich erinnere mich: Es war, als mir gerade bewusst wurde, dass ich die Körperwelten verpasst hatte:
An der Wall Street ereignete sich ein Zusammenstoß. Kein Gebäude, keine Autos - die Rechner brachen zusammen - ein Virus infizierte das Banken-Großhirn und pflanzte sich mit jeder Transaktion weiter fort - ein Bandwurm bohrt sich durchs Netz. Der ansteckende Parasit saust in Windeseile rund um den Globus - und in Afrika gehen wieder die Lichter an - Follow the Sun.
Man hat versucht, den Rechner in Quarantäne zu nehmen - doch die Reise kannte keine Grenzen - so konnte wenigstens kein Zöllner Verrat üben - Münzen haben ihre Bedeutung verloren. Wer hat schon eine Chance gegen das infektiöse Fieber eines Computers? Als in Afrika endlich der Morgen anbrach, war alles Geld vernichtet.
Nun steht die Welt da - ohne Gegenwert - mitten in ihrer modernen Gegenwart - kein Geld mehr - kein Run auf die Bank. In New York gehen die Uhren rückwärts. Doch die Menschen in Manhattan sind so schnell wie eh und je!

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