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Reise in den Süden

© Elisabeth Zieger


Es war recht kühl geworden. Doch ein kleiner Junge, etwa sieben, saß dem Wetter zum Trotz in seinem Schiffchen aus Papier. Das war klein und sauber gefaltet.
Der Papa hatte es gebastelt. Gestern Abend und nur für ihn.
Jetzt wollte er damit auf große Reise gehen!
Was kümmerte ihn da, dass es kalt war? Er trieb weit über den Fluss. Schnell, Wind und Wasser in seinen Haaren und mit nassen Socken.
Er trieb eilig, während hier und da durch die herbstgelichteten Kronen der mächtigen Kastanien rasch vorbeiblinzelnde Sonnenlichtpfützen aufs Wasser tröpfelten.
Er liebte diese hellen Pfützchen. Sie flackerten so lustig golden und mit ihnen sah es wenigstens so aus, als wäre es etwas wärmer.
Er würde in den Süden fahren. Überall hatte sich schließlich auch das Laub auf den Weg gemacht. Wirbelte mit ihm hinfort, wie die meisten Vögel ahnungsvoll ja schon vor längerer Zeit entflogen waren, flüchteten nun auch sie.
Geschwind zogen dunkle Stämme in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei. Die würzig herbe Luft roch bereits nach vertrauter Veränderung und im Schatten knisterte schon der Winter. Einen Großteil des bunten Laubes hatte dieser schon eingefangen und auf den Wegen entlang des Ufers festgeklebt. Gesicht und Hände rot gefroren.
Den kleinen Jungen kümmerte das nicht. Bald würde er an einen Ort gelangen, wo das ganze Jahr Sommer wäre. Und wenn er dann in ein paar Jahren seine Stadt besuchen käme, würde er erzählen können von exotischen Tieren, Blumenwiesen und hohen Bäumen, die ihr Laub nicht wegschicken müssten, sondern immer blühten. Er würde es Magellan nachtun und ein weiters mal beweisen, dass die Erde eine Kugel sei. Davon wollte er sich nämlich erst selbst überzeugen.
So träumte er von den Ländern die zu entdecken waren und ließ sich treiben.
Derweil von irgendwo abseits unterschwellig Musik auf ihn zuströmte. Jemand spielte im Hintergrund Klavier. Leise aber beschwingt. Einen Walzer vielleicht.
Sein Schiffchen mit tänzerischer Leichtigkeit hüpfte dazu über knappe rhythmische Wogen. Phantastisch schön schwebten gewandt dunkelblau oder türkis funkelnde Libellen wie verzauberte Feen umher. Spielten zwischen verlassendem Schilf.
Da schlug ihm auf einmal aromatischer Mandarinenduft entgegen. Das Radio heulte laut auf. Schwermütiger Chopin. Es war heiß.
Seine Augen blickten angestrengt zur Seite, während der Kopf steif und eingekeilt in Kissen reglos blieb. Er schwitzte.
Seine Mutter hatte ihm wie jeden Tag einen Teller mit der dürftig geschälten Frucht neben das Bett gestellt. Sie wartete angespannt. Er würde alles essen müssen.
Er ekelte sich vor den weißen Rückständen. Die hatte früher der Papa entfernt. Mit liebevoller Sorgfalt für seinen unbeholfenen Sohn hatte er geduldig alles abgepult.
Der kleine Junge starrte zur Decke. Die Decke starrte kahl und weiß zurück. Schatten zerrannen daran und kauerten sich in die Ecken. Die bleierne Schwere, die ihn gefangen hielt, war übermächtig zurückgekehrt. Presste das zarte Kind hart auf die Matratze.
Eine Hand erschien über seinem Gesicht. Ergeben öffnete er den Mund und ließ sich das ledrig umhüllte Obst Stück für Stück in seinen gelähmten Körper schieben. Einige Fetzen blieben an seinem Gaumen hängen.
Mutter war blass. Seit Vater wegen ihm in das Eis eingebrochen, in den Fluss gefallen, gestorben war, war sie genauso blass wie die Decke. Mit Schatten in den Ecken, die sich in ihrem schönen Gesicht aufgetan hatten.
Sie war fast schon durchsichtig geworden. Löste sich womöglich bald völlig auf.
Sie sprach auch nicht mehr mit ihm. Sie sprach überhaupt nicht mehr. Mit niemandem und niemand sprach mit ihm.
Er nahm sie kaum mehr wahr, wenn sie mehrmals täglich ins Zimmer kam um seinen defekten Organismus zu füttern. Er wusste nur, dass sie auf ihn starrte. Manchmal auch durch ihn hindurch. Wie die Decke. Wie die Wände, die Schränke, die Türen, die Lampen, sogar die zugezogenen Vorhänge der sechs Fenster. Alles herum starrte auf ihn herab. Alles außer einem kleinen Papierschiffchen auf dem Kaminsims.
Das stand einfach da und wartete.

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