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Kollegenpost

© Klaus Herrgen


Kaum ist uns die Post ins Haus geflattert, fliegen auf den langen Fluren die Türen auf und von lebhaftem Stimmengewirr begleitet schwirren Kolleginnen und Kollegen heran, um sich über die Postfächer herzumachen. Bald darauf gleicht das Postregal mit seinen alphabetisch gereihten, offenen Fächern wieder einem verlassenen Taubenschlag; denn schon sind die Jäger mit ihrer Beute in die Büros entschwunden und sichten dort aufmerksam, was sie sich eingefangen haben. Nicht nur Arbeit ist ihnen da ins Haus gekommen; der bunte Strauß von Briefen enthält neben unerwünschter Werbung auch noch die eine oder andere Urlaubskarte von Kollegen, deren Arbeit man gerade miterledigen darf und die uns mit einem freundlichen Gruß aus sonnigen Gefilden aufzumuntern versuchen.
Ein großer Umschlag konnte sein Ziel nicht erreichen und liegt nun verlassen auf dem Tisch neben den leeren Postfächern. Soll sich doch ein anderer drum kümmern! 'Hannelore Hamburger' lese ich auf dem Adressaufkleber und sehe sie in diesem Augenblick, wie so oft, den Flur entlangkommen. Nein, diese Sendung kann nicht mehr zugestellt werden. Aber wer weiß das schon? Der Folienumschlag enthält einen Katalog zur Bestellung von Berufsbekleidung - Ärztekittel, Ärztesocken, alles was Ärzte und Klinikpersonal tragen, wird hier angeboten. Das ist doch nicht unser Metier! Aber Kollegin Hamburger war eine patente Person. Sie wusste, in welchen Schuhen man am bequemsten und gesündesten durch einen langen Arbeitstag kam. Da dachte sie branchenübergreifend. Sie hatte überhaupt etwas Verbindliches. Hatte sie eigentlich Familie? Auf jeden Fall hatte sie Betriebsfamilie und das zu einer Zeit, als die Familie noch stabil und intakt war und langfristige Bindung honoriert wurde. Hat die Enkelgeneration das noch kennen gelernt?
Was mach ich nur mit ihrer Post? Ich kann nicht 'verstorben' auf den Umschlag schreiben und ihn an den Absender zurückschicken. Das ist mir zu endgültig, und vielleicht kommt ja eines Tages noch mal ganz überraschend eine Sendung für Kollegin Hamburger, und dann sehe ich sie wieder für einen Augenblick vor mir, auf dem Weg zu unserem Postregal.

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