Das Kind saß unter dem Vogelbeerbaum vor dem Friedhofstor. In der Hand hielt es ein Sträußchen aus rasch welkendem Wiesenschaumkraut und leuchtend gelben Butterblumen. Es trug ein rotes Faltenröckchen, genäht aus der Fahne einer dunklen Vergangenheit, die man gerne vergessen hätte.
Das kleine Mädchen war als Flüchtling in das Dorf gekommen und die Kinder des Ortes hatten ihm gesagt, dass da unter dem Hügel beim Vogelbeerbaum ein Selbstmörder begraben läge. Obwohl ihm nach der Vorstellung der Menschen zur damaligen Zeit kein Grab in geweihter Erde zustand, hatte eine mitleidige Seele über dem Toten ein roh zusammengebundenes Kreuz aus Birkenstämmchen in die Erde gesteckt. Nach dem ersten schneereichen Winter stand es schräg, lehnte mehr am Stamm des Baumes als dass es sich selbst aufrecht halten konnte.
"Das war einer aus dem Osten", hatten die Dorfkinder gesagt. "Der hat sich selbst aufgehängt."
Während die Dörfler das Grab mieden, den Blick abwandten, wenn sie in den Friedhof hineingingen, verbrachte die kleine Sophie viele Stunden auf dem grasigen Erdhügel unter dem Vogelbeerbaum. Sie brachte dem von den engstirnigen Einwohnern Geschmähten, dem Verachteten und dem von der Kirche Verstoßenen ihre kleinen Blumensträuße.
"He du, verschwinde da."
Die dicke Henna, die jeden Tag auf den Friedhof ging, um nach dem Rechten zu sehen, wie sie sagte, zerrte das Mädchen von dem windschiefen Kreuz weg.
"Der da braucht deine Blumen nicht."
Sie packte das Sträußchen und schleuderte es in den nahen Wald. Die Blüten fielen dorthin, wo der Mann aus dem Osten gestorben war. Mit herrischem Blick und harter Hand öffnete die Henna das Tor und eilte hinein in den Friedhof. Dort aber neigte sie in demonstrativer Ehrfurcht und Trauer den Kopf, verlangsamte ihre Schritte. Sophie roch die Ärmlichkeit des Dorfes, die aus den üppigen Unterröcken der Alten hervorwehte. Roch den Ziegenstall, den Hühnermist, roch den Kohl und den Mief der altersschwachen, ungelüfteten Häuser.
Das Kind blieb vor dem Tor stehen, blickte der Henna hinterher, die zwischen den Reihen der Gräber hin und her ging und sah, wie sie verwelkte Blüten abzupfte, eine Kerze entzündete, mit einem Lappen den Marmor ihres Familiengrabes polierte, Gebete murmelte.
Sophie war vertraut mit Tod und Toten. Sie hatte den Krieg überlebt. War zusammen mit ihrer Mutter in einer gigantischen Bugwelle von fliehenden Menschen nach Westen gespült worden, als die Rote Armee wie ein Schlachtschiff auf hoher See herangepflügt war. Sophie hatte es erlebt, wie getötet wurde, doch Sophie hatte nicht gewusst, dass es Menschen gab, die sich selbst das Leben nahmen.
"Selbstmord ist eine Todsünde", sagte man im Dorf. Man sagte es als Dogma. Unumstößlich.
"Selbstmörder kommen in die Hölle!"
Sophie dachte sich den Selbstmörder vor dem Friedhofstor keineswegs in den höllischen Flammen. Sie sah ihn wie einen Lebenden, einen Mann, der ohne Sarg dalag. In einem blauen Arbeitsanzug mit braunen Schnürschuhen und Löchern in den Sohlen. Schlafend in der Erde unter seinem Holzkreuz neben dem Vogelbeerbaum.
Die Dorfkinder hatten ihr erzählt, dass man ihn am Waldweg hängen sah, als in der Früh die Männer zur Fabrik gegangen waren. Man wusste nicht wer er war. Hatte ihn nicht gekannt. Man sagte nur, er sei aus dem Osten.
Wie mochte er hierher gekommen sein? Wie in einem blauen Arbeitsanzug und mit Löchern in den Schuhen? Ein bartloser Mann unbestimmten Alters, nicht groß, mager und mit gescheiteltem Haar. Seine Augen hatten das durchsichtige Blau eines Morgenhimmels. So dachte Sophie müsse er ausgesehen haben. Wer weiß, vielleicht hatten ihn die Dorfkinder so beschrieben. Nie jedoch sprach man darüber, was ihn hierher verschlagen hatte und weshalb ihm sein Leben zur Last geworden war. Man hatte ihn vor dem Friedhofstor begraben, hatte ihm nicht die geweihte Erde, nicht den Segen der Kirche gegönnt. Hatte ihn verbuddelt wie einen toten Hund.
In der kindlichen Vorstellungswelt Sophies waren die Toten unter ihren Grabmälern, unter steinernen Madonnen und trauernden Engeln, unter den Beeten aus Stiefmütterchen und Augen Gottes nicht wirklich tot. Nicht zerfallen zu Erde, wie ihre Großmutter gesagt hatte. Die Verstorbenen wussten sehr wohl, wer neben ihnen lag. Konnten gar sehen, ob am Grab eine Kerze brannte, hören, ob ein Gebet gesprochen wurde. Sie wohnten in der Erde friedlich nebeneinander, selbst dann, wenn sie im Leben verfeindet gewesen oder sich gar nicht gekannt hatten.
Sophie liebte diese Welt des Friedens. Sicher hätten die Toten nichts dagegen, läge der Selbstmörder neben ihnen.
Der Friedhof war Sophies Reich geworden, als sie mit ihrer Mutter in das Dorf gekommen war. Über die Toten und deren Welt fand sie sich hinein in das Leben der Bewohner, der Kleinbauern und Taglöhner, der Fabrikarbeiter. Sie lernte zuerst die kennen, deren Namen in goldenen Buchstaben auf den Grabsteinen standen. Die hier ruhten in Gott. Den ewigen Frieden gefunden hatten. Allzu früh von uns gegangen waren.
Mit allen sprach sie. Nur nicht mit denen, die kamen um die Blumen über ihnen zu begießen. Die im Herbst Erika pflanzten und im Frühjahr Stiefmütterchen. Die rasche Gebete über die Gräber hin sprachen und dabei den Blick abschätzig über das Grab des Nachbarn schweifen ließen. Stumm sah Sophie ihnen zu. War sie des Schauens müde, zog es sie wieder hin zum Grab des Selbstmörders. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, ja geliebt, nicht nur geduldet.
Und wie sie eines Tages in der warmen Mittagssonne bei dem Grab saß und mit dem Mann aus dem Osten lautlos Zwiesprache hielt, da übermannte sie die Müdigkeit. Wie ein verirrtes Kätzchen rollte sie sich auf dem Grab zusammen und schlief ein. Und sie träumte und sie sah im Traum einen Engel vorübergehen. Und dem Engel folgte ein Mann in einem blauen Arbeitsanzug und mit braunen Schuhen an den Füßen. Und sie gingen über Wiesen und Felder und Hügel, vorbei an kleinen Baumgruppen. Eine ruhige Landschaft. Der vertraute Anblick ihrer Heimat. Der Mann aber trug die Gesichtszüge ihres im Krieg verschollenen Vaters.
Sie hob die Arme, griff mit den Hände nach ihnen, wollte sie aufhalten ...
Mit einem Fußtritt weckte die Henna das schlafende Kind, kostete mit ihrem Tritt einen schalen Abklatsch von Macht aus.
"Was treibst du schon wieder da?! Hier hast du nichts verloren!"
Verwirrt blickte Sophie um sich. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und voller Erde. Sie hatte im Schlaf in den weichen Boden gegriffen.
"Ein Engel war da", stotterte sie. "Er hat den Mann in den Himmel geholt."
"Du bist wohl verrückt geworden?", schrie die Henna sie an und voller Hass stieß sie hervor: "Das ist der Fluch des Selbstmörders."
Sophie brach in Tränen aus. Und doch blieb ihr ein Rest ihrer Freude. Der Engel hatte den Selbstmörder, der wie ihr Vater aussah, in den Himmel geführt. Warum die Henna das nicht verstand? Warum sie sich nicht ebenfalls freute?
Die aber wendete sich mit bösem Gelächter ab und schlurfte kopfschüttelnd ins Dorf hinein. Diese Flüchtlinge! Komisch waren sie. Sie passten nicht ins Dorf, waren so ganz anders als die Menschen hier.
Sophie setzte sich neben das Grab und schluchzte leise. Lange blickte sie auf das windschiefe Kreuz, auf das verwilderte Grab ohne Blumenschmuck. Dann flüsterte sie fragend: "Papa"?
Einundzwanzig Geschichten über das Zusammenleben von Mensch und Tier. Mit Humor und einem Augenzwinkern erzählt die Autorin vom alltäglichen, gelegentlich skurrilen Miteinander und Gegeneinander von allerlei Getier und den Menschen. Geschichten für Tierfreunde und für alle, die es noch werden wollen.