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Im Seniorencamp

© Silke Westen


Die drei Alten hockten eng zusammen in der am wenigsten zugigen Ecke der Betonbaracke. Das Bedürfnis nach Körperkontakt nimmt im Alter nicht zu, aber menschliche Nähe wärmt. Maria teilte ihre Decke mit Magda. Kathrin gehörte zu den Leuten, die angeblich nie frieren.
Es gab auch eine größere, mit einem Wärmemodul ausgestattete Gemeinschaftsbaracke, die Central Station, aber da flackerte und tönte ununterbrochen das Seniorenprogramm. Der Großbildschirm an der Stirnwand war von der PIFSAMAAUAA (Private Initiative Für Sozialen Ausgleich Mit Armen Alten Und Anders Artigen) gespendet und in einem von mehreren Kanälen übertragenen Festakt an den Camp-Controller übergeben worden. Es hatte sogar Kaffee und Kekse gegeben, aber bis zur fertigen Montage waren dann doch noch drei Monate ins Land gegangen. Der kleine Hartmut, der sich wie ein Kind gefreut hatte ("Endlich wieder Fernsehen!"), war darüber gestorben. Die meisten hatten ehrlich um ihn getrauert. Wieder ein Mann weniger! Der Frauenüberschuss im Camp war auffallend. Frau Dr. Weiss - sie bestand auf diesem Titel- , die sich vor dreißig Jahren als Telefonistin für ein Wirtschaftsforschungsinstitut ein wenig mit Statistik befasst hatte, wusste dafür eine Erklärung: Das läge nicht nur an der biologisch bedingten höheren Lebenserwartung von Frauen, sondern auch an deren geringeren Einzahlungen zur Rentenversicherung und längeren Ausfallzeiten. Im Camp endeten nur die schlecht Versicherten. "Das sind die Frauen selber schuld", hatte der Camp-Controller gesagt. "Sie haben zu wenige Kinder gekriegt. Kinder sind unsere Zukunft!"
Ivonne Meininger (der Vorname war vor 65 Jahren Mode gewesen), die mit 46 anlässlich einer betrieblichen Umstrukturierung ihren letzten Job verloren hatte, dachte an ihre zwei Kinder, die mangels Lehrstellen und Markenkleidung keine Ausbildung erhalten hatten. Sie selbst hatte es immerhin auf drei verschiedene Berufsausbildungen gebracht, wenn auch mit geringer Halbwertszeit. Sie versuchte sich an einem erbitterten Lächeln, es wurde aber eher ein zahnloses Grinsen. Ihre Tochter besuchte sie gelegentlich im Camp und brachte manchmal ein wenig Obst mit. Bananen waren das Höchste, aber nahezu unerschwinglich. Äpfel konnte man reiben, man musste nur die Reibe in der Camp-Kantine finden.
Äpfel und andere Kostbarkeiten trug man am besten in einer Plastiktüte mit sich herum. Auf die Ehrlichkeit der anderen Camp-Bewohner war kein 100%iger Verlass. Seit die bei den wöchentlichen obligaten Meetings in der Central Station - das Seniorenprogramm wurde bei diesen Gelegenheiten durch das stehende Bild einer geblendeten Göttin ersetzt - vom Controller-Gremium verhängten Strafen aber drastisch verschärft worden waren, hatte sich die Disziplin im Camp erfreulich verbessert. Einige Bewohner hatten die Funktion von Controlling Assistants übernommen. Sie erhielten dafür, so wurde gemunkelt, eine Sonderration Schokolade. Von den meisten wurden sie gemieden. Man erkannte sie an ihrer Ähnlichkeit mit Figuren auf alten Wahlplakaten: stechender Blick und joviales Grinsen (etwa auch Zahnersatz?!).
Die Camp-Bewohner waren größtenteils Angehörige einer unpolitischen Generation, die sich vor allem durch kollektiven Individualismus ausgezeichnet hatte, aber als die Camp-Verwaltung über dem Eingangstor den Spruch "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" anbringen ließ, hatte es hitzige Diskussionen gegeben. Einige Insassen fanden, dieser Spruch beleidige ihre Würde, aber die Kontrollbehörden hielten ihn für pädagogisch unerlässlich zur Belehrung von Schulklassen, die gelegentlich zur Besichtigung herangefahren wurden. Die tumultartigen Unruhen wurden im Übrigen schnell niedergeschlagen. Stefan Mertens, der ewige Nörgler und Nachkarter, murrte noch: "Da hätten sie auch gleich schreiben können: Arbeit macht frei." "Wieso Arbeit?", fragte Martina Lehmann erstaunt, "wir sind doch Rentner." Sie war nie gut in Geschichte gewesen.
Arbeit wurde nicht ernstlich vermisst; die meisten hatten schon lange vor ihrer Einlieferung ins Camp keinen Arbeitsplatz mehr gehabt. Für manche hatte sich hier sogar die Ernährungslage gebessert. Am frühen Abend wurde von der Heilsarmee ein riesiger Kessel mit einer durchaus nahrhaften Suppe herangeschafft, die dann in der Kantine verteilt wurde, morgens gab es eine Art Porridge. Einige Bewohner beschwerten sich gelegentlich (leise) darüber, dass sie vor der Essensausgabe fromme Lieder absingen mussten, aber die meisten empfanden das als willkommene Abwechslung. Es hatte sich sogar eine kleine Chorgemeinschaft gebildet, die freiwillig neue Choräle einübte. Ansonsten stand zur Freizeitgestaltung vor allem das Seniorenprogramm zur Verfügung.
Das Seniorenprogramm war an die Bedürfnisse und Interessen älterer Menschen angepasst. Meist wechselten Volksliedervorträge vor nicht näher identifizierbarem idyllischem Hintergrund ab mit alten amerikanischen Filmen. Die zwanzigste Wiederholung von "Star Trek" war ein voller Erfolg gewesen. Es wurden einmal täglich ausgewählte Nachrichten gebracht, die der Erhaltung des Seelenfriedens älterer Mitbürger nicht abträglich erschienen. Aus disziplinarischen Gründen ließ man aber gelegentlich auch eine Meldung über eine Demonstration der Maxage-Initiative durchkommen, die sich wegen der hohen Abgabenbelastung für eine Herabsetzung des Höchstalters auf 70 Jahre einsetzte. Therese Berger, mit 73 Jahren die Älteste im Camp, irrte dann tagelang mit verstörtem Blick umher. Bei der letzten monatlichen Visite des HCC (Hygienic Control Commitee) hatte sie sich sogar im Bücher-Bunker hinter einem hohen Stapel aus alten National Geographic-Heften verkrochen. Maria hatte sie am nächsten Tag mit begütigendem Zureden aus ihrem Versteck gelockt. "Jetzt hast du wieder deine Aspirin-Ration verpasst! Die wollen doch nur unser Bestes! Sie haben sogar versprochen, sich für eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Latrinen einzusetzen."
Manche der Camp-Bewohner hatten am Seniorenprogramm keinen rechten Spaß. Sie fühlten sich von der Wirklichkeit abgeschnitten und meinten, das Programm wäre manipuliert und solle sie vor allem ruhigstellen. Einige Verwegene hatten sogar heimlich erwogen, einen Antrag auf ein zweites Programm zu stellen, aber das hätte als Aufmüpfigkeit und unangemessenes Anspruchsdenken ausgelegt werden können und damit musste man vorsichtig sein. Wer im Camp lebte, war auf Gutmütigkeit angewiesen.
Es gab aber eine Alternative zum Seniorenprogramm. Bewohner mit gut erhaltenem Sehvermögen konnten jederzeit auf das Angebot des Bücher-Bunkers zugreifen. Weniger Glückliche mussten sich auf eine Warteliste für eine der raren Lesebrillen (Spende eines größeren Optik-Konzerns) setzen. "Bücher-Bunker" war die heimliche Bezeichnung, die sich bei den Lesern unter den Bewohnern durchgesetzt hatte, offiziell hieß die Baracke, in der an allen Wänden alte Bücher und Zeitschriften gestapelt waren, "Literature Center". Die Bücher, die bei dieser Lagerung schnell einen Modergeruch, zuweilen auch Schimmel ansetzten, kamen vor allem aus ausgesonderten Altbeständen städtischer Bibliotheken oder Haushaltsauflösungen, manchmal auch aus Nachlässen. Einige der ältesten Bewohner hatten es geschafft, ein paar von ihren eigenen Lieblingsbüchern mit ins Camp zu schmuggeln und hüteten sie wie einen Schatz. Inzwischen waren die Inventarkontrollen bei Haushaltsauflösungen aber so streng geregelt, dass für derlei illegale Aktivitäten keine Chance mehr bestand. Einzelne Gegenstände aus dem Privatbesitz von Unterversicherten erbrachten bei Auktionen zuweilen erstaunlich hohe Preise, wahrscheinlich bei Sammlern. Der Erlös floss in den Verwaltungsfont des jeweiligen Seniorencamps.
Maria schreckte auf und wickelte sich enger in ihre Decke, als die Tür der Baracke aufging und Werner Schulz eintrat, ohne Klopfen, wie üblich. Werner war bei einer dieser Wenden oder Nullstunden im letzten Jahrhundert aus dem Osten gekommen und sprach immer noch einen seltsamen Dialekt, aber das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr. Er hielt ein dünnes Heftchen in der Hand und lachte: "Mädels, das müsst ihr mal lesen, wenn ihr an eine Lesebrille kommt. Mit dem Kursbuch zur Central Station, schön! Etwa fünfzig Jahre alt, muss doch aus eurer Jugend im wilden Westen sein."
Maria runzelte die Stirn. "Ich glaube, da habe ich schon mal reingeguckt. Da stehen so altmodische Parolen von Freiheit, Gerechtigkeit und Sozialismus drin. Na, das musst du ja am besten wissen, dass das mit dem Sozialismus wohl nichts war. Aber das waren edle Menschen, und so entschlossen! Wie Robin Hood oder Winnetou oder ", sie überlegte, "wie Arnold Schwarzenegger. Wo sind sie nur alle hingekommen?"
"In den Himmel?", Werner grinste diabolisch, "oder nach Florida oder in ein anderes Paradies."
Die beiden anderen Frauen waren nun auch aus ihrem Dämmerzustand erwacht. Magda, klein, dürr und fast blind, öffnete den Mund. Sie hatte eine erstaunlich junge und volltönende Stimme, nur die Dentallaute kamen ziemlich undeutlich. "Am Anfang war die Erde wüst und leer. Sie war ganz mit Steinen bedeckt. Aus einigen Steinen, die auf fruchtbaren Grund gefallen waren, keimten die Großväter."
"Märchentante", murmelte Werner, hörte aber weiter fasziniert zu.
"Sie krempelten die Ärmel hoch und klopften die Steine. Sie klopften und klopften. Dann bauten sie mit den Steinen das Land auf. Sie bauten Einfamilienhäuser, Zweifamilienhäuser, Mietshäuser, Hochhäuser, Rathäuser und Krankenhäuser. Sie bauten Fabriken und Autobahnen und Flughäfen. Sie bauten und bauten. Dann fuhren sie nach Italien und kriegten viele Kinder. Dann bauten sie den Hobbykeller aus. Dann ruhten sie und betrachteten ihr Werk und sahen, dass es gut war. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch."
"Eine schöne Geschichte", meinte Werner anerkennend, " klingt aber ein bisschen nach Mythologie, griechisch oder jüdisch, wenn ich nicht irre."
Magda war beleidigt. Sie glaubte immer, was sie sagte. Aber sie erzählte weiter: "Dann kamen die großen Brüder."
"Wo bleiben denn die Väter?" fragte Werner.
"Väter gab es nicht", fiel jetzt Kathrin ein, "das war eine vaterlose Gesellschaft."
Magda fuhr fort: "68 sollen es gewesen sein. Sie sagten, die Großväter hätten gelogen. Sie wären gar nicht aus dem Boden gewachsen, sondern schon vorher da gewesen. Sie hätten alles kaputt gemacht und die Steine über dem Land verstreut. Da bekamen die Großväter Angst. Sie schenkten den großen Brüdern Häuser und Autos und Karrieren, damit sie nicht mehr so böse Sachen sagen sollten. Die großen Brüder nahmen die Häuser, die Autos und die Karrieren und meinten, es wäre alles eine Frage der Erziehung. Dann gingen sie in Frühpension. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch."
"Mach sie nicht schlechter, als sie sind", sagte Kathrin.
Magda hob verständnislos ihre halbblinden Augen. Sie glaubte immer, was sie sagte.
"Sie haben sich Mühe gegeben", fuhr Kathrin fort. "Sie haben etwas geleistet. Sie glaubten an Wachstum und Fortschritt. Wir an ihrer Stelle wären nicht besser gewesen. Wir sind mit ihnen verwandt".
Maria schüttelte sich und senkte dann ergeben den Kopf. "Wir waren gar keine richtige Generation. Kein Krieg, keine revolutionäre Bewegung. Irgendwie verweichlicht und zerstreut."
Kathrin nickte: "Wir waren wohl vor allem eins: geburtenstark."
Werner dozierte: "In der Steinzeit wurden die Menschen höchstens dreißig Jahre alt. Und noch im 19. Jahrhundert starben die meisten an Hunger, Tuberkulose oder Grippe, ehe sie Fünfzig wurden."
"Und in Japan wurden die Häuser früher auch nicht geheizt", wusste Kathrin.
"Aber die Häuser waren aus Holz." Marias Augen leuchteten sehnsüchtig, als sie die feuchte Betonwand betastete. "Ach, die beiden Generationen vor uns haben es schon besser getroffen."
"Ja", antwortete Kathrin, "aber sie mussten so viel lügen."

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