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Annikas Erkenntnis

© Michael Maschek


Große Verwunderung verbreitete sich unter den Einwohnern. Lautes surren, strahlend blauer Himmel - vielleicht ein Zeichen Gottes? Ja, bestimmt ein Zeichen Gottes!
Annika war ein junges Mädchen das, obwohl - oder vielleicht gerade deswegen - es noch sehr klein war, große Neugier in sich hatte. Annikas Vater stammte aus dem fernen Osten und ist gerade auf einer Geschäftsreise in Japan, die bereits zwei Jahre andauerte. Das erzählte jedenfalls ihre Mutter, wenn ihre teure Tochter Verlangen nach ihrem Vater zeigte. Eines Tages fragte Annika ihre Mutter: "Du Mutti, was ist eigentlich ein Wunder?" Nach kurzem Überlegen antwortete sie: "Man weiß, dass ein Wunder geschehen ist, wenn etwas ganz Großes passiert. Es muss wirklich unfassbar riesig sein." Damit war Annika zunächst zufrieden, und als sie am Abend von ihrer Freundin Vanessa, die im Nachbarhaus wohnte, heimkehrte, erzählte sie Mutti, sowie fast jeden Tag, was sie neues erfahren hatte. Vanessas Mutter hatte ihr aus der Zeitung einen Artikel vorgelesen, in dem berichtet wurde, dass ein dem Bethlehems Stern ähnlicher Himmelskörper entdeckt wurde. "Das ist ein Wunder, stimmt's?" fragte Annika. "Aber Schatz, das ist doch kein Wunder! Das ist doch nur ein kleiner Stern." Diese Aussage beschäftige Annika sehr, denn, wenn der riesige Stern kein Wunder war, was dann? Als sie am nächsten Nachmittag wieder zu Vanessa kam, empfing sie dessen Mutter mit fröhlichem Gesicht: "Hast du's schon gehört?", fragte sie mit fast überschlagender Stimme. "Der Hunger in Ecuador ist erfolgreich bekämpft worden!" Den ganzen Tag über sprachen die beiden Mädchen noch über dieses Thema. Und als Annika abends ihrer Mutter davon berichtete, war diese beinahe etwas empört: "Wo soll da bitte ein Wunder sein? So klein bist du auch wieder nicht, dass du dir einbilden darfst, dass der Sieg über den Hunger etwas unfassbar Großes ist!" Wenn das kein Wunder ist, was dann? fragte sich Annika. Am nächsten Morgen begann ein ganz besonderer Morgen für das Mädchen: der 7. September 1945 war nämlich ihr 8. Geburtstag. Trotz dessen durfte sie heute nicht ihre Freundin besuchen, da ihre Mutter diesen Tag gerne mit der Familie feiern wollte. So kam es, dass sie den ganzen Tag über nicht dazu kam, darüber nachzudenken, was denn ein Wunder sei. Ihre Großeltern, Tanten, Cousins, ja sogar die Großtanten waren alle gekommen, um ihr zu gratulieren, Geschenke zu überreichen und Annika Witze zu erzählen. Kurzum, es war ein wunderschöner Geburtstag gewesen.
Der nächste Tag verlief so wie immer: Vormittags war das mittlerweile schon relativ große Mädchen in der Schule und am Nachmittag besuchte sie wie gewohnt ihre Freundin aus dem Nachbarhaus. Auch diesmal erfuhr sie wieder allerlei aus den Zeitungsartikeln, die Vanessas Mutter vorlas. Als Annika abends nach Hause ging, empfing sie ihre Mutter mit sehr trauriger Miene und feuchten Augen, in denen sich das Bild ihres Ehemannes spiegelte. Ihre Tochter aber war überglücklich und sagte zu Mutti: "Endlich weiß ich, was ein Wunder ist! Heute ist ein riesengroßes Wunder geschehen."
Die Verwunderung hatte sich in Angst gewandelt. Kein Surren mehr, der Himmel schwarz und unerträgliche Stille.

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