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Kurzgeschichte Alltag Kurzprosa Geschichte Erzählung short story

Herbstzeitlos

© W. Brenner


Annabell saß in ihrem breiten, mit blauem Kunstleder überzogenen Stuhl und maß die Zeit.
Ihr Enkel hatte einmal gemeint, dass man nur die Batterie wechseln müsse, als die Uhr aufgehört hatte zu schlagen, doch dafür gab es keinen Grund. Sie wusste, wann das Licht welche Stelle des Raumes füllen würde, lange bevor der Tag zu Ende ging. Und Annabelle hatte gelernt, die Zeit vernünftig einzuteilen, nicht mehr in Minuten oder Stunden. Hier, in ihrem Wohnzimmer, wurde in Karos gerechnet. Rote und schwarze. Abwechselnd. Unveränderlich. Und praktisch.
An diesem späten Nachmittag würde es noch eines sein, über das sich langsam der Schatten schob, bis die Sonne den Raum endgültig verließ. In diesem Moment schloss Annabelle dann stets die Augen, fühlte, wie das letzte Licht ihr Gesicht berührte, um sie schließlich in der Dämmerung zurückzulassen. Was blieb war Stille. Denn im Unterschied zu all den Stand- und Hängeuhren, die Annabelle jemals in ihrem Leben besessen hatte, floss die Zeit mithilfe des Karomusters lautlos durch ihr Empfinden. Kein Ticken, Klicken, Pendeln oder Läuten gab ihr zu verstehen, dass wieder ein Tag ihres Lebens vergangen war, den sie in dem breiten, mit blauem Kunstleder überzogenen Massagestuhl für alte Leute verbracht hatte. Unermüdlich bewegte sich das Licht stattdessen durch den Raum, brachte Farben mit sich, malte Formen an die Wände, spielte mit den Schatten.
Wozu also eine Uhr besitzen. Annabelle hatte ihren Stuhl in der Mitte des Zimmers so ausgerichtet, dass sie stets im Zentrum des Geschehens war und das Sonnenlicht sie umrunden konnte. Die Vorstellung, selbst Zeiger eines großen Uhrwerks zu sein, amüsierte sie. Und tatsächlich war es ihr Schatten, der über die Karos kroch, rote wie schwarze, farblich so abgestimmt, wie es damals eben modern gewesen war, als ihr Mann den Teppich aussuchte.
Kein träger Stundenzeiger. Keine Minuten, die man gezwungen war endlos zu zählen. Sie wusste es auch so. Zeit, das Wasser für den Tee aufzusetzen, das Porzellan aus dem Schrank zu holen und den Tisch zu decken. Michel war auf dem Weg. So wie jeden Samstag kam er auch heute seine Großmutter besuchen, brachte Kuchen und einen kurzen Ausschnitt modernen Lebens mit, den sie mit Früchtetee und etwas Puderzucker genoss. Dieser Besuch bereitete ihr Freude und Unbehagen, ließ sie lebendig werden, trug aber auch die bösartige Offenbarung des Alleine seins in sich, sobald Michel sich verabschiedete. Denn wenn die Türe hinter dem jungen Mann erst ins Schloss gefallen war, schwoll die Stille bis zur Unerträglichkeit an und Annabelle fühlte sich in den dunklen, einsamen Räumen beobachtet. In solchen Nächten kroch die Angst in ihr hoch, vom Leben abgeschnitten zu werden, die panische Angst erfüllte sie, vor einem Besuch der fremden Kinder.
So sehr sie sich auch bemühte, Annabelle konnte ihren Blick nicht von dieser Frau abwenden, die hier nun seelenruhig ihren Kuchen aß. Heimlich betrachtete sie Zoe, voll Unverständnis und - Annabelle musste es zugeben - auch fasziniert von dieser merkwürdigen Erscheinung.
Das es eine Verschwendung von Jugend sei, resümierte sie schließlich, so wie dieses Mädchen sich gab. Annabelles Hände, das Alter hatte sie modelliert, rau und fleckig werden lassen, hatten Mühe die Gabel zu halten.
War da etwa Neid?
Sie hatte Erfahrung im Vergeuden von Leben und es gab Momente da überfiel Annabelle eine qualvolle Gier nach Zeit, die sich nicht stillen ließ.
Zoe hielt die Gabel elegant zwischen den langen, schlanken Fingern, führte sie bedächtig an den Mund, ohne das lästige Zittern, ohne Schmerzen in den Gelenken zu verspüren.
Oder lag der Grund für Annabelles Abneigung einfach in dieser Freiheit, die Zoe so selbstverständlich für sich beanspruchte und von der Annabelle niemals gewagt hatte zu kosten. Dieses Mädchen nahm sich die Freiheit das Leben abzulehnen, während Annabelle danach suchte. Zoe tauchte alles in schwarz, ihr Haar, ihr Kleid, sogar ihre Fingernägel und den Lippenstift, während Annabelle zunehmend Angst vor der Dunkelheit bekam.
Sie aß ihren Kuchen, verfolgte das Gespräch zwischen Annabelle und Michel, lächelte gekünstelt und sagte nichts. Warum Michel sie mitgenommen hatte fragte sich Annabelle, die schon seit langer Zeit keine Besuche mehr empfing und sich durch die Anwesenheit dieses Fremdkörpers unwohl fühlte.
Unwillkürlich musste Annabelle an den Kastanienbaum vor dem Haus denken, den sie so liebte und der gerade jetzt in voller Farbenpracht stand. So blass und dünn wirkte dieses Mädchen in schwarz, dass Annabelle es sich schließlich eingestehen musste:
Da war tatsächlich Neid. Denn Zoe besaß den Mut ihr Leben an hässliche Kleider und schwarze Schminke zu verschwenden. Annabelle hingegen hatte niemals genügend Mut aufgebracht ihres zu nutzen.
*
"Es wäre das beste, du nimmst Mama zu dir", hatte Helene damals gesagt, während sie nach dem Leichenschmaus zusammen die Teller wuschen.
"Jetzt, wo der Rudi nicht mehr ist."
Helene trocknete das Besteck ab.
Annabelle sah die gepflegten, dunkelrot lackierten Fingernägel ihrer Schwester, den funkelnden Ring, die Armreifen.
"Dann habt ihr beide Ansprache."
Es gab keinen Geschirrspüler in dieser Küche. Nur einen versoffenen Ehemann, den Annabelle knapp eine Woche zuvor an dem kleinen Tisch neben dem Gewürzregal gefunden hatte, schon erkaltet.
Mit großer Sorgfalt ordnete Helene das Besteck in der Lade, dann legte sie ihren, nach Parfum duftenden, Arm um Annabelles Schulter und flüsterte leise:
"Es tut mir leid um deinen Rudi. Mein Beileid, Belli, mein tiefstes Beileid."
In dieser Nacht hatte Annabelle seit beinah fünfunddreißig Jahren das erste mal keine Ansprache. Da war kein Rudi mehr, der ihr Anweisungen für den nächsten Tag hinwarf und auch Helene war wieder abgereist. In dieser Nacht hörte sie nur das Rauschen des Kastanienbaumes vor ihrem Fenster und das Ticken der Uhr an der Wand. Es dauerte lange, bis Annabelle Arme und Beine unter der Decke ausstreckte und begann, mit größter Vorsicht das alleine sein zu ergründen. Wie weit sie wohl gehen konnte, wollte sie wissen, bis der Schmerz kam.
Über die Jahre hatte Annabelles Ehemann ihre Zukunft in schlichte Erinnerungen verwandelt, denen sie jetzt schutzlos ausgeliefert war. Es hatte Pläne gegeben, die sie gegen Liebe getauscht hatte, sie trug das weiße Kleid vor dem Altar mit Stolz und ihr wurde rasch beigebracht zu gehorchen. Stets verbot sie sich zu bereuen, weil Glück erlernbar war, irgendwann.
Verbissen putzte sie nun die Fenster und wischte den Boden, nahm die Vorhänge ab und saugte Staub, gründlicher als je zuvor. Als das Bett überzogen und der Tisch poliert war, hatte Annabelle endlich die Gewissheit, dass sie nichts anderes in ihrem Leben leisten könne, als ein schmutziges Zimmer in ein sauberes zu verwandeln. Für jemanden zu sorgen, darin hatte sie Übung. Jetzt aber gab es niemanden mehr der hinter ihr stand, die große Maschinerie des Lebens in Bewegung hielt, ihr Aufgaben zuwies und sie forderte. Sie kochte nur noch für sich selbst, kaufte nur ein was sie brauchte und musste mit Verbitterung feststellen, dass es keine Gewohnheiten gab, keine Wünsche, die nur Annabelle gehörten. Mit ihrem Mann war auch ein Teil ihres Lebens zu Grunde gegangen und sie fühlte sich hilflos. Annabelle hatte die Freiheit bekommen, ihre Bestimmung aber verloren.
"Mama kann kommen", sagte sie knapp zu Helene, noch bevor das Wasser für den Frühstückstee kochte. Dann legte sie den Hörer auf.
In den ersten Jahren war durch das bisschen Arbeit eine Balance entstanden, Annabelle putzte in den Häusern anderer Leute während die Mutter den Haushalt führte. Sie hatte alles von ihrer Mutter gelernt, das Kochen, das Waschen, all die kleinen Geheimnisse der Hausmädchen und Annabelle wusste, wie man ein Zimmer zum glänzen brachte.
"Schneiderin kannst du später noch werden", hatte Annabelle ihre Mutter damals sagen hören und gehorsam Nadel und Faden zur Seite gelegt. Irgendwann hatte der große Krieg ein Ende gefunden und man holte Annabelle um aufzuräumen.
"Schneiderin bin ich nie geworden", wollte Annabelle der gebrechlichen Frau nun so viele Jahre später antworten, doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Vergesslich wurde die Mutter und eigenwillig, Trotz keimte mit dem zunehmenden Verfall auf, der zuweilen in Bösartigkeit umschlug.
Diesen Hass, der in ihrer Mutter loderte, Annabelle konnte ihn fühlen, denn er war aus Verzweiflung geboren. Niemals umschlang die Krankheit die alte Frau vollkommen, bis zum Ende musste Annabelle Zeugin grausamer Momente voll Glückseligkeit werden, gerade lange genug um zu verstehen, dass es kein Glück gab.
Nein, Schneiderin war sie nie geworden.
Knapp ein Jahr bevor der Tod kam, tönten die ersten Schreie durch die Nacht. Langgezogene, quälende Schreie, ähnlich einer Frau die in den Wehen liegt, ließen Annabelle aufschrecken. Weinerlich drang ein Winseln durch den Korridor, das Wispern einer alten, rauen Stimme erfüllte die Dunkelheit mit boshaftem Leben. Als Annabelle die Türe öffnete und das Licht aufflammte war das Bett leer, die Decke zu Boden geworfen. Neben dem Schrank hatte sich die Mutter versteckt und starrte Annabelle mit weit aufgerissenen, leblosen Augen an. Das graue Haar wand sich in wirren Strähnen über den schmalen Schädel, der Mund hatte sich zu einer Grimasse verformt. In ihrem verwaschenen Nachthemd wirkte die Mutter wie ein Gespenst, das nicht Zukunft, nicht Vergangenheit kannte und schlimmer noch, auch keine Gegenwart besaß. Ohne Widerstand ließ sich die alte Frau zurück in das Licht führen, schmiegte sich sanft an Annabelle, die sie in den Arm nahm wie eine Tochter und wiegte, bist das angstvolle Zittern langsam nachließ.
"Schick die Kinder fort", sagte die Mutter leise, ohne die Augen zu öffnen, während Annabelle ein Schlaflied summte, das sie aus Kindertagen behalten hatte.
"Sie starren mich an."
In ihren letzten Lebensmonaten verstrickte sich die alte Frau tiefer in düstere Phantasien, wurde langsam von den eigenen Erinnerungen aufgefressen.
Oft erzählte sie verworren von den Kindern, die sich in der Dunkelheit vor ihrem Bett aufstellten um sie stundenlang bösartig zu betrachten und auszulachen. Helene meinte, dass es nun zu ende ginge, die Toten sie holen kommen würden und Annabelle erfüllte diese Vorstellung derart mit Schrecken, dass sie in mancher Nacht ihre Türe versperrte und die Mutter schreien ließ. Dann betete sie zu Gott, bat um Vergebung für ihre Schwäche und um einen raschen Tod, erflehte wieder Vergebung und jammerte das "Vater unser" so laut, dass sie das Rumoren und die quälenden Schreie nicht mehr zu hören brauchte.
An einem sonnigen Vormittag im Frühling schließlich starb die Mutter, leise und friedlich, die schmalen Lippen zu einem Lächeln geformt.
Zurück blieb nur die Furcht vor dem Tod, weil er näher kam und sein Gesicht gezeigt hatte. Der Mutter ähnlich zu werden, das wollte - nein das musste sie verhindern. Und doch horchte Annabelle immer öfter ängstlich in die Nacht, wartete auf das Kichern kleiner Gestalten in der Dunkelheit und verzweifelte an sich selbst.
Annabelle hatte eine Kerze entzündet und sie neben das Bild ihres Mannes auf die Kommode gestellt. Die kleine Flamme tanzte im Luftzug der schlecht isolierten Fenster und wenn man nur lange genug hin sah, so konnte man meinen, das hastige Spiel von Licht und Schatten gäbe dem ewig lächelnden Totengesicht ein wenig Leben zurück. In solchen Momenten sprach sie dann zu ihm, erzählte von den Ereignissen des Tages, von den Nachrichten, der Familie. Welche Farbe die Blumen auf seinem Grab nun hatten und von den Schmerzen in ihren Gelenken. Manchmal aber drehte Annabelle sein Bild auch der Wand zu, zwang ihn, stundenlang in eine dunkle Ecke zu starren, während sie zum Fenster ging. Sie genoss diesen Ausblick, mit all den Menschen, der Bewegung, dem Leben darin, weil er ihr alleine gehörte. Rudi hatte genug Leben besessen, seines und ihres und an manchen Tagen forderte er immer noch einen Anteil.
An diesem Nachmittag begann es das erste Mal zu schneien. Kleine, weiße Flocken trieb der Wind zusammen mit dem Regen durch die Gasse und riss die letzten, bunt gefärbten Blätter mit sich fort. Der Winter schob sich heran, tauchte die Szene vor Annabelles Fenster in schlichtes grau und überzog sie langsam mit Eis. Sie kannte dieses Spiel, wusste, dass die Menschen nun weniger wurden in den Strassen und die Fenster geschlossen blieben. Lärm sollte schon bald zum Luxus werden, zu dieser Jahreszeit. Lachende Kinder und wütende Schreie, Hundegebell, Liebesgeflüster - all das blieb nun verborgen hinter den Wänden der Häuser, in denen das Leben tobte.
Annabelle setzte sich in ihren blauen, mit Kunstleder überzogenen Sessel und vergaß die Zeit. Heute fanden die Schatten keine Beachtung, wie sie über die Karos krochen und langsam die Dämmerung brachten.
Heute führte der Schmerz ihre Hände, ließ sie zittern, sich aneinander reiben, ließ sie nutzlos werden und hässlich wie noch nie zuvor.
"Die Feuchtigkeit", dachte Annabelle, "das muss die Feuchtigkeit sein und die Kälte."
Jemand klopfte.
So heftig wie an diesem Tag hatte sie der Schmerz noch nie gequält.
Draußen stand Zoe.
Ahnungslos hatte Annabelle geöffnet, ohne nachzudenken, ohne erst durch den Spion zu sehen.
Das nasse Haar klebte an Hals und Schultern, in kleinen, grauen Tropfen lief die Schminke über Zoes Wangen herab, als würde sie dunkle Tränen weinen.
Die Türe zuschlagen? Michel anrufen?
Annabelle mochte sie nicht. Mochte, mochte, mochte sie nicht.
Und jetzt war sie da.
Mit einer Frage, einer Bitte vielmehr, bezüglich eines Projektes. Persönlich zwar aber vielleicht interessant für Annabelle - und ob sie gerne lesen würde.
Zoes Hand war ungewöhnlich warm und so sanft, dass Annabelle keine Schmerzen spürte, als sie die ihre reichen musste. Sie hatte etwas Kaltes zwischen ihren Fingern erwartet, etwas ohne Leben darin.
Tee?
Annabelle war gut erzogen, sie hatte gelernt höflich zu sein, auch gegenüber Menschen denen sie nichts abgewinnen konnte.
Tee also.
Annabelle las nicht. Ja, Illustrierte, von Zeit zu Zeit, wenn Michel sie mitbrachte, weil sie sich in den unzähligen Scheidungen, Seitensprüngen und Familientragödien diverser Prominenter bestätigt sah, dass Geld und Ruhm nicht glücklich machten. Beruhigend. Und befriedigend.
Aber Bücher?
"Red' lieber mit mir bevor du so einen Schmarrn liest", hatte Rudi gesagt, als sie eines Abends ein Buch aus der Kommode holte und es neben ihm im Bett aufschlug. Ein Roman von Liebe und Leid. Flaubert.
Interessiert hätte es Annabelle schon, das Schicksal dieser Madame Bovary. Aber näher als an diesem Abend kamen die beiden Frauen einander nicht, kaum eineinhalb Seiten Zeit, in denen Rudi misstrauisch seine Frau beäugte, bereit sie zurück zu holen, in seine Wirklichkeit, sobald dieser Ausdruck von ehrlichem Interesse in ihrem Gesicht erscheinen würde. Sie wusste um seine Eifersucht, konnte sie im Nacken fühlen und genoss seine Unsicherheit für einen kurzen Augenblick, bevor der Druck unerträglich zu werden drohte, bevor er sich ihr zuwenden und erklären würde, wie nutzlos es wäre dieses, oder jedes andere Buch zu lesen. Die Demütigung, es nach seinen Ausführungen schließlich weglegen zu müssen, wollte Annabelle sich ersparen. Also schloss sie das Buch rechtzeitig, drehte sich wortlos der Wand zu und begann nach dem Schlaf zu suchen, der oft über Stunden nicht kommen wollte. Manches mal dachte sie darüber nach, was eine Frau mit Namen Bovary wohl hätte erleben können, das es wert gewesen wäre, aufgeschrieben zu werden. Annabelle schlug das Buch nie wieder auf. Doch, dass es in ihrem Nachtkästchen lag, neben den Taschentüchern, der Hautcreme und einem kleinen Spiegel, dass es schlichtweg existent war, beruhigte sie. Denn Rudi würde es niemals öffnen. Sie wusste, dass er sich davor fürchtete.
Wie spricht man ihn aus, diesen Flaubert?
Er hatte Heidenangst zu ertrinken, zwischen den Zeilen. Annabelle hatte ihr Versteck gefunden.
Und jetzt saß da eine merkwürdige Person und wollte Annabelles Leben, das so unendlich langsam floss, selbst zu einem Buch machen. Was hatte sie nun aus ihrem Leben zu berichten, das es Wert gewesen wäre, aufgeschrieben zu werden?
"Sind sie froh, dass ihr Mann tot ist?"
In diesem Moment fiel Annabelles Blick auf den kleinen Tisch in der Küche, neben dem Gewürzregal. Darüber war ihr Rudi einst in der Nacht zusammen gesunken, halb sitzend, halb liegend, den Kopf in einer Bierlache, das Gesicht vom Alkoholrausch zu einem stupiden Grinsen geformt.
Hinauswerfen wollte sie Zoe für diese Unverschämtheit, doch weiter als bis zu dem kleinen Holztisch kam sie nicht. Annabelle erinnerte sich an die bläulichen Druckstellen, dort wo Rudis Gesicht auf der Tischplatte gelegen hatte, wohl die ganze Nacht. Und als der Notarzt nur noch den Tod feststellen konnte überkam sie neben all der Trauer und dem Schock ein derart starkes Gefühl von Hoffnung, dass sie sich an einem der Sanitäter festhalten musste, um nicht zu stürzen.
Sie erinnerte sich auch an diesen, schon an Irrsinn grenzenden Drang zu lachen, als Helene ihr nach dem Leichenschmaus damals das Beileid aussprach und sie tröstend in die Arme nahm.
Tröstend.
Annabelle hatte Haltung gezeigt, Ruhe bewahrt, ihren Mann trotz allem geliebt und sich ebenso gehasst. Bis jetzt.
Bis Zoe aufgetaucht war.
"Was willst du von mir", fragte Annabelle unerwartet ernst, voll Verunsicherung und doch bereit zu kämpfen, ihren Glauben an sich selbst zu wahren.
"Alles", antwortete Zoe ruhig und setzte sich an den Tisch neben dem Gewürzregal.
In der Wohnung der alten Dame gab es keine Uhr, das war Zoe schon am Tage zuvor aufgefallen. Und ein Mensch der keine Uhr besaß, war es wert, dass man über ihn schrieb, weil er defekt geworden war, in gewisser Weise still stand oder, wenn man genau hin hörte, sogar rückwärts lief. Die Worte solcher Menschen bewegten sich stets in der Vergangenheitsform und hatten die Eigenschaft, nicht gehört zu werden, denn der Rest der Welt drehte sich in die entgegengesetzte Richtung.
Zoe zog einen altmodischen, dunkelgrünen Füller aus der Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch, ungefähr dort wo sich einst die Bierlache aus Rudis Mund ergossen hatte.
Früh hatte sie gelernt Erinnerungen zu fangen, als ob es bunte Schmetterlinge wären, jeder einzelne vom Vergessen bedroht, seit dem Tage seiner Geburt. Zoe erbeutete sie, ganz offiziell, zuhörend, oder heimlich lauschend, konservierte sie in schwarzer Tinte und schloss sie weg. Es gab Geschichten, da kombinierte sie, ließ gleich mehrere der schillernden Schmetterlinge fliegen, andere hingegen waren so groß und mächtig, dass es kaum gelang sie in Worte zu fassen. Einige wenige waren gefährlich, kamen zu nahe, wollten aufgeschrieben und ein Teil von Zoes Leben werden - sie hatte dann tatsächlich Mühe zu unterscheiden, was nun ihre Existenz war und was nicht. Doch mit der Zeit bekam sie Übung im Kartografieren von Leben, konnte Schicksale begreifen, noch vor den Betroffenen und manchmal, nur manchmal, gelang es ihr vorherzusehen was geschehen würde. All das offenbarte sich durch Sprache, durch das Widerspiegeln von Leben in Worten.
"Warum ist das Bild deiner Mutter über dem Kamin größer als das deines Vaters? Bist du ihr etwas schuldig geblieben?"
Zoe war aufgestanden, kam auf Annabelle zu.
"Du verschiebst sie. Das Foto deines Mannes und das deiner Mutter Gestern standen sie noch weiter links, näher an einander, nicht wahr? Wie sehr hast du geliebt Annabelle?"
Die beiden Frauen waren sich nun sehr nahe, Annabelle konnte Zoes warmen Atem auf ihren Lippen spüren.
"Ich möchte, dass du mir erzählst, was von dir geblieben ist. Wie viel Leben muss dir entglitten sein, dass es nicht für ein einziges Bild davon auf diesem Kamin reicht, neben all den anderen. Unsichtbare Annabelle. Sag mir warum du jetzt weinst."
Dicker Nebel hüllte den anbrechenden Tag ein, ließ das Licht nur spärlich, in schäbigem grau aus den Wolken herabsickern. Zoe lag auf dem alten Sofa, das Gesicht der Wand zugedreht, reglos.
Annabelle saß in ihrem Massagestuhl und trank Tee.
Lange hatte sie diese Szenerie betrachtet, das Mädchen, so vollkommen frei, verletzlich und ruhig.
Niemand hatte Zoe zuvor so gesehen. Ohne den Schutz und den Respekt, wie Worte sie verleihen.
In der Küche, auf dem kleinen Tisch, lagen die Blätter. Fein säuberlich gestapelt und nummeriert.
Gelesen hatte Annabelle sie nicht. Sie begnügte sich damit die junge Frau betrachtet zu haben, über Stunden diesen besonderen Ausdruck von Konzentration auf ihrem Gesicht zu sehen, in den sich von Zeit zu Zeit ein wenig Trauer oder ein flüchtiges Lächeln mengte. Das Gesicht eines schaffenden Menschen hatte es in diesen Räumen niemals zuvor gegeben.
Je länger Annabelle Zoe gegenüber gesessen war, desto mehr keimte eine seltsame Unruhe in ihr auf, ein Verlangen, sich selbst an etwas zu versuchen, ergriff sie. Für einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, ebenfalls eine Geschichte zu schreiben, oder ein Gedicht vielleicht, verwarf diese Idee allerdings rasch wieder, denn die Worte gehörten Zoe. Alle Worte.
In der frühen Morgenstunden schließlich, war Annabelle von einem quälenden Fieber befallen, das sie auf den Speicher trieb, vorbei an allerlei Unrat und Gerümpel, zu einem Schrank, in dem alte Schnittmuster seit mehr als vierzig Jahren ruhten. Elegante Röcke, Blusen und Abendkleider brachte sie zum Vorschein, im Stil einer Zeit, die längst verloren schien.
Talentierte Frauen hatten sich einst nach solchen Mustern den Stoff besorgt und so manches schöne Stück selbst genäht. Heute besaß Annabelle nicht einmal mehr eine Schere und eine Nadel könnte sie mit ihren kranken Händen kaum führen.
Hast du es gelesen", fragte Zoe, die eben erwacht war und sich langsam aufrichtete.
Annabelle nickte.
"Und?"
Sie würde schwarzen Samt verwenden, anstatt des empfohlenen roten, und etwas schwarzen Satin. Selbst ohne von Zoe die Maße zu nehmen, könnte sie dieses Kleid für sie anfertigen. Einige kleine Änderungen, etwas kürzen vielleicht und dieses Mädchen würde sich zu einer Königin wandeln.
Sie dachte an die Schnittmuster, das Modell, wandelte es ab, wieder und wieder, perfektionierte, gab sich dem Rausch des Erschaffens jetzt ganz und gar hin.
"Bemerkenswert", antwortete Annabelle mit gespielter Schlichtheit und nippte an ihrem Tee.
Sie würde wieder nähen. Koste es, was es wolle.
"Ich werde jetzt gehen", sagte Zoe müde, während sie die beschriebenen Seiten sorgsam in ihrer Manteltasche verstaute.
Dann öffnete sie die Haustüre.
Annabelle drückte noch ein Mal diese sanfte Hand, wünschte Zoe alles Gute.
Ob sie eines Tages wieder käme?
Wer von den beiden würde das wollen?
Und vor allem - wann?
"Weißt du vielleicht, wie spät es ist", fragte Annabelle scheinheilig zum Abschluss.
"Hab keine Uhr".
Natürlich nicht. Und ein Mensch, der keine Uhr besitzt, war es wert, dass man sich mit ihm beschäftigte, dachte Annabelle, während sich Zoes Umrisse langsam im kalten Morgennebel verloren.
Ausruhen würde sie sich nun, ein wenig das Schnittmuster studieren und schließlich zu Bett gehen, bis der Abend käme. Dann, wenn alles vorbereitet war, würde Annabelle etwas tun, das sie schon seit vielen Jahren nicht mehr unternommen hatte:
Sie würde einen Besuch machen.

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