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Eingereicht am
13. März 2007

Geisterbahnhof

© Klaus Herrgen

Die Knef kam ihm in den Sinn, als Schilder den nahenden Bahnhof ankündigten. Aus allen Richtungen liefen Schienenstränge zusammen und verbanden sich zu einem dichter werdenden Netz, um sich endlich zu dem Knotenpunkt zu verknüpfen, der einige Minuten Aufenthalt bedeutete, aber nicht das Ziel seiner Fahrt war.

Noch bevor die ersten Mitreisenden unruhig wurden und nach ihren Gepäckstücken griffen, hatte er seine Lektüre unterbrochen. Keinem der bislang durchfahrenen Bahnhöfe hatte er diese Aufmerksamkeit gezollt. Kannte er sich in dieser Stadt noch aus? Ihm blieb nur Zeit für eine Zigarette. Wo kann man die in vollen Zügen genießen?

Auf dem Bahnsteig stieß er gedankenversunken kleine Wölkchen aus, durch die hindurch er seine Umgebung betrachtete. Er sah Ankommende, Abreisende, Wartende und dazwischen erschienen Menschen, die nur er sehen konnte - Ankommende, Abreisende und Wartende, die keinem im Wege waren, die keinen Platz beanspruchten, die keiner bemerkte. Ein Student, der einige Stationen im selben Abteil gesessen hatte, stieg aus. In der Hand hielt er den "Spiegel", hinter dem er sich die meiste Zeit verschanzt hatte, für den seine Deutschkenntnisse aber noch nicht annähernd ausreichten. Er musste offensichtlich noch lernen, in Eisenbahnabteilen oder Fahrstühlen mit Menschen auf engstem Raum beisammen zu sein und durch sie hindurchzusehen. Eine junge Frau saß angespannt auf einer Bank und benagte ihre Lippen. Vielleicht war sie auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Dort stand ein Paar beisammen. Schüler begleiteten einen Kameraden zu einem Zug, der Zubringer für einen größeren Sprung war. Die Welt schien ihm offen zu stehen. Kaum älter war der Junge, den ein Lehrer an den Füßen unter einem Kesselwagen hervorzog, wo er Schutz gesucht hatte und nach seiner Mutter rief, während er doch den Bahnhof gegen feindliche Flieger verteidigen sollte. Dort wurden mit großem Hallo Verwandte begrüßt. Ihn würde hier heute niemand erwarten. Sein letzter Besuch in dieser Stadt hatte einem Toten gegolten, dem keine Zeit mehr blieb. Er solle bald erscheinen, ließ ihn der Bestatter wissen; der Sarg müsse rasch endgültig geschlossen werden. Schon begannen sich die Hände, die ihm so viel gegeben, die ihn getragen und geführt hatten, an den Fingerspitzen zu verfärben. Noch überdeckte ein grobkörniges Pulver, das in den Sarg gestreut war, alle anderen Gerüche. Wie schnell löst sich ein Mensch auf! Inzwischen war auch das Grab verschwunden. Wer kannte noch seinen Ort? Bald würde ein kleiner Bagger die Gebeine durcheinander werfen und einem Nachfolger die Grube schaufeln. Wie lange dauert in Zeiten allgemeiner Beschleunigung die ewige Ruhe?

Auf dem gegenüberliegenden Gleis verließ ein Zug rasch und nahezu geräuschlos den Bahnhof. Die Gesichter der Fahrgäste waren hinter den getönten Scheiben nur zu erahnen. Augenblicklich wechselten die Hinweise auf der Anzeigetafel. Kein verspäteter Reisender konnte hier auf den Gedanken kommen, hinter dem Zug herzustürzen, um im letzten Moment noch aufzuspringen.

"Was ist nicht alles mit den Dampfrössern verschwunden?!", dachte er sich, während er den Rauch seiner Zigarette ausstieß. "Achtung an Gleis 7! Einfahrt hat der Schnellzug von X nach Y, über ... zur Weiterfahrt nach Z. Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten." Welche Dramatik lag schon in einer solchen Ankündigung!

Jetzt sah er nicht nur den modernen Hochgeschwindigkeitszug auf seinem neuen Gleisbett, er sah auch das eiserne Vieh, wie es sich über Weichen heranschlängelte, um bald darauf schnaufend und stampfend in den Bahnhof zu stürzen. Kaum war es dampfend und zischend zum Stehen gekommen, sprangen, von scheppernden Ansagen des Lautsprechers begleitet, die Türen auf. Den eilenden Zusteigenden und ihrem Gepäck ausweichend, liefen Wartende, Ausschau haltend, am Zug entlang.

Mit welcher Freude war er mit seinem Vater zum Bahnhof gegangen, wenn die Großeltern erwartet wurden, derweil die Mutter zu Hause mit Vorbereitungen beschäftigt war! Trotz aller Ungeduld konnte er den Bahnsteig nicht einfach stürmen, dazu bedurfte es der Bahnsteigkarte, die der Vater bei solchen Anlässen ohne langes Bitten spendierte. Hatte er die Großeltern erspäht und begrüßt, drängte er schon wieder zur Eile. Dann hatte er keinen Blick für Heizer und Lokführer, die aus dem Führerstand der Lokomotive schauten, nicht für die hohen Triebräder und das Antriebsgestänge der Maschine, ebenso wenig für die Vögel, die am Bahnsteig wachsende spärliche Gräser nach Samen absuchten. Dies war kein Ort zum Wurzelnschlagen. Die Zugvögel unter dem gefiederten Volk würden sich bald zu ertragreicheren Gefilden aufmachen. Ihn beschäftigte nun die Frage, was die Großeltern ihm wohl diesmal mitgebracht hatten. Auf alle Fälle Zeit. Das war das Wichtigste. Zeit zum Erzählen und Zeit zum Vorlesen, und dafür hatte sein Opa mit Sicherheit wieder ein Buch im Koffer. Das würde kein Buch sein, wie man es in jeder Buchhandlung kaufen konnte; kein Geschenk, sondern ein betagt aussehendes Werk in einem marmorierten Bibliothekseinband, das sein Großvater mittels eines Leihscheins für einige Wochen aus einem tiefen, verliesartigen Magazin befreit hatte. Dahin musste es, zur Erleichterung der Großmutter, zurückkehren. Sie hatte bereits genügend Bücher zum Abstauben, und da eine Wohnung nicht größer wird und das menschliche Leben kurz ist, wie sie immer häufiger betonte, widersetzte sie sich entschlossen einem weiteren Zuwachs der häuslichen Sammlung.

An Zeitvertreib fehlte es nicht, und die gemeinsamen Tage vergingen rasch. War die Hälfte vorüber, beschleunigte sich der Takt, und alle Pläne, noch einmal dies, noch einmal das gemeinsam zu unternehmen, waren schon von melancholischer Abschiedsstimmung gezeichnet.

Viel zu früh fuhr man wieder zum Bahnhof, der nun die andere Seite seines Janusgesichts zeigte. In bedrückter Stimmung saß man die letzten Minuten hier auf dem Bahnsteig beisammen, führte beklommen Verlegenheitsgespräche und trauerte den Tagen nach, auf die man sich so gefreut hatte. Mit dem "Achtung am Gleis 7" kam Bewegung. Unverzüglich stand man auf. Letzte Umarmungen, Versprechen, sich gleich zu melden, der Trost, dass man sich ja wiedersehen würde, wobei der Großvater ein schicksalergebenes "so Gott will" einflocht, dann stürzte die rußige Lok wie ein fauchender Drache heran, und der Zug kam kreischend und quietschend zum Stehen. Jetzt galt es für eine lange Fahrt einen guten Platz zu finden. Nicht immer ließen sich die Waggontüren leicht öffnen. Nachdem die Ankommenden ausgestiegen waren, kämpften sich die Reisenden mit ihren Koffern und Taschen durch die Gänge zu freien Abteilen oder zumindest doch freien Plätzen, reichten noch einmal zum Abschied die Hände aus den geöffneten Fenstern, dann ertönte der Pfiff, der das Ende setzte, und rasch entführte das schnaufende Ungetüm die klappernden Wagen mit den traurig blickenden und noch immer zurückwinkenden Großeltern aus dem Bahnhof. Noch ein Augenblick, dann waren sie verschwunden. Es blieb die Hoffnung auf ein Wiedersehen, eine Hoffnung, ohne die Bürger dieser Stadt vor Jahren aus diesem Bahnhof fuhren, ohne Abschied und ihrer Rechte beraubt. Für sie begann hier keine Reise mit Rückfahrkarte, sondern ein Transport mit leichtem Gepäck, eine Station auf ihrem Leidensweg. Ihr zurückgelassenes Eigentum sollte in rechte Hände kommen. Zuvor waren schon viele Männer in Feldgrau von hier abgefahren, von denen nur wenige zurückkamen. Hat die Gegenwart ihnen einen Platz bewahrt? Hat sich ihr Bild in der Ferne verloren? Sind sie spurlos verschwunden? Dem Bahnhof ist diese Zeit nicht anzusehen. Gebäudeschäden konnten behoben werden, und mit der Patina der Dampflokzeit ist vieles verschwunden, was an vergangene Tage erinnern könnte. Ein Bahnhof ist ein schnelllebiger Ort. Unser Reisender schaute auf die Uhr und nahm einen letzten Zug aus der Zigarette, deren Rauch während eines kurzen Aufenthalts viele Bilder hervorgezaubert hatte und Gegenwart in Vergangenheit verschwimmen ließ.

Es war Zeit einzusteigen. Der Proviant an Erinnerungen war aufgefrischt. Der Zug eilte längst wieder voran, während es die Gedanken noch immer zurückzog.




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