Unser Buchtipp
Karin Reddemann: Gottes kalte Gabe Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 3-9809336-3-6
kleine mysteriöse Welten, in denen es sowohl gruselig und unheimlich zugeht als auch ironischwitzig und ein wenig erotisch. Und fast immer raffiniert überraschend.
Westdeutsche Zeitung

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Eingereicht am
05. April 2007

Zerwürfnisse

© Michael H. Schmatz

Aus der kleinen Dorfkirche, welche von der kühlen Herbstnacht bereits in ihren schwarzen Umhang gehüllt und nur durch das wenige Licht der bunten Fensterscheiben schemenhaft in die Finsternis gezeichnet war, drangen gedämpft monotone Wortfetzen über den im Dunkel liegenden Kirchplatz. Auf Stille bedacht öffnete Johann die schwere Eichentür und der kalte Geruch von Weihrauch vergangener Gottesdienste, vermengt mit dem Dunst feuchtkalter Kleidung und verbrauchter Luft, fesselte für einen Moment all seine Sinne.

"... erlöse uns von dem Bösen. Amen!", widerhallte es düster, eher einem dämonischen als christlichen Ritual gleichend, von den vorwiegend alten Männern und Frauen der rechten auf das "Gegrüßet seist Du Maria.." der linken Bankreihen. Das eiskalte Weihwasser an seinen Fingerspitzen ließ Johann schließlich aus seiner, nur für den Bruchteil einer Sekunde andauernden, psychischen Entschwindung auffrösteln. Müde verlangte er sich vor dem Kruzifix eine Kniebeuge ab und steuerte, wie all die Jahre vorher, auf die ihn so vertraute vierte rechte Bankreihe zu. Seit Ewigkeiten hatten er und sein drei Jahre älterer Bruder Alois, der in einer der linken Reihen in seinem Gebet versunken zu sein schien, sich keines Blickes gewürdigt, geschweige denn in der Kirche nebeneinander gesessen oder gar ein Wort miteinander gewechselt. Auch hatte sich ihr Zerwürfnis längst auf die ganze Kirchengemeinde ausgeweitet, die sich nun nahezu vollzählig, pharisäerhaft fromm zur Messe eingefunden hatte.

Oh wie schön war ihre Kindheit doch gewesen. Springend und tollend sah Johann noch immer seinen Bruder und sich auf der bunten Blumenwiese hinter dem Hof, in dem dahinter angrenzenden Wald, in welchem sie so oft an regnerischen Tagen bereits in der Morgendämmerung auf Pilzsuche gegangen waren und auf dem dunklen Heuboden, wo Alois als "Häuptling ihres Apachenstamms" immer neue Verstecke und geheime Lagerplätze ausfindig gemacht hatte. Schon in den Tagen frühester Kindheit war Alois für Johann Urbild an Führerschaft und Lebensweisheit. Erklärte Alois im Alter von sieben Jahren, Katzen seien Nutz- und keine Streicheltiere oder das Gift des Fliegenpilzes sei schon von den Apachen erfolgreich gegen deren Feinde eingesetzt worden, so waren diese Feststellungen für Johann ohne darüber nachzudenken oder auch nur einen Hauch von Zweifel zu hegen, immer ungeschriebenes Statut. Auch später als Alois, gemächlich wie unaufhaltsam zum Manne heranreifte und sich mehr und mehr von dem zunehmend verhassten Landleben zu distanzieren versuchte, erhielt jener, wenn auch von keinem anderen, so doch immer von seinem Bruder Zuspruch und Ermunterung das Ersehnte in die Tat umzusetzen. Während Johann beispielsweise, wie auch alle anderen Kinder und Jugendlichen, mit der dorfeigenen Blaskapelle auf Schützenfesten und Heimatabenden in der näheren Umgebung musizierte, spielte Alois an der elektronischen Orgel mit einer Tanzband auf Hochzeiten und anderen privaten Festlichkeiten irgendwo in der Ferne und wurde allerorts von Johann als der Inbegriff des Musikus gepriesen. Auch entschied er sich, ungeachtet aller Appelle des Vaters, der sich viel mehr einen handwerklichen Beruf, mit dessen Fähigkeiten sich Alois besser im Hofe hätte einbringen können, gewünscht hatte, für eine Lehre zum Bankkaufmann. Auch das fand Johann durchaus bewundernswert, wenngleich er für sich, trotz wesentlich besserer Schulleistungen, eine Lehre zum Landmaschinenmechaniker vorzog und für ihn die Freude an einem beruflichen Leben in und mit der Natur mehr und mehr in den Vordergrund rückte. Selbst in jenem Sommer, als Alois seinem Vater zu verstehen gab, dass er an der diesjährigen Kartoffelernte nicht mitwirken könne, da er mit einem Freund in dieser Zeit zu verreisen gedenke, war für Johann, ohne auch nur einen Hauch von Gram zu verspüren, die Entscheidung seines Bruder richtig und von höchstem Belang und in keinster Weise als egoistisch zu betrachten. Vielmehr versuchte er sogleich den Ausfall Alois zu kompensieren, indem er auf dem Kartoffelacker rackerte als gelte es Rom an nur einem Tag zu erbauen, um seinen Vater gegenüber dem Bruder nur wieder milde zu stimmen.

Aus einem Gefühl heraus, dass seinem Bruder ein anderes, sprich aufregenderes Leben vorbestimmt sei, tat Johann alles um seinen Bruder diesen Weg zu ebnen und gangbar zu machen. Das für Alois eine wesentliche Triebfeder aber das Streben nach Macht und Ansehen war, dass er unter anderem durch das massenhafte Anhäufen von vermeintlichen Statussymbolen, dem Herumwerfen mit Geld, ja das Fingieren eines weltmännischen Geschäftsmannes und dem daraus resultierenden Erfolg bei der entsprechend gut situierten Damenbevölkerung zu erlangen versuchte, konnte Johann für sich in seiner voll Bewunderung zollenden Haltung niemals wahrnehmen und war ihm deshalb wohl einfach auch nie in den Sinn gekommen.

Das Zerwürfnis der Beiden begann erst unmittelbar nach dem Tod des Vaters. Für einen jeden im Dorfe war klar, dass nach dessen Wunsch Johann den Hof übernehmen und weiterführen sollte, doch die rechtlichen Voraussetzungen durch ein Testament waren wohl aus der Gutgläubigkeit des Vaters heraus nie schriftlich hinterlegt worden. Und noch während des Leichenschmauses war es Alois, der seinen Bruder auf die Seite zog und ihn davon in Kenntnis setzte, dass er auf seinen gesetzlichen Erbteil bestünde, auch wenn dadurch die Veräußerung des Hofes, der sich nachweislich seit fünf Generationen in Familienbesitz befand, nötig werden würde. Mit der rohen Gewalt heftigster Erkenntnis, erstmals in seinem Leben eine Entscheidung seines Bruders, ja seinen Bruder selbst in Zweifel zu stellen, wurde Johann von Gefühlswellen wie Traurigkeit, Wut und Hass hin und her gerissen.

"Wenn'd Voaddern des luosa dat, dat er glei as'm Groab assi springa", versuchte Johann seinen Bruder noch an die Vorstellungen und Wünsche ihres verstorbenen Vaters zu erinnern. Doch es half nichts und ein schwerer Keil drang widerstandslos in den einst so festen Familienstamm. War zu anfangs der Streit und die Entzweiung der beiden Brüder noch begehrter Gesprächsstoff im Dorfe und wurde überall, sicher nur aus einer Art Neugier und Freude über das Außergewöhnliche, Partei ergriffen, diskutiert, gestritten und verurteilt, trübte sich der Glanz der einst so wichtigen Dorfgemeinschaft doch mehr und mehr ein. Unter gängigen, sprich in jenen kleinen Bauerndörfern üblichen Voraussetzungen, wäre damals zweifelsohne für jeden Johann das Lamm und Alois der Wolf und die Vertreibung des Wolfes erklärtes Ziel gewesen. Da aber Alois seit einiger Zeit in der Kommunalpolitik zu schaffen und unter anderem auch brisante Entscheidungen, die den ganzen Ort oder auch nur einzelne Agrarflächen anbelangten, mit zu treffen hatte, wurde bald aus Angst, bald sich einen Vorteil erhoffend auch für Alois Partei ergriffen und somit der Zwist und Verfall der ganzen Dorfgemeinschaft eingeläutet. Hatte sich nun etwa der Eine zulange mit diesem Nachbarn unterhalten, musste er befürchten deshalb vom nächsten gemieden zu werden, oder war ein Anderer jenem Anrainer gar behilflich, hatte er in den Augen seiner Mitbürger sogleich auf dessen Seite der Gefechtslinie gewechselt. Wo früher einer dem anderen zur Hand gegangen war wenn es Not tat, wurde jetzt alles dafür getan, diese Nähe menschlicher Hilfsbedürftigkeit ganz zu meiden. Und als der Argwohn sich im Dorf wie die Pest immer weiter auszubreiten schien, wurde voll Misstrauen untereinander die gegenseitige Freund- und Hilfsbereitschaft ganz eingestellt.

Schon einen Monat nach Ableben seines Vaters erhielt Johann den Brief eines Rechtsanwaltes und war nicht lange danach durch das Urteil eines Amtsgerichtes gezwungen, seinen Bruder auszuzahlen oder das Gut bestmöglich zum Kauf anzubieten. Da ihm aber das Lebenswerk seines Vaters und Großvaters als unantastbar galt und von ihm deshalb der Verkauf des Hofes, der Wiesen und Äcker erst gar nicht in Erwägung gezogen wurde, war er zur Aufnahme einer nicht geringen Hypothek über eine Bank gezwungen.

Doch soviel er auch schuftete, die folgenden Jahre waren ertragsarm und der Hof lief schlecht, was zur Folge hatte, dass Johann im Laufe von nur zwei Jahren den Bestand der Kühe, welcher sich zu Lebzeiten seines Vaters immer auf mindestens deren zwanzig bezifferte, auf nur noch Eine reduzieren musste, um durch den Erlös den Zinszahlungen folge leisten zu können. Immer schwerer wurde es für ihn die Raten aufzubringen und Johann lebte nur noch von Tag zu Tag auf ein Wunder hoffend. Auch sein gesundheitlicher Zustand, namentlich der seines Herzens, verschlechterte sich zu dieser Zeit mehr und mehr. Als dann wiederum eine Zahlung an die Bank fällig wurde, war seine einzige Hoffnung die letzte Kuh - Alma -, die in wenigen Tagen ein Kalb werfen sollte.

Freitag abends, es mochte wohl gegen zehn Uhr gewesen sein, war das schmerzerfüllte Brüllen einer Kuh durch das ganze Dorf zu vernehmen, was aber keinen der Bewohner wie früher dazu bewog, nach dem rechten zu sehen und dem Nachbarn seine Hilfe anzubieten. Als etwa zwei Stunden vergangen waren und der Gebärvorgang für Johann nicht merklich fortgeschritten war, krempelte er sich den rechten seiner Hemdsärmel zurück, säuberte seinen Arm mit Seife und führte diesen schultertief in Alma ein bis er einen Huf des Kalbes ertasten konnte. Deutlich das Antlitz des Unheils vor Augen glaubte er den Halt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als er dort wo er den Kopf und den Vorderlauf des Kalbes erwartete, nur die Hinterläufe ertasten konnte. Hastig zog er seinen Arm heraus, knüpfte aus einem Strick eine Schlinge, führte ihn erneut tief in Alma ein und legte den Knoten um die Hinterläufe des Kalbes. Sodann setzte er sich hinter Alma, die längst von den Strapazen erschöpft auf dem Stroh niedergegangen war und deren Augäpfel voller Schmerz und Angst immer weiter hervorquollen. Seine Beine steif gegen Almas Hinterschenkel gestemmt, zog er, der Strick immer tiefer in das Fleisch seiner Hände einschneidend, mit aller Kraft die er aufbringen konnte. Wieder und wieder zog er, hoffend das letzte Rettenswerte doch noch retten zu können, unter dem immer heißer klingenden Gebrüll Almas. Schon das ein oder andere Mal hatte er mit seinem Vater und Helfern aus der Nachbarschaft Kälber aus dieser schwierigen Lage in das Dasein gerissen. Nichts hatte sich faktisch geändert. Nur Kraft musste er diesmal mehr aufbringen. Nur Kraft. Nur war er diesmal allein.

Als schon der Morgen graute setzte Johann das letzte Mal an, ehe er, an der Grenze des Belastbaren angelangt und den hämmernden Pulsschlag deutlich in seinen Ohren hörend, bewusstlos zusammenbrach.

"...erlöse uns von dem Bösen. Amen!", widerhallte es düster, eher einem dämonischen als christlichen Ritual gleichend, von den vorwiegend alten Männern und Frauen der rechten auf das "Gegrüßet seist Du Maria.." der linken Bankreihen. Die kleine Kirche war wie immer gut gefüllt.

"Oh mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden. Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle und führe alle Seelen in den Himmel; besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen." Noch immer öffnete sich die schwere Holztüre nicht. Noch immer fehlte der Bruder, fehlte einer ihrer einst so gepriesenen Dorfgemeinschaft, was jener und jeder bemerkte und sie doch, im Laufe der Jahre durch müßige Akzeptanz etabliert, übergingen und aus ihrem Bewusstsein verbannten.

Noch immer war er leer, der Platz in der vierten Bankreihe rechts.




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