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Der Baum der Erinnerung© Annette AndersenJeder kannte sie. Die alte Lissy gehörte ebenso zum Dorfplatz wie die Jahrhunderte alte Eiche, die, weit ausladend, imposant und kraftvoll dem Betrachter Sicherheit und Beständigkeit vermittelte. Besonders ältere Menschen ließen sich, wie Lissy, gern auf der Bank, die seit eh und je unter dem Baum stand, nieder. Viele Dorfbewohner machten Rast hier, fanden Zeit zur Besinnung und für kurze Zeit ihre innere Ruhe. Ein schattiger Platz, der auch an den heißesten Sommertagen Kühlung versprach; ein trockener Platz, der mit seinem dichten Blätterwerk Schutz vor Regentropfen bot. Hier war Lissy zu finden, wenn man sie in ihrem kleinen Häuschen, ein paar Straßenecken weiter, vergeblich suchte. Mit dem krummen Rücken an den Baumstamm gelehnt, wie mit ihm verwachsen, saß sie dann auf der Bank. Oft mit geschlossenen Augen, lächelnd und zufrieden wirkend; der Welt entrückt. Hier schöpfte sie Kraft. Hier, im Stamm der alten Eiche, wohnten die Erinnerungen an vergangene Zeiten. Unter dem Baum hatte sie schon als Kind gespielt; er hatte sie glücklich und traurig gesehen. Auch mit Hans, mit dem sie schon zusammen zur Schule gegangen war und der später ihr Mann wurde, hatte sie hier gesessen. Viele Male. Voller Liebe für ihn war sie gewesen, zufrieden und glücklich. Aus Eicheln dieses Baumes hatte sie später mit ihren Kindern kleine Figuren gebastelt. Hatte hier mit ihnen gelacht und Spaß gehabt. Hans war schon lange tot, die Kinder längst erwachsen und mit ihren Familien weit fortgezogen. Nur selten kamen sie zu Besuch, und wenn, dann waren sie ganz schnell wieder verschwunden und ließen Lissy allein zurück. Lissy war alt. Niemand von den jungen Leuten, die sich oft bei der Eiche trafen, wußte genau wie alt sie war, aber sie schätzten sie auf weit über 80, vielleicht sogar über 90 Jahre. Lissy fühlte sich jeden Tag einsam und allein. Die Füße taten ihr oft weh, und der Rücken schmerzte von Jahr zu Jahr mehr, so dass das Aufstehen ihr größte Mühe bereitete. Schon seit einigen Jahren wünschte sie sich, eines Morgens einfach nicht mehr aufzuwachen. Alle Freunde waren tot, die Familie weit weg. Das Leben hatte jeden Reiz für sie verloren. Sie fühlte sich nur noch als Last. Lange Fußwege konnte sie nicht mehr machen, nur bis zu der alten Eiche reichte es gerade noch. Dort ließ sie sich dann auf der Bank nieder und hielt mit dem Baum Zwiesprache. Die alte Eiche - sie war die Verbindung zu einer Zeit, die längst vergangen und nur noch vage Erinnerung für wenige der Dorfbewohner war. Nicht so für Lissy. Wenn sie auf der Bank saß, mit geschlossenen Augen, den Rücken so eng wie möglich an den Stamm geschmiegt, lebte die Vergangenheit. Der Baum gab ihr Kraft. Er war ihr Leben. Er hielt sie am Leben.
Alles änderte sich an einem Dienstag. Ein Kran rollte in den ersten Morgenstunden auf den Dorfplatz. Unbemerkt von Lissy. Nach wenigen Stunden war dort, wo die wunderbare alte Eiche gestanden hatte, nichts mehr. Nur ein großer, leerer und tot wirkender Platz. Geschaffen, um eine neue, breitere Straße zu bauen. Doch davon wusste Lissy nichts. Als sie kam, war schon alles vorbei. Der Kran war weg, die Arbeiter mit ihren schweren Motorsägen waren weg - und Lissys geliebter Baum war weg. Voller Entsetzen sah sie, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Es war ihr, als sei nun der letzte Freund gegangen. Tief gebeugt ging sie auf die Bank zu, die nun etwas abseits stand und irgendwie nutzlos wirkte. Tränen suchten sich ihren Weg durch das zerfurchte, alte und traurige Gesicht. Schwer ließ Lissy sich auf die Sitzfläche der Bank fallen und schloss die Augen. So starb sie. Ohne Halt, in sich zusammengesunken und einen letzten, übrig gebliebenen Zweig ihrer Erinnerungen in der Hand. |