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Eingereicht am
14. April 2007

Am Meer

© Thomas Fischer

Lindemann geht es gut. Er liegt am Strand und streckt seine nackten Füße gegen das Wasser aus. Ansonsten ist er angezogen. Es ist auch sonst kaum jemand am Strand, denn es ist noch etwas zu kalt zum baden. Dennoch ist es ein schöner sonniger Frühlingstag. Lindemann grunzt zufrieden und angelt sich eine Büchse Wernesgrüner aus dem Beutel. Er knackt den Verschluss und das Bier schäumt heraus. Schnell hält er die Büchse über seinen Kopf, so dass der Schaum in seinem Mund landet. Dann nimmt er die ersten Schlucke und merkt, dass es gar nicht so einfach ist im Liegen zu trinken. Dennoch wird er einen Teufel tun aufzustehen. Lindemann geht es gut, vielleicht gerade weil er liegt. Er lässt das Bier in seine Mundhöhle gluckern und muss dabei schnell schlucken und gut dosieren. Als die Büchse leer ist, wirft er sie weg. Er wirft sie nicht sehr weit. Lindemann ist kein solches Schwein, dass er seinen Müll überall liegen lässt. Er wird später, wenn er geht, die Büchse wieder einsammeln und in seinem Beutel mitnehmen. Er angelt sich das zweite Wernesgrüner und trinkt es in derselben Weise und Geschwindigkeit wie das erste. Dann drückt er den Hinterkopf in den Sand und schaut in den Himmel.

Weiße Schäfchenwolken vor azurblauem Himmel gibt es heute. Lindemann zappelt mit den Zehen, hört das Rauschen des Meeres, starrt in den Himmel und sieht den Wolken zu, wie sie vorbeiziehen. Er tut das intensiv, dass sich alles anfängt zu drehen, der Himmel, der Strand und die Wolken. Alles dreht sich um ihn. Er beginnt mit den Armen und Beinen zu kreisen. Immer stärker beginnt Lindemann mit den Gliedmaßen zu rudern. Auch sein Oberkörper beginnt sich zu bewegen und so wühlt er sich immer tiefer in den Sand hinein. Jetzt laufen doch ein paar Leute an ihm vorbei. Scheu machen sie einen großen Bogen um ihn und starren irritiert auf den zwischen zwei Bierbüchsen liegenden sich spastisch bewegenden Mann. Lindemann bemerkt sie zwar, aber sie sind ihm völlig egal. Er hört nicht auf sich zu bewegen. Er beginnt sich jetzt im Sand zu wälzen. Es geht ihm gut. Alles ist so weit weg, das blöde Institut mit seinem stumpfsinnigen Personal und vor allem sein inkompetenter Chef. Oh, wie hasst er dessen Geschwätz vom Ärmelhochkrempeln und davon, dass er auch abends um neun noch ab und zu Licht brennen sehen will. Das kann er aber gar nicht, da er ja selbst um diese Zeit längst Hause sitzt. Dabei tut er immer so, als ob er ein für Außenstehende nicht abzuschätzendes Arbeitspensum zu absolvieren habe. Seine Vorzimmerdame und seine Speichellecker aus der überdimensionierten Verwaltung des Instituts nicken dann immer mitfühlend, wenn er das vorträgt. Was soll das überhaupt, um neun noch Licht brennen? Seine Ideen kann Lindemann genauso gut am heimischen Computer ausbrüten. Der ist zudem noch viel besser und schneller als die alten Kisten die im Institut herumstehen. Ja, den hat er sich geleistet von dem dürftigen Gehalt, was er für die Arbeit in diesem privaten Forschungsinstitut bekommt. Dabei tut der Chef immer so, als ob es eine Gnade sei, für ihn zu arbeiten. Lindemann hasst ihn umso mehr dafür. Manchmal überlegt er, ob es nicht besser sei, seine Ideen für sich zu behalten und nicht an dieses Institut zu verschwenden. Den Gott einen frommen Mann sein lassen und auf Arbeit nur das Nötigste tun, so wie das die meisten Kollegen sowieso machen, dass denkt Lindemann dann. Oder sich einfach etwas anderes suchen, im öffentlichen Dienst oder direkt in der Industrie, wird eh besser bezahlt. Aber Lindemann hat nicht promoviert. Er wollte das nicht mitmachen, dieses in seinen Augen überflüssige Ritual der Promovierung. Möglichkeiten hätte er gehabt, damals an der Universität. Aber er hat geglaubt ein kluger Kopf setzt sich auch so durch. Nein, er braucht keine Titel, im Grunde genommen denkt er das noch immer. Seinen jetzigen Chef haben Titel auch nicht interessiert. Aber bewähren sollte er sich. Erst nach einem längeren befristeten Arbeitsvertrag ist Lindemann in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen worden. Dabei hat er Ideen zu zwei Projekten beigesteuert. Aber das zählt nicht in diesem pseudowissenschaftlichen Institut. Hier zählt nicht Leistung sondern Alter. Und alt sind die meisten Mitarbeiter, es sind kaum Junge dabei. Das fällt jedoch niemanden auf, da die meisten schon zehn Jahre und länger hier arbeiten und entsprechend betriebsblind sind. Lindenmann schnaubt wütend. Junge Wissenschaftler fangen nicht in einer so armseligen Einrichtung an. Der Chef hat ja selber keine Ideen. Aber die Ergebnisse seiner Leute trägt er immer gern selbst auf Tagungen vor. Die sind dann immer froh, wenn er sie nicht erwähnt, weil er immer haarsträubende Fehler macht, was darauf schließen lässt, dass er das, was in seinem Institut geschieht nur ungenügend versteht. Aber er erwähnt seine Leute sowieso nie. Er achtet schon darauf, dass sich niemand nach außen profilieren kann. Er stellt die Ergebnisse immer so dar, als ob er unmittelbar involviert sei. Dabei gibt er vor seinen Mitarbeitern zu, dass er sich mit den meisten Sachen nicht so intensiv beschäftigen kann, da er ja so viele andere Sachen um die Ohren hätte, die in der Hauptsache damit zu tun hätten Arbeitsplätze zu sichern. Seine Speichellecker aus der Verwaltung schauen, dann immer dankbar zu ihm auf, wenn er das in einer seiner Ansprachen wiederholt.

Aber das Institut ist weit weg und Lindemann liegt von zwei Wernesgrünern abgefüllt am Strand und aalt sich in der Sonne. Ob er noch das Hemd ausziehen soll? Vielleicht wird er sogar braun. Aber nein, dazu ist es doch noch zu kalt. Von der See weht ein kalter Wind. Das spürt er an den nackten Zehen. Also, dann doch lieber den Kopf zurücklehnen und Schäfchenwolken beobachten. Sonne, Wind und Meer, Lindemann überlegt ob es nicht besser wäre, einen weniger anspannenden Beruf auszuüben. Bauer, ach nein, doch lieber etwas ohne Verantwortung. Lindemann überlegt, ob es einen Beruf ohne Verantwortung gibt, der körperlich nicht anstrengend und stressfrei ist. Taxifahrer, das hat ihm sein Chef gesagt. Taxifahrer das könne er werden, wenn ihm das Institut nicht passe, hat er einmal zu Lindemann gemeint, als er sich höflich und zurückhaltend nach einer Gehaltserhöhung erkundigt hatte. Der Chef hat dann noch hinzugefügt, dass doch viele seiner ehemaligen Studienkollegen Taxi führen. Wieder einmal fühlte sich Lindemann bestätigt, dass der Chef jenseits jeglicher Realität lebt. Niemand von seinen Kommilitonen ist arbeitslos oder arbeitet als Taxifahrer. An diesem lächerlichen Institut bilden sie sich ein, sie bräuchten nur auf das Arbeitsamt zu gehen, wenn sie Leute einstellen wollten. Als er einmal mit der Betriebsrätin darüber gesprochen hatte, bestätigte sie ihm diese vorherrschende Meinung. Sie war erstaunt darüber, dass doch alle seine Kommilitonen auf Anhieb eine Arbeit gefunden hätten. Jetzt noch am Strand schüttelt Lindemann darüber den Kopf. Wenn er sich mit seinen ehemaligen Studienkollegen traf, erwähnte er nie das lächerliche Gehalt was er bezog. Ja, es stimmte, ein Taxifahrer verdiente mehr.

Am widerlichsten fand es Lindemann von seinem Chef berührt zu werden. Das tat er manchmal auf dem Flur oder in der Kantine, wenn er ihm unvermittelt auf die Schulter haute und ihn von oben herab fragte wie es mit der Wissenschaft stände oder sich nach Lindemanns Befinden erkundigte. Dabei sprach er ihn immer mit Herr Lindemann an, was den Eindruck des Herablassens noch verstärkte. Der Chef entblödete sich nicht in seiner Gegenwart über ihn mit seinen Verwaltungsspeichelleckern zu sprechen. Er erzählte dann immer von den tollen Ideen des kleinen Herrn Lindemanns. Klein sagte er nicht, aber es würde zu seinem Tonfall passen. Jaja, der Herr Lindemann, die greisen Mitglieder seines Verwaltungsgruselkabinetts schauten dann immer belustigt und herablassend zu ihm hin. Es würde nur noch fehlen, wenn der Chef behaupten würde, dass aus Herrn Lindemann noch einmal etwas werden würde. Das sagte er jedoch nicht, da er ganz genau wusste, dass niemand aus seinem Institut etwas wird. Lindemann war es manchmal ein Trost, dass er Kolleginnen noch viel lieber betatschte. Der Chef fand nichts dabei seinen Arm um die schmalen Schultern einer Abteilungsleiterin zu legen und sie ruckartig an seinen fetten Körper heranzuziehen. Dabei murmelte er gewöhnlich aufmunternde Worte. Die so motivierte Person suchte dann erst einmal das Weite, wenn er sie wieder freigab.

Lindemann beschließt zu rauchen. Er kramt Tabak und die Blättchen aus dem Beutel und beginnt zu drehen. Dann fingert er das Feuerzeug aus der Hosentasche und setzt die Zigarette in Brand. Er sieht zu wie die kleinen Rauchwölkchen davonziehen. Am Horizont taucht ein winziges Schiff auf. Von seiner Lage aus sieht es aus, als ob das Schiff auf einem Berg vorbeizieht. Wohlig zieht Lindemann an der Zigarette.

Sein Chef hasst Raucher, außerdem Punker und langhaarige Männer. Das lässt er deutlich heraushängen. Ein langhaariger Kollege wurde so lange mit seiner Duldung gemobbt bis er entnervt die Kündigung einreichte. Obwohl der Mann eine wichtige Position inne hatte und nicht so leicht zu ersetzen war, unternahm der Chef nichts ihn zu halten. Seine verbliebenen Arbeiten wurden daraufhin vernachlässigt, was für einiges Durcheinander sorgte. Der Chef bestellte die verbliebenen Mitarbeiter der Abteilung zu sich und nahm sie zusammen mit seinem Controller über eine Stunde in die Mangel. Er hat sie angeschrien und gedroht. Konkrete Entscheidungen fällte er jedoch nicht. Die so unter Druck Gesetzten huschten tagelang bleich und stumm über die Flure. Schließlich funktionierte nach und nach wieder alles einigermaßen. Bei der Betriebsversammlung machte der Chef einige anerkennende Bemerkungen darüber und schloss damit, dass doch mit der richtigen Motivation der Mitarbeiter alles zu erreichen sei. Die angesprochenen Kollegen saßen mit hochrotem Kopf auf ihren Stühlen.

Lindemann schnippt die Kippe in den Sand. Dann überlegt er, dass er noch etwas anderes rauchen könnte. Er nimmt den Beutel und fischt wieder darin herum, bis er ein Plastiktütchen in der Hand hält. Dann klebt er drei Blättchen zusammen und krümelt etwas Tabak darauf. Er hält ein Haschischbröckchen über sein brennendes Feuerzeug bis das Harz spröde wird. Dann zerreibt er es zwischen den Fingern und bröselt es in den Tabak. Lindemann rollt den Joint, leckt den Klebestreifen an und klebt die Tüte zusammen. Dann lehnt er sich wieder zurück und zündet den Joint an und beginnt genussvoll zu rauchen. Dabei wünscht er sich sein Chef könnte ihn jetzt sehen. Vorwürfe hat er ihm gemacht, dass er nicht Professor Warzel aufgesucht hat, bevor er den Projektantrag einreichte. Warum hätte er vorher mit dem Warzel sprechen sollen, wo doch alle im Institut gesagt haben, dass der Antrag hervorragend geschrieben sei und gute Chancen bei der Diskussion im Ausschuss hätte? Besonders die wissenschaftliche Koordinatorin hat ihn über den grünen Klee gelobt. Nur nachdem der Antrag nicht einmal in die Diskussion gekommen war und von Ausschussvorsitzenden Professor Warzel im Vorfeld schon abgelehnt wurde, sagte sie, dass das aufgrund der Mängel im Antrag abzusehen gewesen sei. Lindemann lief mehrere Tage wie vor den Kopf gestoßen durch die Gänge. Er hatte sich gut vorbereitet auf die öffentliche Diskussion. Dann war er, der Chef und die Abteilungsleiterin auf die Veranstaltung gefahren, wo sie gleich nach der Ankunft erfahren mussten, dass der Antrag abgelehnt war. Es war bekannt, dass Professor Warzel auf demselben Gebiet forschte, wie Lindemann. Vor etwa zwanzig Jahren hatte er bahnbrechende Ergebnisse auf eben jenem Gebiet vorgelegt. Daher rührte sein Ruhm und sein Einfluss. Alles was jedoch später von ihm kam, war, nach Lindemanns Meinung, ein Abklatsch der früheren Ergebnisse. Nur saß Warzel mittlerweile in sämtlichen Ausschüssen und konnte mit bestimmen, was in einzelnen Forschungsgruppen bearbeitet wurde. Es gab immer wieder Gerüchte, dass er durch seine Entscheidungen sich selbst und seinen Leuten den Rücken vor unliebsamer Konkurrenz freihielt. Niemand sprach das öffentlich aus. Seine Vorträge wurden wohlwollend diskutiert, keiner wollte sich es mit ihm verscherzen. Lindemann hatte also bei Warzel vorher gut Wetter machen sollen. Aber was hätte er fragen sollen? Lindemann war sich sicher, dass Professor Warzel seine wissenschaftlichen Thesen abgeschwächt hätte. Warzel war zudem dafür bekannt, dass er mit Kollegen nicht zimperlich umging. Lindemann hatte es selbst erlebt, wie er wegen einer Nichtigkeit eine Studentin in der Diskussion ihres Vortrages zum heulen brachte. Warzel hätte sicherlich erwartet, dass sich Lindemann vor ihm erniedrigte. Er hätte ihn fertig gemacht und ihm daraufhin gönnerhaft ein paar Vorschläge diktiert. Darauf hatte Lindemann nun wirklich keine Lust und war nicht zu Warzel gegangen. Während der Projektdiskussion saß Lindemann wie angeklebt auf seinem Stuhl und verfolgte mit erstaunen, wie die zweifelhaftesten Anträge genehmigt wurden. Die Antragsteller waren fast ausnahmslos ältere gestandene Institutsleiter die meist jüngere Mitarbeiter an ihrer Seite hatten. Das Wort führte dabei ausnahmslos der Ältere. Nur Lindemann hätte seinen Antrag im Alleingang verteidigen müssen. Im Nachhinein hatte sich Lindemann selbst in der Diskussion nicht viele Chancen ausgerechnet, zu niederschmetternd war der Ablauf der Veranstaltung gewesen. Nach den Vorwürfen des Chefs hatte sich Lindemann ein paar Tage Urlaub genommen und lag jetzt, den immer wieder in ihm aufsteigenden Groll niederkämpfend, am Strand.

Lindemann hat die Tüte noch nicht ganz aufgeraucht, als das Rauschgift bereits zu wirken beginnt. Sein Kopf fühlt sich angenehm leer an, seine Gliedmaßen scheinen ihm davon schweben zu wollen. Lindemann lächelt, es geht ihm gut. Er beschließt aufzustehen und in seine Herberge zu gehen. Er sammelt die Bierbüchsen in seinen Beutel, schnappt sich seine Schuhe und läuft langsam schwankend los. Er geht geradeaus, nur scheint es ihm als ob er schwankt, aber das stört ihn nicht. Sein Mund verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Die Schuhe hält er an den Schnürsenkeln fest. Sie schlenkern im Laufen gegen seine Beine. Er kommt an der Asphaltstraße an. Auch hier zieht er die Schuhe nicht an, sondern läuft barfuss weiter. Schließlich erreicht er das kleine Fischerdorf. Es kommen Leute entgegen, die ihn erstaunt anschauen. Über den Gartenzäunen lehnen Menschen, die ihm amüsiert und kopfschüttelnd hinterher blicken. Lindemann läuft, als müsse er auf einem schmalen Balken balancieren. Vorsichtig setzt er einen Fuß vor den anderen. Er legt den Kopf in den Nacken und schwebt immer noch grinsend barfuss mit hochgekrempelten Hosenbeinen die schnurgerade Dorfstraße entlang. Doch es werden immer mehr Leute an den Gartenzäunen und auf der Straße. Mühsam kämpfte er sich durch die Menschenmassen. Seine Kehle fühlt sich plötzlich rau und trocken an. Er würgt. Schnell torkelt Lindemann auf einen Betonpapierkorb zu, als er den Brechreiz spürt. Er lässt Schuhe und Beutel fallen und stützt sich mit beiden Händen ab. Dann übergibt er sich in den Papierkorb. Immer noch verspürt er Brechreiz, mal um mal muss er sich übergeben. Nach einer Weile stößt er sich ab, nimmt Schuhe und Beutel auf und läuft auf der menschenleeren Straße davon. Lindemann ist immer noch übel und er sieht die wichtigtuerische Fratze seines Chefs vor sich. Irgendwann, murmelt er, irgendwann ...




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