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Eingereicht am
15. April 2007

Drachenflug

© Enrico Andreas Brodbeck

Herbsttage. Ungestüm und kraftvoll weht der Wind über Land und Flur und des Sommers vergangener Glanz schwebte nur noch müde über die Tage. Bäume und Sträucher welkten zu einem Farbspiel von künstlerischer Hand geschaffen, und Blätter, ihrer Jugendkraft beraubt, leblos zu Boden fallen. Bizarre Wolkenfelder ziehen in mannigfaltigen Formationen am Himmel dahin und der Blätter letzter Tanz wird von des Windes Hand geführt. Brach liegen die Felder deren Kahlheit der Wind leise streichelte. Auf ihnen stehen sie, die Lenker mit ihren Drachen, die lustig schwingend von Wind getragen in die Lüfte steigen. Der Schwerekraft entrissen vollführten sie Trickflüge und schneiden geometrische Figuren durch die Luft. Vertrocknete Blätter, vom Wind angestachelt, steigen wild vom Boden auf, als wollen sie es den Drachen gleichtun. Doch der freie Wille des Windes lässt sie nachgiebig durch die Lüfte treiben. Kinder und Erwachsene haben sich auf einem freien Feld eingefunden, um an dem Spiel mit der Naturgewalt teilzunehmen. Die Szene erinnerte an ein Bild von Carl Spitzweg mit dem Titel "Drachensteigen". Kraftvoll und kontinuierlich bläst der Hauch des Windes und die Drachenlenker haben wenig Mühe mit ihren Drachen zu arbeiten.

Ein fünfjähriger Junge, der mit seinem Großvater an der Einzäunung des Feldes steht, schlüpfte unter dem Zaun hindurch und stellte sich unter die am Himmel stehenden Drachen. Hoffte er doch den Schweif eines Drachen erhaschen zu können, wenn ein Drachenlenker seinen Drachen etwas sinken lässt. Allzu gerne wäre er auch im Besitz solch eines modern Drachens, doch die Kraft eines Luftzuges hätte ihn unweigerlich vom Boden gerissen. Auch für versierte Drachenlenker konnte es zu einem Kraftakt werden, wenn der Wind launisch auffrischte und böig daher kam. Schlitten- Drachen, Schlangendrachen, Malay-Drachen, Delta- Drachen und Kastendrachen, sie alle gaben mit ihrem bunten Outfit ein Stelldichein am tristen Himmel der angereichert war mit grauen Wolken. Der Großvater des Jungen schaute gedankenversunken zum Himmel und sah einem Drachen nach, der im Aussehen seinem Drachen von einst ähnlich war.

Einfach war die Beschaffenheit der Konstruktion seines Drachens, den er zusammen mit seinem Großvater gebaut hatte. Ein Zweistabdrachen, dessen Aussehen unscheinbar wirkte, dessen Kreuz und eine Schnur die Basis für diese Bauart bildete. Als Bespannung nahmen sie dünnes Packpapier und am Rumpf des Drachens hatten sie einen Schweif befestigt, der mit fünf farbigen Schleifen den Flug stabilisieren sollte. Und weil sein Großvater der Meinung war, dass jeder Drache eine Seele habe, bekam der Drachen ein freundlich strahlendes Gesicht. Später als sein Drachen hoch am Himmel stand, hatte es den Anschein als würde es dem Drache Freude bereiten dort oben zu stehen. Mitunter hatte er Stunden damit verbracht hinauf zum Himmel zu schauen, wo sein Drachen vom Wind getragen stand. Manchmal, da ruckte es kräftig an der Leine, als wolle sein Drachen sich befreien um frei wie die Vögel über Land und Flur zu fliegen. Dann, wenn die Herbststürme unbändig über das Land fegten, hatte er oftmals seinen Drachen zu einem Wettfliegen in die Lüfte steigen lassen, zu dem ihn die Nachbarjungen herausgefordert hatten. Viele Drachen erlangten dabei ihre Freiheit, nur sein Drachen, der scheinbar eine Seele hatte blieb ihm erhalten. Er flog am höchsten und als kleiner Punkt am Himmel ausfindig zu machen. Damals war er ein Drachenmeister, der fast jeder Herausforderung gewachsen war.

Der kleine Junge kam zurück zum Zaun und zupfte an die Jacke des Großvaters. Er zeigte freudig erregt auf einen Schlangendrachen, der in seiner Form einer Raupe ähnelte.

"Bekomme ich auch so einen?", hörte der Großvater eine ferne Stimme, die ihn aus der Vergangenheit heraus riss.

"Später vielleicht, wenn du etwas größer und kräftiger bist", antwortete er beiläufig, doch die Vergangenheit holte ihn langsam wieder zu sich zurück.

Der Junge ging zurück aufs Feld und genoss das ausgelassene Spiel mit Gleichaltrigen. Das freudige Gelächter drang vor bis in die Erinnerung des Großvaters und vermischte sich mit den heiteren Tagen seiner Kindheit.

Wie gerne hätte er damals das Spiel mit dem Drachen fortgesetzt. Nach und nach verschwanden die Drachen vom Himmel und ebenso die Kinder der Umgebung. An Stelle der heiteren und unbefangenen Kindertage traten straffe Ideale, deren Zwang sie sich nicht widersetzen konnten. Plötzlich wurden Freunde zu Kameraden und liebgewonnene Nachbarn zu Feinde, von denen man sich abwendete. Drachen stiegen zu jener Zeit im Herbst nicht mehr auf, denn zunehmend verdichtete sich der Himmel mit anderen Farben. Flugmaschinen zeichneten am Himmel Bilder des Grauens und ein ideologischer Wind trieb sie weit in die Ferne. Sie flogen über andere Länder und zeigten dort ihr hässliches Gesicht, das seelenlos und verbissen wirkte. In den folgenden Jahren überquerte er mit seinen neuen Kameraden etliche Felder, die stumm und ausgemergelt dalagen. Der Wind blies leise weinend eine Weise über ihre verkohlten Flächen. Es war die Weise von spielenden Kindern, die einst lachend ihren Drachen in seine Obhut gaben. Jahr um Jahr verging bis sie innerlich ausgebrannt waren, so wie die Felder die sie hinterließen. Als die Entscheidung fiel gab es keine Zeit zum Drachensteigen, denn ihre Jugend war verloren. Der frühere Kinderglanz, der sich einst in ihren Augen spiegelte, war verschwunden. Eine neue Zeit erhob sich aus der Asche und ein neuer ideologischer Wind fegte durch die Felder der Ruinen. Zeit um verlorene Kinderträume nachzuholen war nicht da.

Langsam löste sich der Großvater von den verblassten Bildern der Vergangenheit.

Der kleine Junge hatte sich unterdessen unter ein Drachenmodell gestellt, das majestätisch seine Bahnen am Himmel zog. Er legte den Kopf weit in den Nacken um ihn besser beobachten zu können. Für einen Moment drehte sich der Junge herum und der Großvater sah die Freude in den Augen des Jungen, die ihm den verlorenen Glanz seiner Kinderaugen von damals widerspiegelten. Dann schaute er empor zum Himmel, wo sein Augenmerk auf einen "Malay-Drachen" fiel, der mit ruhigen Bewegungen am Himmel stand. Für einen kleinen Moment, war es ihm, als stünde sein erfolgsgekrönter Drachen dort am Himmel, und es war, als würde sein Herz frohlocken, wie einst in seinen Kindertagen. Lange unterdrückte Gefühle drangen empor und eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und floss über seine Wange.

"Schau Opa, wie schön all die Drachen fliegen", frohlockte der Junge und hüpfte mit erhobenen Händen am Boden herum. Es sah aus als wollte er es den Drachen gleichtun und ihn folgen. Gerne hätte der Großvater es dem Jungen gleich getan. Er überquerte den Zaun, bückte sich und nahm seinen Enkel behutsam in die Arme.

"Komm mein kleiner Drachenjunge, ich glaube wir müssen dringend etwas erledigen!"

Als sie am späten Nachmittag zu Hause waren, war der Zauber vom Nachmittag längst verweht und eine verblassende Erinnerung trugen sie in sich. Die Normalität und die Enge des Alltags pferchte sie in ihre kleinen unscheinbaren Wohnungen ein, als die Tür hinter ihnen in Schloss fiel. Fliegen und so frei sein wie ein Vogel, davon träumten beide in dieser Nacht, und mit bunten Drachen ließen sie sich in die Lüfte heben, und ihr Traum war erfüllt mit Glückseligkeit.

In der folgenden Woche hatte der Großvater für den Bau eines Drachens Materialien eingekauft. Leisten, dichter Baumwollstoff in verschiedenen Farben, Klettband, Knöpfe und 200 Meter Drachenschnur hatte man ihm in einem Fachgeschäft zusammengestellt.

Zusammen mit seinem Enkel fertigte er in zwei Tagen einen wunderschön anmutenden Drachen, der ein Gesicht, Fransen an den Enden und einen Schweif mit fünf Schleifen hatte, genau so wie er ihn in Erinnerung hatte. Am kommenden Wochenende gingen sie wieder zu dem Stoppelfeld, wo Drachenlenker mittlerweile ihren Stammplatz hatten. Viele moderne Drachen zierten mit ihren bunten Farben bereits den Himmel, als die Beiden sich daran begaben ihren Drachen in die Lüfte heben zu lassen. Die Windverhältnisse waren gut und staunende Blicke aus dem nahen Umfeld verfolgten ihre Bemühung, die nach kurzer Zeit von Erfolg gekrönt war.

"Schau Opa, der Drache lächelt mich an", jauchzte der Junge, als er nach dem Schweif zu greifen versuchte, der sich langsam, vom Drachen gezogen, in die Lüfte erhob. Und während alle anderen Drachen gut sichtbar am Himmel ihre Kreise zogen, erhob sich ihr Drachen langsam weit hinauf zu den Wolken. Mit Hilfe des Großvaters durfte der Junge die Wicklung in seinen kleinen Händen halten, und stolz schauten beide zum Himmel. Freude spiegelte sich in ihren Augen und in diesem Moment dachten beide insgeheim das gleiche.

"Flieg mein lieber Drachen, flieg!"




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