"Aufmachen, schön weit aufmachen, gleich haben Sie es überstanden."
Andrea hörte die Stimme des Zahnarztes, der seit zehn Minuten mit allerlei Folterinstrumenten an ihrem Weisheitszahn herumwürgte und sie hätte schwören können, dass dies die längsten zehn Minuten ihres bisherigen Lebens gewesen waren.
Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Am Abend zuvor hatte überraschend Mark angerufen. "Ich bin am Wochenende geschäftlich in Kopenhagen, können wir uns sehen?" Was für eine Frage ! Natürlich wollte Andrea ihn sehen, schließlich hatte sie ihn seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen, seit 3 Monaten, 15 Tagen und 22 Stunden, um ganz genau zu sein. Er war der Mann, der, seit sie ihn bei ihrem Aufenthalt in den U.S.A. kennen gelernt hatte, ihre Gedanken und Gefühle völlig beherrschte, vielleicht der
Mann ihres Lebens. Ein Flugticket war auf die Schnelle natürlich nicht mehr zu bekommen und die Strecke München-Kopenhagen ein ziemlicher Weg, aber in ihrem kleinen schnellen Flitzer war das durchaus an einem Tag zu schaffen, wenn sie ganz früh los fuhr und die Autobahnen einigermaßen frei waren. Und für Mark war ihr kein Weg zu weit. Um Sechs war sie von München gen Norden aufgebrochen. Es versprach ein schöner Tag zu werden, im Autoradio lief tolle Musik und zunächst war sie gut vorangekommen. Ein kleiner
Stau bei Nürnberg, aber das war's auch schon. Frankfurt und Kassel links liegen gelassen. Bis Hannover lief' s auch noch flott. Immer linke Spur full speed. Mark, ich komme. Aber kurz nach Hannover hatte sie dann plötzlich diese Zahnschmerzen bekommen. Sie hatte gleich gewusst, dass ist der Weisheitszahn oben links. Der müsste gelegentlich raus, hatte ihr Zahnarzt gesagt, aber es hatte nicht so geklungen, als sei das sehr eilig. Bei Lüneburg war sie dann von der Autobahn abgefahren, um sich in einer Apotheke
ein paar Schmerztabletten zu besorgen und der Zahn hatte dann auch eine Weile Ruhe gegeben. Am Dienstag, wenn sie aus Kopenhagen zurück war, würde sie sofort zum Zahnarzt gehen, und das verdammte Ding ziehen lassen. Aber dieses eine Wochenende, dieses wichtige Wochenende mit Mark in Kopenhagen, bitte bitte, sollte er sie noch in Ruhe lassen. Hinter Hamburg war der Verkehr dichter geworden. Sie musste etwas vom Gas runter und bei Neumünster hatte sie in dem ersten richtigen Stau gestanden. Der Reiseverkehr zur
Ostsee, eine Baustelle, ein schwerer Auffahrunfall mit Polizei und Krankenwagen. Stop and Go und dann totaler Stillstand. Der Zahn meldete sich wieder und Andrea hatte plötzlich das Gefühl, dass sie eine dicke Backe bekam. Das war nun das Allerletzte, das sie gebrauchen konnte. Jetzt musste sie hier doch noch zum Zahnarzt, aber wo sollte man an einem Samstag um Sechs in dieser Gegend noch einen Zahnarzt auftreiben? Zum Glück gibt's überall einen Zahnärztlichen Notfalldienst, dessen Nummer einem die Auskunft
mitteilen kann. Die freundliche Stimme von der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein hatte ein paar dienstbereite Praxen in der Region genannt. Der nächste Zahnarzt auf dem Weg zur dänischen Grenze sei gar nicht weit, in Rendsburg. Auf der Autobahn eigentlich kein Problem, immer gerade aus, aber die war ja dicht. Also die nächste Ausfahrt runter und auf Schleichwegen über Landstraßen nach Rendsburg und sich dann bis zur XY-Straße durchgefragt. Inzwischen war es Halbacht. Der Zahnarzt war nicht gerade begeistert
gewesen, dass Andrea ihn vom Fernseher weggeholt hatte, wo gerade das Länderspiel lief. Aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps und so hatte Andrea noch vor der Halbzeitpause auf seinem Behandlungsstuhl gesessen. Es sei der 2-8, der Weisheitszahn oben links, hatte der Dentist Andreas Vermutung bestätigt, der müsse extrahiert werden, aber das sei überhaupt kein Problem. Dann war er mit der Betäubungsspritze gekommen. "Aufmachen, schön weit aufmachen ..."
Jetzt dauerte es schon fast eine Viertelstunde. Andrea versuchte an etwas Schönes zu denken. An Mark, an das kommende Wochenende, den nächsten gemeinsamen Urlaub, vielleicht in der Karibik. Aber es gelang ihr nicht. In ihrem Oberkiefer knackte und knirschte es fürchterlich, sie hatte das Gefühl, er würde gleich auseinander fliegen, und klammerte sich an der Armlehne des Behandlungsstuhls fest. Auf der Stirn des Zahnarztes zeigten sich erste Schweißperlen. Sein Tennisarm machte ihm ziemlich zu schaffen und Andrea
sah, dass es ihm echt peinlich war, dass er sie so quälen musste. Dann endlich - ein plötzlicher Ruck und das gemeinsame Gefühl der Erleichterung. "Na wer sagt's denn, bitte spülen ..."
Der Zahnarzt vernähte die Wunde und legte eine Tamponade. "So, das war's. Sie sind erlöst. Heute nichts mehr essen und die Backe kühlen. Und die 10 EUR Praxisgebühr bitte." Die freundliche Zahnarzthelferin befreite Andrea von dem blutbefleckten Plastikumhang und half ihr aus dem Behandlungsstuhl. Andrea sah auf die Uhr. Es war erst Acht. Wenn sie sich ran hielt, konnte sie es noch gut bis Kopenhagen schaffen.