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Eingereicht am
01. Juni 2007

Zufall

© Onivido Kurt

Auf der Heimreise von Helsinki nach Caracas war sein Flugzeug verspätet in Frankfurt gelandet. Jetzt hastete er, den grünen Markierungen folgend, auf den "Treffpunkt" zu. Er erkannte sie auf den zweiten Blick, die immer noch gute Figur mit einem weiten Pullover und einer zu grosszügig geschnittenen Hose behängt und so wie das für Frauen über vierzig in Deutschland schicklich zu sein scheint, mit flachen Schuhen, keiner Spur von Make-up und das ehemals wilde, goldblonde, schulterlange Haar züchtig kurz geschnitten. Da er in der einen Hand einen Aktenkoffer trug und in der anderen eine Plastiktüte mit einem Geschenk fuer sie, konnte er sie nicht umarmen.

Freundschaftlich keusch küsste er sie auf die Wange.

"Irene, warum hast du dir denn deine Haare abgeschnitten?"

"Roderick, ich bin Mutter von vier Kindern und kann nicht wie ein Teenager herumlaufen."

Da es ihm nicht gelang einen Zusammenhang zwischen den vier Kindern und den langen Haaren zu finden, schien es ihm klüger das Thema fallen zu lassen.

Sie schlängelten sie sich durch die Menge hin zum "Quo Vadis", einem italienischen Restaurant, setzten sich an einen etwas abseits stehenden Tisch und bestellten Bier und Piña Colada.

"Irene, es hat mich meinen ganzen kriminalistischen Scharfsinn gekostet dich aufzuspüren."

"Ich wusste gar nicht, dass dir so viel daran lag.

Früher war das jedenfalls nicht immer so."

"Das kam dir nur so vor. Ein junger Bursche braucht eben ein bischen Spielraum und Spass."

"Das Dumme dabei war nur, dass man bei dir nie wusste, wo der Spass aufhörte und der Ernst anfing."

"Zugegeben, das hat sich auch nicht geändert, dazu gehört Intuition."

Zwei Männer setzten sich an den Nebentisch. Sie waren in helle Anzüge gekleidet und offensichtlich Ausländer.

Unwillkürlich dämpfte Irene ihre Stimme ein wenig.

"Na ja, das ist ja jetzt egal", meinte sie. "Wie geht's dir denn. Erzähl doch mal was von dir."

"Ach, was gibt es denn da viel zu erzählen. Ich löffle aus, was ich mir eingebrockt habe."

"Das klingt aber dramatisch und dir gar nicht ähnlich.

Gut siehst du aus, - sportlich. Wo fehlts denn?"

"Willst du das wirklich wissen? Du weisst ja gar nicht was du dir da antust. Wenn ich erst mal anfange kann man mich nicht mehr bremsen und dann wirst du wahrscheinlich weinen vor lauter Mitleid.".

"Nun komm schon. Sprich dich aus!"

"Was willst du zuerst hören, die wirtschaftliche oder die sentimentale Seite meiner Leidensgeschichte?"

"Du machst es aber spannend. Also gut, fang mit dem sentimentalen Teil der Geschichte an."

"Natürlich, typisch Weib."

"Noch ein Bier bitte und eine Piña Colada mit einem extra Schuss Bacardi", rief er dem Kellner zu.

"Ohne den Rum schaffst du das Zuhören nicht", warnte er Irene.

"Also meine Frau will von mir nichts mehr wissen, meine Kinder sind fast nie zuhause und ich bin verliebt in eine Achtundzwanzigjährige."

"Allerhand und natürlich hast du an all dem keine Schuld?"

"Habe ich doch gar nicht gesagt. Wenn doch alles so einfach wäre. Ich meine alles wäre entweder schwarz oder weiss."

Irene sagte nichts und Roderick nahm einen langen Schluck Bier. Am Nebentisch war eben ein Mann angekommen, sehr gross und breitschultrig. Er hatte kurzes, dunkelblondes Haar, trug weite Blue Jeans und ein kariertes Hemd. Der Aktenkoffer in seiner linken Hand wirkte fehl am Platz.

"Buenos dias!", grüsste er mit dröhnender, rauher Stimme.

Spanier, unverkennbar.

"Hola! ¿Que hubo?", kam kaum hörbar die Antwort. Aus der Karibik diagnostizierte Roderick die Herkunft der anderen beiden Männer.

Flüchtig sah er in ihre Richtung und warf einen Blick auf das Gesicht eines der Männer. Es kam ihm bekannt vor, wahrscheinlich nur, weil er aus der Karibik kommt, dachte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Irene zu.

"Wie ist das mit der Achtundzwanzigjährigen", wollte sie wissen.

"Du hast doch früher immer so gelacht über die älteren Herren mit einer jüngeren Freundin. Mit meinen fünfzehn fandest du mich fast zu jung, als du gerade achtzehn warst."

"Man ändert sich eben", sagte er und versuchte etwas von dem Gespräch am Nebentisch zu erlauschen.

"Hallo, ich bin noch da. Du musst ja ganz schön vernarrt sein in das Mädchen, wenn du schon beim Gedanken an sie sofort abschaltest", fehlinterpretierte Irene Rodericks Schweigen.

"So schlimm ist es auch wieder nicht", sagte er lachend.

"Na gut, erzähl mal! Wie bist du denn zu dem Mädchen gekommen? Sie ist doch nicht einfach mal beim Aufwachen in deinem Bett gelegen."

"Nein, aber ich habe einen wohlgeformten Hintern gesehen und als ich der Besitzerin ins Gesicht sah, blickten mich zwei schwarze Augen fragend an und …."

"Und du fandest deine Zwillingsseele, zwanzig Jahre jünger?"

"Du kannst gut spotten. Okay, uns trennen Alter, Kultur, Schulbildung und jetzt auch noch 250 km Landstrasse. Sie ist wirklich nicht aus der gehobenen Gesellschaft, aber ich möchte sie immer bei mir haben.

Ich schlafe nur gut, wenn ich ihren Kopf an meiner Schulter fühle."

"Mein Gott, das ist ja schlimmer als erwartet. Du hattest doch früher immer so einen kühlen Kopf. Hat dir die Tropensonne das Gehirn ausgesaugt? Was glaubst du wohl, warum das Mädchen sich mit dir abgibt. Für ihre Verhältnisse bist du doch ein Mann mit Geld.

Wovon lebt sie denn?"

"Ja, Irene, das ist ja gerade das Eigenartige. Allem Anschein nach ist sie auch in mich verliebt. Ich bin sogar felsenfest davon überzeugt. Wieso würde sie sonst ihre Zeit mit mir verbringen. Sie hat von mir noch nie einen Bolivar bekommen."

"Mensch, dein Ego möchte ich haben. Es käme dir also nie in den Sinn, dass sie nur finanzielle Sicherheit sucht. Wovon sprecht ihr denn? Was habt ihr denn gemeinsam?"

"Das ist kein Problem. Themen haben wir immer genug.

Ausserdem haben unsere gemeinsamen Erlebnisse für Gesprächstoff gesorgt."

"Gemeinsamme Erlebnisse, das klingt aber etwas hochtrabend. Was für welche denn zum Beispiel?"

"Na ja, wir haben die Halbinsel von Paria zu Fuss überquert. Bei unserem ersten Ausflug ans Meer wären wir beide beinahe ertrunken. Da kann man dann eine Menge darüber reden."

"Oh, wie abenteuerlich", spottete Irene.

"Hast du sonst noch was in der Richtung auf Lager?"

"Ja doch, da war noch dieser Raubüberfall."

"Interessant, erzähl doch mal."

"Wieder sah Roderick verstohlen den Mann am Nebentisch an. Alarm schrillte in ihm. Das konnte doch nicht sein. Dennoch der sandfarbene Schnurrbart des einen Südamerikaners war eingeätzt in sein Gedächtnis. Er gehörte zu einem der Autoräuber, von denen er Irene gerade erzählen wollte. War das möglich? Was sollte der Kerl in Frankfurt?"

"Machs nicht so spannend, rede schon."

Während Roderick Irene den Vorfall schilderte, fühlte er wieder den Lauf der Pistole in seinem Rücken, sah die Angst in Anas Augen, fühlte seine erbärmliche Hilflosigkeit und auch wieder den Zorn. Dann überfiel ihn das Jagdfieber. In Sekundenschnelle erstanden und zerfielen Pläne. Hitzige Gedanken brandeten in sein Bewusstsein und verebbten. Hier in Deutschland hatte er nicht den Ganoven, sondern möglicherweise die Polizei zu fürchten, falls er sich zu einer

Vergeltungsmasnahme entschloss.

Er sah auf die Uhr.

"Irene, es ist Zeit. Das nächste mal erzählst du von dir. Ich hätte auch gerne ein bischen gelacht.

Ausserdem bin ich Meister im Lösen der Probleme meiner Mitmenschen, nur bei meinen eigenen happert es noch."

"Das war eigentlich gar nicht zum Lachen. Ah, und rufe das nächste mal ein paar Tage vor deiner Ankunft an", meinte Irene.

Sie zahlten und gingen zur Tiefgarage.

Bei Irenes Mercedes angekommen umarmte sie Roderick und er überraschte sie mit einem Kuss auf die Lippen.

Dann wandte er sich ab und ging in Richtung "Quo Vadis" zurück. Ausser Irenes Sicht, sprintete er auf die Treppe zum Geschoss über der Tiefgarage zu. Die beiden Südamerikaner vom Nebentisch kamen soeben herunter. Er ging an der Treppe vorbei und blieb hinter ihr stehen. Die Männer gingen in entgegengesetzter Richtung und hielten bei einem BMW an. Lautlos bewegte er sich auf sie zu. Einer der Männer trug den Aktenkoffer des Spaniers und der andere öffnete gerade den Kofferraum, als sie ihn bemerkten. Sie sahen ihn herausfordernd an, als wollten sie sagen:

"Verschwinde!"

Roderick lächelte entschuldigend, ging langsamer und fing an mit der freien Hand nach einem imaginären Autoschlüssel in seiner Hosentasche zu suchen. Vor dem Kofferraum des Wagens neben den Männern stellte er seinen Aktenkoffer auf den Boden, drehte sich in ihre Richtung und versetzte dem ersten einen Handkantenschlag unter das linke Ohr, der ihn besinnungslos zu Boden sinken lies. Dem Mann mit dem langen, sandfarbenen Schnurrbart, peitschte er seinen linken Fuss in die Genitalien, ein stilvoller Mae-keri, Überbleibsel aus seiner Karatezeit. Als der Mann sich vor Schmerz krümmte und nach vorne kippte, landete Roderick wieder einen Handkantenschlag, diesmal ins Genick. Hastig sah er sich um. Weit und breit keine Menschenseele. Er packte den Kerl mit dem Schnurrbart mit der einen Hand an der Krawatte und mit der anderen am Gürtel und hievte ihn mühevoll in den Kofferraum des BMW. Plötzlich überkam ihn Panik. Er schloss den Kofferraum, schleifte den anderen Mann zwischen die geparkten Fahrzeuge, zog den Trenchcoat aus, wickelte ihn um den Aktenkoffer seiner Opfer, nahm ihn wie ein Paket unter den Arm und fasste seinen eigenen Koffer mir der freien Hand. Wieder sah er sich um. Eine Sektion weiter war ein Koffer schleppendes Paar zu sehen, sonst niemand. Schnell hastete er die nächste Treppe hoch, suchte ein WC, wartete bis eine Kabine frei wurde und schloss sich dann ein. Zu seiner Überraschung war der Koffer nicht verschlossen. Er war bis zum Rand mit gebündelten Banknoten gefüllt. Es gab Bündel von Hundert-, Zweihundert- und Fuenfhunderteuroscheinen. Im Koffer musste fast eine Million sein, oder mehr, viel mehr.

Es leuchtete ihm ein, dass er sich soeben mit einem Drogenkartell angelegt hatte. Wenn ihn der Schurrbartmann erkannt hatte, war sein Leben ab jetzt nichts mehr wert, aber es gab kein zurück.

In Caracas verbrachte er die nächsten Tage in stetiger Angst vor Fremden, die in seine Nähe kamen. Nur weil ihn jemand anblickte wechselte er die Strassenseite, stieg aus der U-Bahn, verliess sogar hastig ein Restaurant ohne zu bezahlen.. Sein Verfolgungswahn legte sich, als er in der on-line Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen eine Schlagzeile las:

"Mordserie in Frankfurt reisst nicht ab"…...alle Opfer waren wegen Drogendelikten vorbestraft. Die Polizei vermutet einen Bandenkrieg zwischen internationalen Drogenringen.."

Roderick lächelte zufrieden. Ohne es zu wollen hatte er diesen Krieg angezettelt. Es gefiel ihm, dass er dadurch sein Heimatland von einigem Ungeziefer befreite und so vielleicht einen Teil der Gebühren seines kostenlosen Studiums zurückerstattete.

Übrigens half das Koffergeld auch zu einer Scheidung ohne das demütigende Gezanke über materielle Ansprüche. Roderick war jetzt frei um ein neues Leben zu beginnen, mit Ana, der achtundzwanzigjährigen. Sein mathematisch geschulter Verstand aber verhedderte sich an der Nummer 28. " 28, 49" Ein Veto seines Intellekts beendete die Affäre Rodericks Herz versteht nichts von Mathematik. Oft erwacht er mit feuchten Augen. Im Schlaf hat er geweint.




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