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Kein Paukenschlag© Günter J. Matthia
I fought with my twin
Er geht, wie er gelebt hat. Kein Paukenschlag. Kein Selbstmord, kein Unfall, keine schwere Krankheit. Er verlässt einfach diese Welt, still und weitgehend unbemerkt.
In seinen letzten Tagen denkt er zurück, erinnert sich, birgt manches aus dem Gedächtnis, was über Jahrzehnte verschüttet war. Die Träume als Kind: Erfolgreicher Rockmusiker, tapferer Kämpfer, vielgelesener Autor. Die Träume als Jugendlicher: Glückliche Ehe, sorgenfreie Familie, geborgenes Alter. Die Träume als Erwachsener: Glückliche Ehe wenigstens beim zweiten Versuch, erfolgreiches Lernen aus Fehlern, endlich positive Wirkung seines Lebens auf andere. Seine Erinnerungen sind vielgestaltig und widersprüchlich. Manches erfreut ihn, allerlei berührt ihn kaum, vieles schmerzt nur.
Freude. Als Neunjähriger schreibt er eine wöchentliche Zeitung für die Familie, mit der Hand, drei identische Exemplare. Es gibt seinerzeit weder Computer, noch besitzt die Familie eine Schreibmaschine. Kurze Erzählungen (Wie ich einmal ins Wasser fiel), Familiennachrichten (Mein Bruder hat gestern eine Eins in Deutsch bekommen) und allerlei Unfug (Kriegen Kühe schlechtes Futter, wird's Margarine anstatt Butter) füllten die je vier Seiten; ergänzt durch kleine Zeichnungen. Sein Bruder, seine Mutter und die Oma kaufen regelmäßig für 20 Pfennige das Familienblatt und lesen es, nach ihrem Bekunden, mit Interesse.
Indifferenz. Der Entschluss, die Gitarre an den sprichwörtlichen Nagel zu hängen, gerade als er mit seiner Band zunehmenden Erfolg hat. Erleichterung, nicht mehr die nervenaufreibenden Proben mit den menschlich inkompatiblen und künstlerisch harmonierenden Musikern zu durchleiden. Verlustgefühle weil die von ihm so geliebten Auftritte nicht mehr stattfinden werden. Nie wieder die schlechte Laune der Ehefrau wegen der im stickig verrauchten Übungskeller verbrachten Stunden, aber auch nie wieder der Blick von der Bühne in Hunderte Augen, diese unbeschreiblichen magic moments, wenn zwischen Musiker und Zuhörer der Funke überspringt.
Schmerz: Seine fünfzig Jahre auf der Erde sind durchwoben von seiner Unfähigkeit, verstanden zu werden. Häufig sind es ausgerechnet die Menschen, die er liebt, die sich von ihm ungeliebt empfinden. Was hat er nicht alles versucht. Lieder komponiert für die, der seine Liebe gilt. Erzählungen verfasst für die, der seine Liebe gilt. Schweigen statt zu klagen für die, der seine Liebe gilt. Jahrzehntelange Gewohnheiten aufgeben für die, der seine Liebe gilt. Und das nicht unter Qualen, sondern gerne und mit frohem Herzen: "Nun werde ich verstanden werden." Und dann der Schmerz der Erkenntnis, dass dies einmal mehr nicht gelingt.
Schließlich, nach fünfzig Jahren, sind seine inneren Kräfte aufgebraucht. Er hatte sich entschieden, so zu leben, immer wieder einen Weg gesucht und nie gefunden, wie er wohl in diese Welt und eine, seine Familie passen könnte. Manch einer hatte ihm geraten, mehr für sich selbst zu leben, doch war ihm dies seit Kindheit fremd. So fremd wie eine Möglichkeit, sich wirklich mitzuteilen. In einem erdichteten Dialog mit seiner Frau hatte er sie sagen lassen: "Der Stunden schweigt, will Worte von mir heischen?" Er will keine Worte mehr heischen. Er will nicht mehr weiter. Er hat keinen Vorrat an Ideen mehr, wie er sich offenbaren könnte. Was sollten auch zwei oder drei weitere Jahrzehnte seinem Leben noch hinzufügen, was die ersten fünf zu bringen nicht vermochten?
Es geht ihm nicht schlecht, als er die Erde verlässt. Er hat eine gut bezahlte Arbeit, er hat Freunde, er hat eine Frau, die er noch immer liebt wie am ersten Tag. Er hat eine Wohnung, Kleider im Überfluss, leidet weder Hunger noch sonst materiellen Mangel. Kein Reichtum ist ihm zwar beschieden, aber auch keine Armut. Genug von allem und darüber hinaus. Er hat Aufgaben und Dienste, die er gerne tut. Er kann gar gewisse Erfolge als Autor verbuchen. Kein Bestseller trägt seinen Namen, doch immerhin gibt es zahlreiche Leserinnen und Leser, die hier und da mit Kommentaren und Zuschriften ihre Zufriedenheit äußern. Es ist nicht so, dass er Mangel leidet, abgesehen vom Mangel, den er als treuen Begleiter seines Lebens kennt. Er ist so sehr Teil seines Lebens, dass er ohne ihn wohl etwas vermisst hätte. Was wäre geschehen, wenn er es irgendwann fertig gebracht hätte, dass jemand ihn wirklich erkannte und verstand?
Das Erkennen im biblischen Sinne vom Gleiten eines Penis in eine Vagina hat er erlebt und genossen, aber das Erkennen eines Gegenüber, wer er wirklich tief im Innersten ist, das ist selbst in den beiden Ehen nicht gelungen. Die zweite Ehe, nicht in jugendlichem Verliebsein wie die erste eingegangen, ist immerhin von echter Liebe geprägt. Von mehr Gemeinsamkeit. Von mehr Zärtlichkeit. Von mehr zufriedenen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten. Man hält ringsum die Ehe für gelungen, die Partner für glücklich. Meist sind sie es auch, denn er kann für lange Perioden seinen Schmerz verdrängen. Und doch nagt unentwegt der Zweifel an seiner Seele: "Versteht sie dich denn wirklich? Akzeptiert sie dich, so wie du bist? Oder will auch sie dich umgestalten, will auch sie in Wahrheit einen anderen Menschen als den, dem sie das Jawort gab?" Und immer, auch in unbeschwerten Zeitabschnitten die alte Angst: "Wenn ich liebe, füge ich Schmerzen zu."
Die Angst lässt ihn die wahre Liebe seines Lebens lange von sich weisen. Dann siegt die Liebe, und mit ihr der Hoffnungsschimmer, dass nun der Mensch gefunden ist, der ihn erkennen wird, begreifen kann. "Nun wird sich alles wenden", glaubt er fest und unerschütterlich, "ich kann ich sein und werde doch geliebt." So häufig, wenn sie beieinander liegen, sind beider Augen offen. So hofft er sehr, dass auch das Liebesspiel beiträgt und hinführt zu dem einen Tag, an dem er sich geliebt und angenommen wissen wird. Nie war einer Fremden Gelegenheit geworden, ihn auch nur anzurühren dort, wo der Ehefrau der Zugriff gern gestattet ist. In seinen Erzählungen gibt es die Treue kaum, die er so beharrlich lebt. Ersonnene Figuren mögen auch zur Unzucht fähig sein, ihm jedoch ist die Ehe heilig. Doch hat er die Liebe seines Lebens je erkannt? Und hat je sie erkannt, wer mit ihr sich teilen will?
"Ich will zu viel", sagt er sich oft in seinen letzten Tagen. "Wer sagt, wo steht geschrieben, dass es makelloses Glück auf dieser Welt zu geben hat? Warum gebe ich mich nicht zufrieden mit dem Standard, finde mich ab mit den Tatsachen?" Er versucht es, ohne Zweifel, über viele Jahre. Bleibt treu. Bleibt redlich. Bleibt wer er ist und wie er ist, obwohl er äußerlich der Liebe wegen manches an sich ändert. Mehr als zehn Jahre glaubt er, dass sie ihn wirklich wird lieben können, ihn, der stets fühlt, doch ohne es zu zeigen, der hungert nach dem Augenblick, der niemals kommt. Und immer schweigt er über seine Angst. Er will und darf sie nicht verletzen, die ihm so kostbar ist.
Doch weint sie seinetwegen. Sie leidet an ihm. Sie wird verletzt von dem, der nichts als Gutes für sie will. Er kämpft mit sich, dem Feind, der in ihm wohnt, dem Mann, der gegen seinen Willen Tränen in die wunderschönen Augen der Geliebten treibt. Nicht einmal, nein, das wäre noch verdrängbar. Erneut. Erneut. Und wieder ist er stumm, unfähig seine Seele auszusprechen. Dann gibt er auf. Ist ihm das vorzuwerfen? Wer kann ermessen, wie die Kraft entschwunden war? Und wer vermag den Finger auszustrecken gegen einen, den niemand jemals wirklich kannte? Wer könnte sagen, dass ein fortgesetztes Leben noch tatsächliche Veränderungen zeigt?
Er geht ohne Paukenschlag. Nichts Spektakuläres, kein Publikum, keine Schlagzeilen. Er legt sich am Abend in sein Bett, sagt seiner Frau "ich liebe dich" und steht am Morgen nicht mehr auf. |