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Eingereicht am
29. Juni 2007

OM

© Petra Wilhelmi

"Die Dunkelheit umfängt mich, tiefschwarz breitet sie sich aus, greift mit gierigen Fingern nach mir und umarmt mich. Ich kann mich nicht bewegen. Wo bin ich? Was passiert mit mir? Das Atmen fällt mir schwer. Die Finsternis sitzt auf meinem Brustkorb und presst ihn zusammen. An mein Ohr dringt Gemurmel. Stimmen. Welche Gesichter gehören dazu? Die Finsternis verbietet mir den Blick nach draußen. Ich höre ein rhythmisches Piepen. Es kommt von einem anderen Stern, nicht aus meiner dunklen Glocke. Gedankenfetzen durchblitzen mein Gehirn, streifen schmerzhaft meine Nervenbahnen. Wer bin ich? Erinnerungssplitter puzzeln sich langsam zu einem Ganzen. Ein Film ruckelt vor meinem dritten Auge. Er erzählt mir, wer ich bin. Agatha. Ich bin Agatha."

Sie sah sich aus der Haustür flitzen, die grauen Löckchen waren nicht ordentlich gerichtet. Sie hatte ihre grünliche Wolljacke nur flüchtig übergeworfen. Was wollte sie? Ihr fiel es nicht ein. Die Gedanken zerfaserten. Sie konnte das Bild nicht festhalten. "Wenn es nur nicht so dunkel wäre", schoss es ihr durch den Kopf. Das Gemurmel außerhalb der Schwärze wurde lauter. Einzelne Worte sickerten in die Finsternis. Hörte sie nicht ihre Tochter? "... warum nicht aufgepasst? ... ein LKW! ..." Die Wortfetzen stimulieren ihre grauen Zellen. Die Schwärze bekam einzelne helle Punkte. Agatha erinnerte sich mühsam. Sie wollte nur noch schnell in die Bäckerei rennen, die bestellte Torte abholen. Ihre Tochter hatte sich mit ihrem Freund zum Besuch angesagt. Die Schwedische Torte von diesem Bäcker aß sie besonders gern. Ein kurzer Weg, schräg über die Straße. Sie war ihn schon so oft gegangen. "Was habe ich dieses Mal anders gemacht?", überlegte Agatha, "Ich hatte meine Brille vergessen!" Ohne Brille war sie so gut wie blind. Warum hatte sie die Brille vergessen? Sie wusste es nicht mehr. Plötzlich hörte sie wieder das laute Hupen. Es gellte in ihren Ohren nach. Reifen und Bremsen quietschten, Glas splitterte. Der darauf folgende Schlag, den sie spürte, war in ihrem Gedächtnis gespeichert worden. Sie fühlte noch, wie sie hochgeworfen wurde, sich in der Luft drehte und dann hart auf den Boden aufschlug. Ihr schwarzer Einkaufsbeutel segelte durch die Luft und die braunen Schlupfschuhe wurden von ihren Füßen geschleudert. Ein nie zuvor erlebter Schmerz zuckte durch ihren Körper, einem Blitzschlag gleich. Dann war's dunkel um sie herum. Die Welt war von jetzt auf gleich verändert, innerhalb von Sekunden.

Die Finsternis bedrängte sie wieder stärker, rückte näher an sie heran. Agatha fühlte, dass sie auf einem Bett lag, umhüllt von einer weichen Decke, die ihr gut tat. Schläuche an ihrem Arm und in ihrem Mund fesselten sie, machten sie bewegungsunfähig. Sie meinte das Glucksen einer Infusion zu fühlen, die tröpfchenweise Flüssigkeit in ihren Körper pumpte. Sie glaubte, saugende und fauchende Geräusche, wie von einer Maschine, zu hören und spürte den Hauch einer Berührung auf ihrem zerzauselten Haar. Dieses sanfte "Über-die-Haare-Streichen" gefiel ihr, gab ihr Ruhe und Geborgenheit, hellte die Dunkelheit etwas auf. Ließ sie spüren, dass noch Leben in ihr pulsierte. Agatha bemühte sich, ihre Augen zu öffnen.

"Siehst du, Mutters Augenlider zittern. Sie wird aufwachen. Glaub es mir, sie wird ihre Augen gleich aufschlagen! Mutter ist stark wie ein Pferd. Sie hat schon andere Sachen weggesteckt", hörte Agatha wie durch einen dumpfen Schleier aus weiter Ferne. Hatte das ihre Tochter gesagt?

Ihr Herz klopfte lauter. Sie hörte das rhythmische Piepen ganz in ihrer Nähe. Aber Agatha mühte sich vergebens, ihre Augen zu öffnen. Sie schaffte es nicht. Die Finsternis zwang ihr ihren Willen auf, kreiste sie ein und umarmte sie. Das Gemurmel von außen verstummte, drang nicht mehr zu ihr vor. Sie kam sich verloren vor. Einsam. Nur die Finsternis war mit ihr verbunden und drückte sie fest an ihr dunkles Herz. Ihr wurde es kalt; sie fühlte ihre Arme und Beine nicht mehr. Das rhythmische Piepen außerhalb ihrer schwarzen Glocke veränderte sich in einen schrillen, lang gezogenen Ton, der nicht enden wollte.

Agatha sah plötzlich ein blendend helles Licht. Eine Tür öffnete sich. Dorthin wollte sie gehen. Ihr Körper drängte sich diesem Licht entgegen, das Wärme versprach. Dort konnte sie der bedrückenden Finsternis entfliehen. Sie fühlte sich plötzlich leicht wie eine Feder. Ein Seufzer entrang sich ihrem Mund, ein kurzer Schritt und sie hatte sich von der Finsternis befreit.

Die Tür des Lichtes schloss sich hinter ihr. Der eintönige Linienton wurde abgeschaltet.




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