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Eingereicht am
05. Juli 2007

Wie ein geschlagener Hund

© Tina Martik

Petra wohnte schon seit einigen Jahren in diesem Neubaugebiet. Es waren nicht nur lieblos nebeneinander aufgereihte Häuser. Zwischen den einzelnen Blocks befand sich reichlich grüne Fläche, die durch Rosenstauden, Fliederbüsche und unzählige Laubbäume aufgewertet wurde. Nahe den Häusern breitete sich ein Mischwald aus. Er war nicht riesig, doch bot er Raum genug für kleine Tiere wie Eichhörnchen, Igel und Eidechsen und hie und da ließ sich sogar ein Hase blicken. In den Ästen der Bäume lebten viele Vögel, die jeden Morgen die Bewohner der Blocks mit ihrem Gesang und ihrem Gezwitscher aus den Federn holten. Der kleine Wald war bei den Spaziergängern und Joggern beliebt.

Und gerade diese kleine Naturoase und der regelmäßige kurze Aufenthalt in ihrem Inneren war Petra vor kurzem vermiest worden.

Sie ging mindestens dreimal in der Woche joggen, brauchte es als Ausgleich zu ihrem Bürojob. Da sie den ganzen Tag vor dem Computer saß, raffte sie sich am Abend auf und drehte einige Runden im Wald. Oft kam ihre Freundin Irene mit, so machte es mehr Spaß. Sie waren beide um die dreißig und hatten das Bedürfnis, für ihre Körper etwas zu tun.

Am vorigen Donnerstag war Irene krank geworden, die Grippe hatte sie erwischt. Petra hatte nicht lange überlegt und alleine losgelegt.

Zuerst bog sie hinter dem letzten Block nach links ab und lief die kurze, schmale Strasse entlang, an drei Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten vorbei. Am Ende der Strasse drosselte sie ihr Tempo, da sie nach rechts abbiegen musste und gleich nach der Kurve im ersten Garten bei einer protzigen Villa ein Dobermann auf sie wartete. Da hörte sie schon sein bedrohliches Bellen, sie wusste aber, dass er ihr nichts anhaben konnte, da er stets angebunden war. Im gemütlichen Schritt lief sie weiter, an einigen Garagen vorbei und den mit Liebe bewirtschafteten Schrebergärten entlang. Links der Strasse verlief der Wald. Unterwegs traf sie drei junge Inlineskater und zwei verschwitzte, schwer atmende Joggerinnen. Die Sonne schien noch und Petra nahm sich vor, ihre Dehnungsübungen in einer kleinen Lichtung durchzuführen, die sie mitten im Wald erwartete. Wie gedacht, so getan; hätte sie geahnt, was sie später erwartete, wäre sie ohne diese Übungen zum Haus zurückgelaufen und hätte sie erst dort gemacht. Petra war in all ihrem Tun sehr gewissenhaft und dadurch verlor sie mit den Dehnungsübungen viel Zeit.

Als sie auf dem Rückweg war, bemerkte sie, dass die Sonne schon vor einer Weile verschwunden war, nur ein pfirsichfarbenes Seidenband war am Horizont geblieben, es wurde langsam dunkel. Petra wollte nicht am Garten mit dem kläffenden Dobermann vorbeilaufen und entschied sich für eine Abkürzung. Sie lief weiter durch den Wald, der in diesem Teil dichter wurde. Die Bäume wuchsen näher beieinander und dort, wo genügend Fläche zur Verfügung stand, wucherten struppige Büsche dazwischen. Petra fühlte sich plötzlich nicht wohl. Bekomme ich jetzt Angst, dachte sie. Plötzlich blieb sie stehen, da sie einen Schatten im Dickicht wahrnahm. Umzukehren traute sie sich nicht, dann hätte sie den "Schatten" im Rücken gehabt und diese Vorstellung behagte ihr nicht. Sie spähte in die düstere Ecke, sehen konnte sie in der wachsenden Dunkelheit nichts, sie horchte angestrengt, aber alles blieb ruhig. Wahrscheinlich befindet sich dort gar nichts, versuchte sie sich zu beruhigen und lief langsam weiter. Hinter dem ersten Gebüsch war nichts, genauso hinter dem nächsten. Petra beruhigte sich wieder. In der Ferne sah sie die ersten Straßenlampen im Neubaugebiet leuchten. Da kann mir nichts mehr passieren, dachte sie.

Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht … da sah sie eine dunkle Gestalt an eine Tanne angelehnt. Petra blieb abrupt stehen, ihr Herz hämmerte, ihre Knie wurden weich, wie gekochte Spaghetti fühlten sie sich an. Die dunkle Gestalt kam von links auf sie zu. Es war anscheinend ein Mann, groß, breitschultrig, in einen langen Mantel gehüllt. Plötzlich sprang er ihr mit einem langen Schritt in den Weg und machte seinen Mantel auf! Ja, es war eindeutig ein Mann, seine Hose war bis zu den Knien heruntergezogen, die weiße heruntergelassene Unterhose leuchtete im Mondschein. Petra schrie: "Du verdammter Perverser, verschwinde da! Sofort, bevor ich die Polizei rufe!" Er zog seine Hose hoch, machte hastig seinen Mantel zu, schaute nach links, schaute nach rechts und verschwand. Petra stand wie angewurzelt und konnte nicht glauben, was ihr gerade zugestoßen war. Dann erholte sie sich von dem Schock und lief schnell aus den Waldschatten zum Licht, das die Straßenlampen und erleuchteten Fenster hergaben.

Erst daheim, nach dem Duschen, als sie bei einer Tasse Tee in ihrem Sessel in eine weiche Decke eingekuschelt saß, wurde die Begegnung wieder lebendig. Sie war nicht sicher, ob dieser Mann für sie eine Gefahr dargestellt hatte. Irgendwo glaubte sie gelesen zu haben, solche Männer seien krank und im Grunde nicht gewalttätig. Sie wollte aber Sicherheit haben, weiterhin im Wald joggen können und das, ohne Angst dabei zu verspüren. Petra stand auf und schaltete ihren Computer an. Irgendwo musste es da eine Information geben. Im Google fand sie alles: die Definition, die Beschreibung der Krankheit, die Art der Strafe, aber kein Wort von Gewaltanwendung oder gar einer drohenden Vergewaltigung. Das beruhigte sie.

Als sie Irene von ihrer abendlichen Begegnung erzählte, staunte diese und sagte: "Petra, solltest du nicht die Polizei benachrichtigen? Überleg dir, du hast schon vieles im Leben gesehen, dich erschreckt so etwas nicht wirklich, aber was ist mit einem Schulmädchen?" Nach kurzer Überlegung antwortete Petra: "Ja, du hast Recht. Alle Kinder, die nicht von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule gebracht werden, gehen den Weg an den Garagen und Schrebergärten vorbei zum Bus, wie ich an jedem Morgen. Er könnte ja am Morgen sein Unwesen dort treiben."

Am nächsten Tag rief Petra bei der zuständigen Polizeidienststelle an. Sie könnten leider nicht aufgrund ihrer telefonischen Anzeige öfter in der Gegend auf Streife gehen, da müsse sie schon vorbeikommen und schriftlich Anzeige erstatten. Das war die Antwort des zuständigen Polizisten. Petra sagte, sie würde sich das überlegen.

Zwei Tage später ging sie wieder joggen, an den Vorfall dachte sie nicht mehr. Erst als sie bei dem Garten mit dem blaffenden Dobermann vorbeilief, kam ihr das Erlebnis in den Sinn. Im schlimmsten Fall schnauze ich den Mann wieder an, dachte sie. Nachdem sie in der Waldlichtung ihre Übungen absolviert hatte, lief sie zurück. Im letzten Moment entschied sie sich die Abkürzung zu nehmen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, sie hatte Angst. Als sie dann auf dem Gehsteig vor dem ersten Hausblock stand, atmete sie erleichtert aus. Warum habe ich das gemacht? Sie ärgerte sich über sich selbst. Diesmal ist es gut gegangen, das nächste Mal lasse ich die Abkürzung sein und nehme den regulären Weg.

Irene schimpfte mit ihr, als sie erzählte, wo sie durchgelaufen war. Dann versprach sie bald wieder mitzulaufen, zu zweit würden sie keine Bedenken oder Angst haben müssen.

Am Montagmorgen, auf dem Weg zur Arbeit, ging sie wie üblich an den Einfamilienhäusern, am Dobermann vorbei und als sie die Garagen hinter sich hatte und zu den Schrebergärten gelangte, schaute sie schnell auf die Uhr, ob sie den Bus noch erwischen würde.

Dann hob sie ihren Blick von der Armbanduhr hoch … und er stand wieder vor ihr! Ein junger Mann im langen Mantel, den er gegen sie geöffnet hielt, auf ihre Reaktion wartend. Ihre Augen erforschten sein Gesicht, glitten an seiner Brust herunter, am Bauchnabel vorbei, dann begann sie zu kichern, dann zu lachen, sie lachte und lachte, immer lauter und konnte nicht aufhören damit.

Er riss die Hose hoch, machte seinen Mantel hastig zu und zog wie ein geschlagener Hund mit eingezogenem Schwanz von dannen. Ihr unbändiges Lachen hatte ihn verjagt.

Petra beruhigte sich, eilte zur Bushaltestelle und überlegte ernsthaft, was sie in dieser Sache unternehmen sollte. Sie entschied sich, nach der Arbeit zur Polizei zu gehen und die Anzeige zu erstatten. Es ging ja um die Kinder, die von dem kranken, perversen Mann zu Tode erschreckt würden.

Petra und Irene nahmen sich auch vor, bei ihrem regelmäßigen Joggen die Augen offen zu halten. Sie fertigten gemeinsam einen Anschlag, der alle Jogger, aber auch Schüler und deren Eltern warnte, und hängten ihn im Einkaufzentrum auf, das sich innerhalb des Neubaugebiets befand. Ein paar Mal wechselten sie mit anderen Joggerinnen einige Worte, niemand jedoch hatte den jungen Mann gesehen.

Irene lachte: "Petra, du hast ihn mit deinem frechen Lachen verjagt!" Petra antwortete: "Hoffentlich habe ich ihm damit diese Neigung ausgetrieben oder ihn mindestens von hier für immer verscheucht…"




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