Kurzgeschichte - Erzählung - short story
Kurzgeschichte - Alltag - Alltagsgeschichte

Ab morgen wird alles ganz anders sein

© Ulrich Rakoún

Großvater hatte meine Großmutter noch gebeten, ihn morgen früh um acht Uhr zu wecken, weil er mich mit dem Auto zum Zug bringen wollte. Er war aufgrund seines hohen Alters schon etwas schwerhörig und überhörte den Wecker manchmal. Ja, mein Großvater brachte mich immer mit dem Auto zum Bahnhof, damit ich den Zug noch rechtzeitig erreichen konnte, weil ich spätestens abends in Tübingen sein musste, wo ich morgen am Vormittag ein wichtiges Seminar in der Philosophischen Fakultät hatte und mir der eine Hauptseminarschein noch bis zu meinem Magisterabschluss fehlte. Und in unserem kleinen Dorf, zirka fünfzig Kilometer entfernt von Hamburg, gab es seit ungefähr zwanzig Jahren schon keinen Bahnhof mehr, weil die Strecke sich nicht mehr lohnte und deshalb einfach vom Netz abgeschnitten wurde. So wie Menschen manchmal abgestellt werden, wenn sie zu alt oder zu krank sind. Keine "Fully-Functioning Persons" mehr sind, wie der Angelsachse so unschön und zeitgeistlich sagt, denke ich, eine vierundzwanzigjährige Philosophiestudentin, oftmals und ganz unzeitgemäß. Und weil sie zu lebendem Müll werden, den irgendjemand, irgendwann und irgendwo vergessen hat zu entsorgen. Nein, so weit war es "Gott sei Dank" mit dem Großvater noch nicht, der trotz seiner neunundachtzig Jahre, immer noch sehr rüstig war und jede Woche für seine Frau und mich die Einkäufe mit seinem alten Auto in der nahe liegenden Kreisstadt machte. Fisch, Fleisch, Gemüse und Obst, alles immer ganz frisch vom Wochenmarkt, so wie er und Oma und früher auch meine Eltern, die leider seit zwei Jahren nicht mehr leben, es von jeher gewöhnt waren.

Meine Eltern sind vor zwei Jahren bei einem schweren Verkehrsunfall mit dem Auto kurz vor Hamburg ums Leben gekommen, und ich bin dann gleich darauf zu meinen Großeltern in deren kleines Häuschen auf das Dorf, wo auch meine Eltern aufwuchsen, gezogen. Raus aus dem großen Haus in Hamburg, wo ich geboren bin, auf das etwas abgelegene flache Land. Nun ist mir seit zwei Jahren eigentlich das Schwäbische zu einer zweiten Heimat oder vielleicht sogar zu einer ersten geworden, weil ich mit Hamburg, wo ich mein Philosophiestudium begann und mit meinem Elternhaus nur die Vorstellung von Tod oder nicht mehr lebenden Menschen verbinde und das wirkliche Leben sich dort abspielt, wo meine Freunde sind und die neue Sonne alle Trauerwolken der Vergangenheit vom Himmel und aus meinen Gedanken und Träumen verdrängt. Es wenigstens manchmal versucht und selbst Mond und Sterne es dann schwer haben, neben dem hellen Licht der gelben, alt vertrauten Kugel zu bestehen. Jetzt kann ich auch wieder von Herzen lachen, so wie früher, als Vater und Mutter noch lebten und wir so vieles, wie zum Beispiel eine große Kreuzfahrt mit dem Schiff durch die Ägäis, unternommen haben. Natürlich bin ich auch bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter, weil die väterlicherseits lange nicht mehr leben, einigermaßen glücklich, aber das Leben dort ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem in meinem früheren Elternhaus. Mein Vater war ein bekannter Hochbauarchitekt, der ein großes Architekturbüro in seinem Haus unterhielt. Eine ganze Etage mit zwei angestellten technischen Zeichnern, und ich war so etwas wie ein verwöhntes Einzelkind, dem man alle Wünsche vom Munde ablas. Ja, in das schöne alte Haus mit den hohen Räumen, dem verzierten englischen Kamin und dem großen Garten voller Sträuchern und Blumen, ist nun, nach langer Trauerzeit, eine Familie mit drei Kindern zur Miete eingezogen, die wieder Lachen und Fröhlichkeit in die leeren und toten Räume, in denen wir früher so oft gelacht und manchmal auch geweint haben, bringen. Denn das wünschte ich mir so sehr.

Mein Großvater, der alte Handwerksmeister, ist gestern am späten Abend, kurz vor dem zu Bett gehen, im Badezimmer umgefallen. Ein schwerer Schlaganfall hatte unser Hausarzt Doktor Meinhold noch gesagt und dass es sehr ernst sei und er den nächsten Tag vielleicht nicht überleben würde. Am anderen Morgen würde mich nun niemand mehr zum Zug nach Tübingen bringen, wo ich am Tag darauf zu meinem Seminar über Martin Heidegger, wegen meines letzten Scheines bis zur Prüfung, erscheinen musste. Doch das kam nun selbstverständlich nicht mehr in Frage, weil ich meine Großmutter nicht allein mit ihren Sorgen und in ihrem großen Kummer lassen konnte. Als wir Opa am folgenden Nachmittag auf der Intensivstation besuchten, konnte er uns gar nicht erkennen. Er lag in einem Zimmer mit einer Glasscheibe davor und war an Kabeln angeschlossen, die Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz und Puls auf einem Monitor anzeigten und ständig überwachten. Außerdem lief durch Plastikschläuche eine durchsichtige, mir klebrig erscheinende Flüssigkeit Tropfen für Tropfen in seine Vene, was nach Auskunft einer der behandelnden Ärzte zu einer Stabilisierung seines momentanen Zustandes beitragen sollte. Die Pfleger und Schwestern unternahmen noch weitere Messungen, wie den Hämoglobinwert, den Hämatokrit und die Blutgaswerte, wie sie mir erklärten, und die Ärzte und Ärztinnen liefen mit ihren um den Hals gehängten Stethoskopen herum, kontrollierten die Verlaufsbögen und gaben Anweisungen an das Pflegepersonal für den Patienten in Nummer 3. Ja, mein Großvater war zu einer Krankenakte mit einer Nummer geworden, die so lange geführt werden würde, wie er hier auf der Station läge, was so viel bedeuten konnte, dass er wieder gesund werden würde und man ihn nach Hause oder aber in ein Heim entließe. An den anderen möglichen Fall wollte ich erst gar nicht denken, denn ich hatte ihn schon einmal bei meinen Eltern erlebt, die irgendwann, ganz plötzlich, nicht mehr da waren und mir das Gefühl gaben, allein zurückgeblieben und im Stich gelassen worden zu sein.

Sie waren am Morgen nach dem Frühstück von mir fort gegangen und am Abend einfach nicht mehr wieder nach Hause gekommen. Ich hatte mir vorher niemals vorstellen können, dass Menschen so plötzlich aus dem Leben eines anderen verschwinden können und vor allem nicht, dass mir einmal so etwas passieren würde. Nun hatte mich das Schicksal aber doch und gleich in zweifacher Ausfertigung zu einer Betroffenen gemacht, und ich wollte deshalb nicht auch noch meinen Großvater verlieren, der mir nach dem Tod des Vaters ein zweiter Vater geworden war und mir den Weg ins Leben zeigte. Er gab mir Stütze, Orientierung und Halt, wenn ich ihn brauchte, und er und Oma schenkten mir in ihrem schönen ländlichen Heim die nötige Nestwärme, die ich allein in der Großstadt Hamburg und in dem Haus der Eltern, aber ohne die Eltern und ohne Geschwister darin, niemals erfahren hätte. Jetzt lag der alte Mann da in seinem Bett, noch immer ohne Bewusstsein, und meine Großmutter und ich beteten zu Gott um sein Leben, obwohl ich früher nie eine allzu große Beterin gewesen bin. Eher eine gute Philosophin, die sich auf irgendeinem Weg befand, von dem sie nicht wusste, wohin er sie führte.

Sicher würde Gott, wenn es ihn gab, nun die Gebete meiner Großmutter, die jeden Sonntag regelmäßig den Gottesdienst besuchte, erhören und ihr den Großvater noch ein paar Jahre erhalten. Das war mein sehnlichster Wunsch, denn ich konnte mir Oma ohne ihren geliebten Ehemann, mit dem sie ihr ganzes langes und arbeitsreiches Leben verbracht hatte, gar nicht recht vorstellen. Und ich glaube auch nicht, dass ich der einzige Mensch war, der in diesem Moment so dachte, denn einer so lieben und herzensguten Frau, wie meiner Großmutter, hätte wohl jeder gewünscht, dass Gott ihr ihren Mann noch viele Jahre lassen möge.

Aber es kam anders. Mein Opa erlitt ein paar Tage nach seinem ersten Schlaganfall noch einen zweiten, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Er war jedoch noch einmal aus seinem Koma aufgewacht und hatte meiner Großmutter und mir zugelächelt. Dann war er friedlich und für immer eingeschlafen und wurde auf dem Friedhof des Dorfes, wo er und Großmutter ihr ganzes Leben verbrachten, beigesetzt. Meine liebe Großmutter starb ein Jahr später, und ich bin seitdem eine lange Zeit nicht mehr in dem mir vertraut gewordenen kleinen Haus, das seit dem Tode der beiden alten Leute leer steht und in dem Bauerndorf bei Hamburg, das mir zu einer zweiten Heimat wurde, gewesen. Meine Großeltern liegen nun neben meinen Eltern, die auch in dem Dorf ihrer Kindheit und ihrer beiden Elternhäuser beerdigt worden sind.

Als ich einige Jahre später, nach Abschluss meines geisteswissenschaftlichen Studiums in Tübingen und Antritt meiner ersten, auf zwei Jahre befristeten Stelle bei einem kleinen Tübinger Verlag, das erste Mal wieder einen Sonntagnachmittag bei meinen "Lieben" auf dem Friedhof oben im kühlen Norden der Republik verbrachte, war ein herrlicher, strahlender Sommertag. Freunde und ehemalige Nachbarn hielten die mit blühenden Blumenbeeten bepflanzten Gräber meiner Vorfahren in gepflegtem Zustand, da ich seit dem Tode meiner Großmutter ganz in Baden-Württemberg lebte und mich nicht mehr darum kümmern konnte.

Nun schleppe ich mich gerade mit zwei schweren Gießkannen voller kaltem Brunnenwasser ab, um den Blumen und Pflanzen das nötige Nass zu spenden, das sie bei der Bullenhitze wohl sicher dringend benötigen. Ich höre, wie die Vögel in den Bäumen und Sträuchern rings herum ihre Lieder zwitschern und kann mir gar nicht vorstellen, dass dies ein Ort des Todes sein soll, da alles um mich so friedlich und still und doch gleichzeitig so lebendig ist. Auch die Autos von der nahe gelegenen Dorfstrasse kann man hier nicht mehr hören und schon gar nicht die Hektik und Lautstärke der einige Kilometer weiter entfernten Großstadt Hamburg. "Gott sei Dank", denke ich fast schon laut, denn ich bin sehr glücklich und dankbar für die lebendige Stille und setze mich auf eine Bank, von der ich alle vier Gräber, die meiner Eltern und Großeltern, die von Blumen und Ziersträuchern umrankt und auf diese Weise von einer Art Geborgenheit umgeben sind, gut im Sichtbereich habe.

Als ich die Augen vor Müdigkeit schließe, bin ich wieder in meinem Elternhaus in Hamburg und danach bei Oma und Opa auf dem Dorf. Mein Vater will gerade mit seiner neuen Polaroid ein Foto schießen, und alle warten gespannt darauf, dass das Vögelchen herausguckt und lachen in das Wunderwerk seiner Kamera. Ich bin auch dabei. Ein Mädchen von vierzehn Jahren, das gerade Konfirmation feiert. Auf dem langen Tisch im Garten meiner Eltern sind von meiner Mutter und Großmutter, die eine weiße Schürze trägt, hohe Torten und Berge von Kuchen für die schon bald erwarteten Gäste aufgebaut. Es ist damals wie heute ein wunderschöner sommerlicher Tag, und ich trage mein neues schwarzes Kleid, das ich zur Konfirmation geschenkt bekommen habe. Die Vögel singen wieder ihre alten, wohlbekannten Lieder in den hohen Bäumen unseres Gartens, und ich denke plötzlich an meinen Konfirmationsspruch, den mir der vorausschauende Pfarrer in einem gerahmten Bild überreicht hat. Ich war so stolz darauf. "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …" Es ist der 23. Psalm, das heißt nur der Anfang davon. Der Spruch, der wohl mein ganzes Leben bestimmen sollte, weshalb man ihn mir, einer gar nicht so gläubigen, aber sich wohl auf der Suche befindlichen Philosophin, mit auf den Lebensweg gegeben hat.

Als ich die Augen wieder öffne und merke, dass ich nur geträumt habe, sind meine Eltern und Großeltern längst fort, und auch der Tisch mit den hohen Torten und den Kuchen, der im Garten des Elternhauses in Hamburg stand, ist verschwunden. Die Gäste sind wohl schon lange heimgegangen, denke ich noch, und ich sollte doch besser auch ins Haus hineingehen und mir eine leichte Strickjacke überziehen, weil es allmählich auf den Abend zugeht und etwas kühler wird. Und ich tue es dann auch, weil meine Mutter es immer in den kühleren Abendstunden zu mir sagte und hole die Strickjacke aus meinem Rucksack heraus. Danach verlasse ich still und leise den dörflichen Friedhof.

Als ich noch einmal am Grab meiner Großmutter, die direkt neben meiner Mutter liegt, vorbeigehe, kann ich ihn wieder sehen: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …" Der Spruch ist das, was immer bleibt, denke ich noch, als ein Sonnenstrahl zwischen die zwei Generationen und mich hinfällt und alle Traurigkeit für einen kurzen Augenblick lang von der Erde verbannt. Einfach wegwischt, so als wäre sie niemals da gewesen und als dürfe sie auch nie mehr wiederkommen. Zumindest nicht so stark und intensiv, wie ich sie erlebt habe. Und dann denke ich weiter - eines Tages werde ich ihm auch, dem Spruch oder Psalm, ganz gehören, so wie er nun mir. Und plötzlich kommt mir in den Sinn, dass wenn meine Mutter jetzt ihre Hand ausstrecken würde, sie wohl, bei der kurzen Entfernung, die Hand meiner Großmutter, die nur wenige Zentimeter weit von ihr entfernt liegt, erreichen könnte.

Dann sinne ich über das große Hamburg im Norden und das kleine Tübingen im Süden nach, und ich sehne mich nach keiner der beiden Seiten hin. Erst als ich wieder draußen auf der Dorfstraße stehe und später im Zug nach dem Süden sitze und mir mein Freund, der wohl zu Hause auf mich wartet, in den Sinn kommt, habe ich mich zuerst ein wenig und dann ganz von meiner Familie, dem schönen Sonntagnachmittag auf dem Friedhof mit der lebendigen Stille und dem Vogelgezwitscher darin und von meinem Traum von meiner Konfirmation, verabschiedet und gelöst.

Als ich am späten Abend in Tübingen erholt und trotzdem überaus ängstlich aus dem Zug steige und nach allen Seiten Ausschau halte, ob mich wohl jemand abholen wird, trage ich die gut erhaltene leichte, rote Strickweste, die mir meine Großmutter vor ein paar Jahren zu Weihnachten schenkte, die sie mir selber strickte und die ich fast überall in meinem kleinen Rucksack bei mir trage. Selbst auf dem Friedhof. Die Großmutter hatte es stets als ihre Pflicht angesehen, sich um ihr Enkelkind zu kümmern, weil dies meiner Mutter nach ihrem Unfall ja nicht mehr möglich war.

Es wird schon ein wenig kühl, als ich wahrnehme, dass mein Freund leider nicht gekommen ist, um mich abzuholen. Keiner meiner guten Bekannten hier auf dem Bahnsteig auf mich wartet. Die Kälte hat sich nun von meinem Körper aus auf meine Seele ausgebreitet, hat ganz und gar von mir Besitz genommen. Als eine unsympathische, unheimliche Kälte empfinde ich sie, die mit der Außentemperatur des südlich gelegenen Tübingen nichts zu tun hat und gegen die meine Strickweste mir keinen Schutz bieten kann.

Im Herbst werde ich wieder nach Hamburg und dann auch auf das kleine Dorf fahren, wo ich mich jetzt um zwei verwaiste Häuser kümmern muss. Und natürlich auch um die Gräber. In dem größeren der von meinen "Lieben" verlassenen Häuser lachen wieder Kinder, so wie ich es mir immer gewünscht hatte. Ich kann ihre Stimmen aus der weiten Ferne hören. Meine eigene ist auch darunter. Dann ruft mich meine Mutter aus dem Garten zurück ins Haus, weil das Abendbrot fertig ist: "Marion, komm doch bitte herein, wir essen bald." Jetzt geht es schon wieder, denke ich, als ich den Tübinger Bahnhof verlasse und ein paar Tränen, die aus den unteren Augenlidern herausgucken und mir bis in den leicht geöffneten Mund laufen, mit dem Mundspeichel herunterschlucke. Es gibt doch immer einen Weg. Und dann vielleicht noch - Gott sieht auf ein suchendes Herz. Und vielleicht noch weiter: "Der Herr ist mein Hirte …" Alles im Leben gibt doch irgendwie einen Sinn. Alles im Leben …

Weihnachten werde ich wieder in Hamburg und zu Hause sein, wenn das mit Patrick nicht klappen sollte. Ich komme Mama, denke ich noch. Rufe ich ihr im Stillen zu. Meine Mutter wird mich gehört haben, weil sie mich immer gehört hat, in all den vielen, viel zu kurzen Jahren ihres, meines, unseres gemeinsamen Lebens und weil sie immer für mich da war, wenn ich sie brauchte. Bis Weihnachten ist ja nicht mehr so lange. Oder doch? Was ist schon Zeit! Ich schaffe das schon - wenn's sein muss, auch allein! Ohne Patrick oder irgendeinen anderen Freund, der mir noch geblieben ist. Der Tübinger Bahnhof liegt jetzt schon eine ganze Weile hinter mir und über mir träumt verschlafen das mir inzwischen so vertraute Tübinger Schloss. Jemand wartet doch meistens auf jemand anderen, man muss nur ein Auge und ein Ohr haben, um ihn zu sehen und seine Stimme zu hören. Um seine ausgestreckten Hände wahrzunehmen, die einen festhalten wollen. Die einen erdrücken von aller Liebe, die ein Herz geben kann und will, stelle ich mir bildhaft vor - wünsche ich mir in bewegten Bildern. Jetzt, hier und überall anderswo auf der Welt, wo es Liebe gibt. Dann kann einem nichts mehr passieren. Der Tag ist nun müde und ich bin es auch. So verschließe ich das innere Buch meiner viel zu regen Einbildungskraft mit den vielen beweglichen bunten Bildern und denke, dass ich für heute genug darin gelesen habe. Morgen ist auch noch ein Tag, der gelebt und bewältigt werden will.

Ja, das Dunkel der Nacht wischt wohl alles Leid und alle Tränen des Tages und der Welt hinweg, glaube ich, und der Mensch kann sich für einige Stunden erholen und zu sich selbst zurückfinden. Auch ich will diesen Versuch wagen. Will nach mir suchen und mich finden - finden lassen, in dieser Nacht, die noch unverbraucht und neugeboren vor mir liegt. So wie ein Baby in seiner Krippe, warm und geborgen. Auch ich möchte wieder ein kleines Kind sein, dann wäre alles nicht so schwer.

Ein Schiff kehrt nach langer Fahrt sicher zurück in den heimischen Hafen und geht dort müde vor Anker. Erst morgen wird es wieder in die Weite der tiefen, unbekannten und gefährlichen Meere hinausfahren müssen, aber in dieser Nacht findet es Sicherheit und Frieden an Land. Und ein zu Hause und vielleicht auch Trost. Ja, ein zu Hause ist doch alles, was das Schiff braucht …

Im Schloss über mir sind längst alle Lichter erloschen. Nur die Sterne und der Mond am Himmel weisen einem späten Heimkehrer sicher den Weg. Ich glaube, dass auch ich eine solche bin, die gerade heimkehrt, weil ich es immer wollte und weil dies ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Vielleicht der wichtigste! Von einer langen Reise zu vertrauten Gesichtern heimzukehren, die auf einen warten. Immer noch und überall, wo es Menschen gibt. So folge ich der natürlichen Lichterkette am Himmel, die mir den Weg durch die Dunkelheit weist. Ich weiß - mir kann jetzt nichts mehr passieren. Als ich die Stufen der hohen Treppe zur Veranda nach oben steige, denke ich noch einmal an meine Mutter und ob sie wohl mit dem Essen auf mich warten werden und verschwinde dann in dem stillen und leeren Haus.



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