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Künstlermähne

© Lisa Weichart

Sibylle hatte sich diesen Griechenland-Urlaub mühsam von ihrem Sekretärinnengehalt zusammengespart, und nun saß sie endlich in einer lauschigen Strandtaverne bei Bauernsalat, Retsina und Sirtakiklängen. Christian konnte ihr gestohlen bleiben samt seinen wichtigen Terminen, wenn er nicht einmal für ihre gemeinsame Reise Zeit übrig hatte. Vielleicht würde sie ihm auch nach ihrer Rückkehr die kalte Schulter zeigen - sollte er doch seinen Job heiraten! Ihre blasse Stirn zeigte zarte Fältchen, die nicht nur vom Grübeln kamen. Mit siebenunddreißig, statt Make up nur Sonnencreme, wirkte sie ohne Bräune ziemlich ehrlich. Deshalb setzte sich Nikola zu ihr an den Tisch, er hatte ein Gespür für herbe Schönheit und einsame Herzen. Natürlich erst nachdem er höflich gestikulierend auf Griechisch nach dem freien Platz gefragt hatte. Sibylle fühlte sich leicht unbehaglich und begann, angestrengt die Speisekarte zu studieren. "Souvlaki?", brummte der kräftige Adonis, wobei sich sein Bass beim "i" aufmunternd anhob. Hinter schwarzen Locken, die aus seiner Mähne ins bärtige Antlitz sprangen, blitzten meeresfarbene Augen. Sibylle lehnte dankend auf Englisch ab; keinen Bissen hätte sie jetzt mehr geschafft. Aber sie waren ins Gespräch gekommen. Er erzählte, er sei Maler, daher also die Farbspritzer an seinen muskulösen Armen. Recht viel mehr verstand sie nicht. Selbst, wenn er Hochdeutsch gesprochen hätte, wäre sie wie taub gewesen, denn sie sah nur noch diese geheimnisvolle Stelle an seiner Brust, wo der oberste Knopf des Fischerhemdes fehlte und drahtige Löckchen sich so frech kringelten, dass ihre Phantasie unweigerlich weiter an seinem Körper entlangwanderte. Der Wein stieg ihr zu Kopf und sie stellte sich vor, wie sie Christian ein Bild mit sich selbst als Motiv überreichen würde, gemalt von Nicola dem Künstler. Ein Akt? Sie errötete vom erhitzenden Gedanken und nippte verlegen am Glas. Er betrachtete sie unverhohlen. Das musste der Blick von Da Vinci sein, als er die Mona Lisa schuf, auch Van Goghs Wuschelkopf fiel ihr ein, als er sie wie selbstverständlich hochzog, um mit ihr zu tanzen. Nie hätte sie gedacht, dass ein Bart mit Olivenaroma sie derart aufstacheln könnte, doch diese neue Seite an sich entdeckte sie in dieser Nacht ausgiebig.

Nikolas Zimmer lag im Morgenlicht wie er selbst: dunkel, einfach und voller Wärme. Keine Staffelei, dafür ein Fenster zum azurblauen Meer, statt der Palette zwei Kübel mit schneeweißer Wandfarbe. Als Sibylles Blick auf seinen Arbeitsoverall fiel, der über dem Stuhl hing, sah sie, dass der oberste Knopf fehlte und lächelte, während sie den Schlafenden zum Abschied küsste.



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