Letzter Wochenenddienst© Andreas OehringNicht vorstellbar, heute sollte er also das letzte Mal in seinem Leben Dienst an einem Wochenende haben. Karl atmete tief durch. Das letzte Mal zwangsweise getrennt von zu Hause. "Nun gut, es wird noch andere Gründe geben", dachte Karl, "nicht zu Hause zu schlafen." Der Kopf war voller Ideen und Pläne, wie seit Jahren nicht mehr. "Deswegen habe ich mich ja entschlossen schon jetzt, mit 63 Jahren aufzuhören! Schluss jetzt mit diesem elenden Dauerlauf! Ich will noch was haben vom Leben!" Fast locker machte sich Karl Lauerwald, besser Dr. Karl Lauerwald, Facharzt für Chirurgie, 63 Jahre, 1,78 m und 87 kg und zuletzt oft ein bisschen resignierend diesmal auf den Weg zum Dienst in der Notfallzentrale der kleinen Stadt. Evelyn, seit 30 Jahren mit ihm ohne große Skandale verheiratet, hatte ihm wie immer die Tasche mit dem Essen zurechtgemacht. "Lieb von ihr! Ich habe es ihr nicht immer einfach gemacht aber bald nun würden sie mehr Zeit füreinander haben und auch Zeit für die Kinder und das Enkelchen. Gestern hatten Tom und Sabine den kleinen Tobias vorbei gebracht, "Konzertbesuch, recht so, sollen die beiden nur machen! Bei Tobias mache ich gut, was ich bei den Kindern versäumt habe. Das Angeln werde ich ihm auch noch beibringen!" dachte er als er auf dem Hof der Zentrale vorfuhr. "Hallo Chef!" sprach einer der Rettungssanitäter " Kommen sie doch gleich zum Frühstück. Es liegt aktuell nichts an und wer weiß ob es so ruhig bleibt! Außerdem haben die Jungs was vorbereitet!" " Ich komme gerne, will mich nur schnell umziehen." Als Karl den schlichten Frühstücksraum betrat traute er den Augen nicht. Die Jungs hatten ein Buffet vorbereitet, das jede seine Erwartungen überbot, ca. 6 Sorten Käse, mehrere Arten Salami, Parma- und Serranoschinken, Nudelsalat und 2 Flaschen Sekt standen auf dem Frühstückstisch. Er war gerührt und musste eine Träne wegdrücken. Sie waren im Rettungsteam immer eine reine Männertruppe gewesen, harte und schmerzliche Dinge hatten sie gesehen, hier war doch kein Platz für Gefühlsduselei. "Jungs, ihr seid doch verrückt! Das ist doch nicht nötig gewesen Ich lade euch dann alle ein, wenn ich erst zu Hause bin. Im Moment ist noch so viel zu regeln. Tausend Dank euch!" Viktor, einer der Älteren antwortete:" Wir wollten uns bedanken für die lange und tolle Zusammenarbeit mit Ihnen. Sie werden uns fehlen." Das Frühstück dauerte nur 10 Minuten, dann der erste Einsatz. Infarktverdacht! Also los, los! 2 Minuten später waren sie losgefahren. Zum Glück war alles nicht so schlimm. Dem Mann um die 50 ging es schon besser. Karl entschloss sich trotzdem das Krankenhaus anzufahren, zur Sicherheit und weil für Fehleinsätze kein Geld bezahlt wurde. Jeder Einsatz ohne Fahrt in Krankenhaus wurde automatisch zum Fehleinsatz. Karl schüttelte den Kopf über so viel Bürokratie mit der er sich in den letzten Jahren hatte herumärgern müssen. " Bald vorbei der ganze Mist!" Dabei hatte er doch vor fast 4 Jahrzehnten mit soviel Enthusiasmus in der Chirurgie als junger Assistenzarzt angefangen, voller Ideale und voller Ideen, mit riesigem Tatendrang. Er war durchaus geschickt und durfte bald kompliziertere Operationen machen. Schnell war die Karriereleiter zu erklettern gewesen. Stationsarzt, Facharzt, Oberarzt und dann schließlich Stellvertreter vom Alten. Glückliche Jahre waren das, er wurde gebraucht und alles gelang ihm, auch privat waren das gute Jahre. Hatte er nicht auch rückblickend mit Evelyn seinen Ruhepol gefunden. Jetzt bald hatte er Zeit für sie, für sie die ihm stets den Rücken frei gehalten hat, ganz selbstverständlich. Was hat mich nur damals geritten mit Anja? Lang ist es gegangen, bald ein Jahr und ihre Ehe kam damals ins Wanken. Karl schüttelte seinen Kopf. Gegen 10 Uhr waren sie zurück in der Notfallzentrale. Karl war immer noch gerührt. "Liebe Jungs sind das alle. Aber ich mache Schluss. Es geht alles nicht mehr so einfach von der Hand wie vor 20 Jahren, besonders die Einsätze in der Nacht die zehren an meinen Kräften. " dachte er. Der Vormittag war erstaunlich ruhig, erst kurz vor dem Mittagessen wurden sie erneut gerufen, diesmal ein Verkehrsunfall. Das hasste er am meisten, denn oft waren es junge Leute. Schlimme Sachen hatte er gesehen und oft nach erfolgtem Einsatz hat er dann tagelang keine Ruhe gefunden. Wenn alte Leute starben, gut das war irgendwie in Ordnung, irgendwie nicht schön aber normal, doch bei jungen und vor allem Kindern das ging ihm jedes mal an die Nieren. Wie unruhig war er immer wenn die eigenen Kinder unterwegs waren. Er hatte doch schließlich selbst all das Schreckliche gesehen, das sich auf Deutschlands Straßen abspielte. Wie gut, dass er Tom zurück in die Heimatstadt geholt hatte. Er sollte die Praxis weiterführen, ein Jahr hatten sie es gemeinsam gemacht, doch es ging nicht immer reibungslos ab in der täglichen Zusammenarbeit. "Ja, ja, der alte Konflikt zwischen alt und jung." dachte Karl. "Es ist schon gut, wenn ich jetzt aufhöre! Damals als junger chirurgischer Oberarzt war ich doch genauso. Habe mehr als einmal hinter dem Rücken des Alten am Wochenende und in der Nacht operiert. Tom macht es schon gut. Vielleicht bin ich es der nicht mehr so richtig in die Zeit passt!" Seine Bereitschaft Neues zu wagen, war in den letzten Jahren auf Null gesunken. Aber manchmal hatte er in der letzten Zeit es den Jungen noch mal zeigen können, allein mit klinischem Blick und ohne den neumodischen Gerätekram. Oft allerdings musste er anerkennen, dass das neue Zeug schon ganz gut funktionierte und dass die moderne Medizin besser war als ihr Ruf. Der Unfall war harmloser als gedacht, viel Blechschaden und eine distale Radiusfraktur bei einer jungen Frau, die er schnell in seiner chirurgischen Praxis vorbei fuhr und deren Gips er nach wenigen Minuten fertig hatte. Als die junge Frau aus der Praxis war rief er nicht sofort den Rettungsassistent um wieder in die Zentrale zu fahren. Er wollte noch einige Minuten allein sein, allein an seiner Wirkungsstelle der letzten 17 Jahre. Er hatte die Praxis geschaffen, es war sein Werk, viel Mühe, oft Ärger, aber es war sein Stück Unsterblichkeit. Die Gedanken gingen zurück in den Herbst 1989, er war als damaliger Kreisarzt mit in den Strudel der Ereignisse geraten und wusste nicht, ob es ihn mit in den Untergang ziehen würde. Was waren das für Tage damals. Jede Stunde eine neue Nachricht. Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hatte er damals klar erfasst, dass die alten DDR Strukturen zum Untergang verurteilt waren. Kreisärzte, die würden bald nicht mehr gebraucht. Das war ihm bald klar gewesen. Es hieß Erreichtes aufgeben bevor es ihm genommen wurde. So kam die Idee mit der Niederlassung in einer chirurgischen Praxis. Nein, einfach war die Rückkehr zur praktischen Arbeit nicht gewesen nach 15 Jahren Verwaltungsarbeit. Aber auch das hatte er bewältigt. Als Kreisarzt war er ein einflussreicher Mann gewesen, hatte vielfach Weichen gestellt und war in seinem Landkreis ein kleiner Weltenlenker gewesen. Einfach war es nicht das aufzugeben. Auch all die Anschuldigungen waren manchmal schwierig zu ertragen gewesen. Natürlich war er in der Partei aber die Stasi-Leute hatte er nie gemocht. Und wurden nicht schließlich in den alten Ländern auch Verwaltungsärzte benötigt? Als er sich für diesen Weg entschied und die Klinikkarriere an den Nagel hängte, da wollte er doch auch nur ein wenig vom großen Glück abhaben. Hatte er nicht stets den Rahmen, der ihm gesteckt war, für die anderen Menschen genutzt? Kompromisse muss doch jeder Mensch schließen! Manches war viel besser damals, er konnte es heute nicht laut sagen, aber er blickte voll Stolz auf seine Zeit damals als Kreisarzt zurück. Schließlich, wem hatte er denn eigentlich geschadet, welche Idee verraten? Die paar Verrückten, die in jeder Gesellschaft alles besser wussten aber mit eben keiner richtig klarkamen, die würde es ja schließlich immer geben. Die kannten doch nur ihre großen Ziele aber wer soll sich um all die kleinen Alltäglichkeiten kümmern? Nein, Karl Lauerwald war mit sich im Reinen. Der Neubeginn, wieder in einer der hinteren Reihen, war schwer, sehr schwer für Einen, der in der zweiten Hälfte der Vierzig war. Aber er hatte es geschafft, hatte sich wieder die klinische Medizin beigebracht und beibringen lassen und hatte zuletzt doch wieder kleine ambulante Operationen durchgeführt. Ganz von selbst stellte sich ein materieller Wohlstand ein, für den er zwar jetzt viel schwerer als früher arbeitete, den er aber auch in vollen Zügen genoss. Jeder in der Familie hatte ein VW und er selbst einen 5 er BMW. Was hatten sie nicht auch für tolle Urlaubserinnerungen, halb Europa in den letzten 17 Jahren gesehen. Was aber wichtiger war, es machte wieder Spaß mit Patienten zu arbeiten. In der kleinen Stadt und ihrer Umgebung war er bald angesehener als vorher. Ja, die Wende hatte sich gelohnt, er wollte nicht zurück. So vergingen die nächsten Jahre scheinbar im Gleichklang ohne viele Überraschungen. Karl Lauerwald war glücklich. Die beiden Kinder hatten ihren Platz in der Gesellschaft bald gefunden, Nicole hatte Journalistik studiert und arbeitete jetzt für den " Spiegel" in Tokio. Tom war mit der Schwiegertochter zurück in den Heimatort gezogen, nachdem er sein Medizinstudium in Berlin abgeschlossen hatte und jetzt würde er bald die Praxis alleine weiterführen. "Auch die Kinder haben mich nie enttäuscht." dachte er. "Es ist alles gerichtet in meinem Leben!" sagte Karl Lauerwald leise zu sich selbst und freute sich auf seinen Ruhestand. Wieder ging die Piepse an, mittlerweile war es 18.15 Uhr. Diesmal ein Schlaganfallverdacht im Altenheim. Als sie in das Zimmer der alten Dame kamen, da sah Karl, dass diesmal alle etwaigen irdischen Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sein würden. Aber Fehleinsätze durfte es ja nicht geben und so musste die 89-jährige Irmtraut Müller, geb. Höhne, verwitwete Bachmann, ihre vorletzte Reise in das städtische Krankenhaus im Sinne des Gemeinwohls antreten. Routiniert ging alles von statten und um 19. 00 waren sie zurück. "Was wird die Nacht bringen? Hoffentlich bleibt es ruhig! Morgen gehe ich nach Hause und das war es dann hier?" Konnte man so einfach den Schlüssel rumdrehen? "Wie schwer wird es erst in 2 Monaten, wenn ich die Praxis in Toms Hände lege? Egal, er selbst hatte den Zeitpunkt seines Rückzuges gewählt, er allein. Die Nacht war erstaunlich ruhig, kein Einsatz mehr. Er schlief trotzdem schlecht. Am Morgen um 8 Uhr ging er nach Hause, alle waren noch einmal ergriffen, alle ahnten eine Ära ging zu Ende. "Also Jungs kommt mich mal besuchen, euch allen noch einen schönen Sonntag." Er stieg in seinen 5 er BMW und fühlte sich plötzlich ganz jung als er losfuhr. Die ersten Gerüchte durchzogen die kleine Stadt am Montag Vormittag und am Abend wusste dann fast jeder Einwohner, dass der ehemalige Oberarzt des hiesigen Krankenhauses, der vormalige Kreisarzt und jetzige Praxisinhaber Dr. Karl Lauerwald gestern um 8. 30 Uhr, 2 km vor seinem Wohnhause aus der Kurve getragen wurde und beim Transport ins Krankenhaus verstorben war. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. |