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Alzheimer?

© Onivido Kurt

Ein strahlender Morgen, aber schon stressig. Nach den Flüchen und Beschimpfungen, die hierzulande bei der Anfahrt zur Arbeitsstätte in den entnervenden Staus dazugehören wie die Kupplung zum Auto, jetzt der Kampf um einen Platz im Aufzug. Als Letzter stand ich in der überfüllten Eingangshalle und harrte der Dinge, genauer gesagt der Aufzüge. Durch die offene Glastür des Eingangs zum Bürogebäude beobachte ich gleichmütig die hin und hereilenden Passanten auf der Straße. Jäh wurde ich aus meiner Teilnahmslosigkeit gerissen, mein Blick gefesselt von einer Frau, die auf den Eingang zuging. Falsch, sie ging nicht, sie schritt. Nicht etwa mit dem lächerlichen, gekünstelten Stelzen der jämmerlich fleischlosen Mannequins auf dem Laufsteg, sondern dem Gang einer Frau, die sich ihrer überschwänglichen Attribute bewusst ist und sie keineswegs verstecken will. Wie soll ich ihr Ausehen beschreiben? Die Beine, Wolllust auf hohen Hacken!

Diese Lippen … wie der Mund des Weibes …

Es ist eine meiner meist bemängelten Eigenschaften, Frauen vollkommen unverhohlen in Augenschein zu nehmen. Das ist nicht etwa nur die Folge des natürlichen Triebes meiner Männernatur. Zur Verteidigung dieser Neigung sei auch angeführt, dass ein Freund mir einmal ans Herz gelegt hatte, jeden Tag wenigstens eine gute Tat zu vollbringen. Das Einfachste wäre es, so Gianni, jeden Tag einer nicht attraktiven Frau ein Kompliment zu machen. Diese gute Tat sei vollkommen kostenlos und diente außerdem noch zur Übung für den Ernstfall. Ihm wurde das noch verziehen, er ist schließlich Italiener, aber bei mir reagierten meine Mitmenschen schon ablehnender, nicht etwa weil ich einen deutschen Reisepass besitze, sondern bestimmt, weil meine Komplimente keineswegs nur den wenig attraktiven Frauen gelten, sondern weil ich diese kostenlose gute Tat dem ganzen Bereich der weiblichen Schöpfung zu Gute kommen lasse. Jedoch übertreiben wollte ich meine Nächstenliebe auf keinen Fall. Diese Frau war es gewohnt bei allen Männern nicht nur die Speicheldrüsen zu stimulieren. Die Genugtuung, auch mich zu ihren Begaffern zählen zu können, gönnte ich ihr nicht und so richtete ich meinen Blick an ihr vorbei, hinter sie, auf die grünen Berghänge in der Ferne.

Aber der Zufall und das Gewühl vor dem Aufzug wollten es, dass wir in der gerammelt vollen Kabine Gesicht zu Gesicht zu stehen kamen. Nicht nur Gesicht zu Gesicht, auf Tuchfühlung wäre wohl der gesellschaftsfähige Ausdruck für unsere Position gewesen, wenn das Gedränge nicht allzu stark gewesen wäre und somit dieses Wort den wahren Sachverhalt nicht genügend wirklichkeitsnah beschreibt. Es wäre falsch zu behaupten, dass mir diese Situation zu Eingangs unangenehm war, jedoch, als die Frau ihre große, dunkle Sonnenbrille auf die Stirn schob und mir voll ins Gesicht sah, fühlte ich mich wie ertappt, seltsam unbehaglich, ein für mich vollkommen unnatürliches Gefühl in dieser Konstellation.

Es war unmöglich an ihr vobeizusehen, aber Dank vieler Stunden autogenen Trainings konnte ich meinen Blick auf die Glatze des Mannes hinter ihr fokussieren. Fast war ich erleichtert, als der Aufzug im siebten Stock anhielt und ich rücklings aus der Kabine geschoben wurde.

"Du hast ein schlechtes Gedächtnis", hörte ich die Dame noch sagen, bevor sich die Kabinentür schloss.

Deswegen sitze ich jetzt in Dr. Martins Wartezimmer



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