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Im Rausch

© Bettina Münster

Ich darf es nicht. Er ist zu alt. Und trotzdem habe ich ihm gesagt, wo ich heute Abend bin. Ich habe meine Katze sich selbst überlassen, in der Hoffnung, dass sie meinen Goldfisch am Leben lässt, und bin mit meinen Freundinnen losgezogen. Sie wissen nicht, was ich eigentlich vorhabe. Für wen ich mich so aufgetakelt habe. Für wen ich über eine Stunde vor dem Spiegel stand, mich dreimal umgezogen und zweimal neu geschminkt habe.

Ich trage meine schönsten Schuhe, mein Lieblingsparfum und habe die Haare offen gelassen. Weil mir irgendein Mann mal gesagt hat, das sähe toll aus.

Nun sitze ich mit weichen Knien und klappernden Zähnen auf der Rückbank des kleinen Polo, den meine Freundin geschickt durch die beleuchteten Straßen des Ruhrgebiets lenkt. Katja ist wirklich aufmerksam. Sie hat extra die Heizung angemacht, weil sie glaubt, ich würde vor Kälte zittern. Dabei sind es draußen zweiundzwanzig Grad. Und das um zehn Uhr abends.

Es ist Samstagabend, wir fahren in die Disco. Wie er. Weil ich es ihm gesagt habe. Mir wird schlecht, ich muss tief durchatmen um nicht vor Angst zu würgen.

Plötzlich schießen widersprüchliche Gefühle durch meinen Kopf. ‚Vielleicht kommt er ja gar nicht. Du hast ihm gesagt, wo du bist, doch er hat nicht ein Wort der Zusage fallen lassen.'

Beinahe erleichtert lehne ich mich zurück und fange langsam an, die Fahrt zu genießen. Er kommt mit Sicherheit nicht. Was will ein Mann in dem Alter schon in einer Disco? Es sei denn, er hat eine der berühmten Midlife-Krisen. Aber dafür ist er eigentlich nicht der Typ. Glaube ich zumindest. Aber wer weiß das schon? Viel erzählen tut er ja nie von sich. Außer, dass er viel arbeitet, viel reist.

Ich seufzte. Wahrscheinlich werde ich einfach die ganze Nacht mit meinen Freundinnen tanzen und dann ziemlich frustriert nach Hause fahren. Oder auch erleichtert, weil er mich vor einer riesigen Dummheit bewahrt hat. Fünfundzwanzig Jahre. Geradezu lächerlich. Allein der Gedanke, er könnte ehrliches Interesse an mir haben. Ich halte mich nicht für besonders hübsch und obendrein noch für ziemlich naiv. Was habe ich mir eingebildet?

Erhobenen Hauptes und scheinbar bester Laune stakse ich mit meinen Freundinnen auf High Heels über den Parkplatz bis zum Diskothekeneingang. Die Türsteher kennen uns schon und nicken uns zu, bevor wir in die kleine Halle treten, in der Garderobe, Toiletten und ein kleines Restaurant untergebracht sind. Wir geben unsere Jacken ab und steuern sofort die große Halle an, das Herz der Diskothek.

Die Tanzfläche beginnt sich gerade erst zu füllen. Wir warten nicht lange und stürmen beim nächsten guten Song sofort auf das Parkett. Katja und Emily spornen mich an, und nach einer Weile vergesse ich, dass ich mich nach ihm umsehen wollte und lasse mich einfach gehen.

Kaum spürbar füllt sich die Tanzfläche, und nach einer guten Stunde wird es langsam eng. Die Halle ist voll. Es ist kaum noch möglich, einzelne Gesichter auszumachen. Das Licht wurde herunter gedreht, um die Lasershow wirkungsvoller zu machen, und ich lasse mich in den monotonen Rhythmus der Musik fallen, höre auf zu denken.

Als das Lied zu Ende ist, Sekunden bevor der Beat wieder einsetzt werfe ich den Kopf zurück, um die lästigen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu bekommen. Und starre direkt in sein Gesicht.

Michael. Er ist gekommen. Und steht nun direkt vor mir. Auf halber Armlänge. Ein charmantes Lächeln spielt um seine Mundwinkel, seine Augen zwinkern mir amüsiert zu. Er hat Spaß an meinem geschockten Gesichtsausdruck. Es ist mehr als offensichtlich, dass er genau das beabsichtigt hat: mich aus der Fassung zu bringen.

Verklemmt und aus dem Tritt gebracht lächle ich unverbindlich und gebe ihm steif, beinahe dümmlich die Hand.

"Ich freue mich, dass du kommen konntest!" Ich muss schreien, um die Musik zu übertönen. Ich könnte leiser sprechen, doch dann müsste ich ihm näher kommen, meine Lippen an seine Ohrmuschel legen. Schon bei dem entfernten Gedanken daran wird mir schlecht.

Meine Beine fühlen sich plötzlich wie Pudding an, als ich mechanisch versuche, den Rhythmus wieder zu finden und zu tanzen. Ich lächle steif und erkenne, dass es eine dumme Idee war, ihn einzuladen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Hilfe suchend schaue ich Katja an, doch die bemerkt meinen Blick nicht einmal. Sie ist in eine Art Ringkampf mit einem kräftigen Typen verwickelt, es erinnert nur noch entfernt an Tanzen. Ihre Zungen haben sich ebenfalls in einen Kampf verwickeln lassen.

Ich zucke zusammen, als Michael seine Hand um meinen Arm legt und mich ein Stück näher zu sich zieht. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr.

"Was ist los? Vorhin warst du so entspannt und sexy. Soll ich gehen, damit du wieder so tanzt? Relax!" Seine tiefe raue Stimme jagt mir Schauer über den Rücken. Ich nicke, grinse etwas verzweifelt und lasse mit hämmerndem Herzen zu, dass sein Arm sich locker um meine Hüfte legt, unsere Körper sich gemeinsam im Rhythmus bewegen.

Ich spüre zuerst nicht, dass er mich immer näher zu sich zieht, bis sein Schenkel sich plötzlich zwischen meine Beine schiebt und er mit seiner Hand meine Hüfte fest gegen seine presst. Ich ziehe beinahe zischend Luft durch die Zähne ein und starre ihn für Sekunden sprachlos an, spüre, wie ich puterrot werde. Sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt, seine Lippen kaum einen Atemhauch weit weg. Ich rieche sein Aftershave und spüre seinen heißen Atem auf meiner Haut. Mein Herz hämmert gegen seine Brust, als sich seine raue Hand in meinen Nacken legt und zwei wissende Augen sich forschend in meinen verlieren.

Bevor ich weiß, was passiert, spüre ich Michaels warme Lippen auf meinen. Vorsichtig tastend, beinahe bittend. Der Griff um meine Hüfte wird stärker, als meine Beine butterweich werden und nachgeben. Wie betäubt hänge ich in der Umarmung fest und lasse mich von dem Duft des Mannes berauschen, der kurz davor steht, mir sämtliche Sinne zu rauben.

Die Musik ist vergessen, als sich meine Lippen öffnen und eine warme Zunge einlassen, die spielerisch sanft meinen Mund erforscht. In diesem Moment werden meine Träume wahr, und ich erwidere den Kuss zitternd, ohne an die Folgen zu denken.

Sekunden später lösen wir uns von einander und sehen uns fassungslos an. Der Mann, in dessen Armen ich schwebe, hat die Situation voll unter Kontrolle. Sein Blick ist wissend, er wartet. Auf eine Reaktion von mir. Auf die Erlaubnis, weiter zu machen. Doch kann ich die geben? Es darf nicht sein, auch wenn es sich noch so gut anfühlt.

Beinahe unmerklich schüttle ich den Kopf. Fragende Augen. "Lass uns aufhören, solange ich noch kann." Ich sage es leise an sein Ohr, er nickt. Wieder vergehen Sekunden, Ewigkeiten, in denen wir uns tief in die Augen schauen. Mein Herz hämmert bis zum Zerbersten, jeder Muskel meines Körpers ist gespannt. Ich spüre die Energie dieses Mannes, seine Reife. Die Überlegenheit. Es macht mich an, ich kann nichts dagegen tun.

Und dann, ganz plötzlich, springt der Funke über. Michael hat mit seiner Lippe meinen Mund gestreift. Es war als Abschied gedacht, das weiß ich. Doch plötzlich drehe ich mich seinen Lippen entgegen, lasse die Berührung erneut zu.

Energien explodieren, als wir uns verzweifelt stürmisch aneinander klammern, unsere Zungen sich beinahe schmerzhaft aneinander reiben und unsere Körper trotz Kleidung zu verschmelzen scheinen.

Und dann - vorbei. Zwei kräftige Arme ziehen mich weg von diesem Spannungszentrum, weg von der tanzenden Menge, von den ärgerlich, erstaunt blickenden Augen des Mannes, der noch vor Sekunden fest seine Arme um mich geschlungen hat.

Katja zerrt mich zur Damentoilette und weißt mich stummen Blickes an, mir kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Ich hole tief Luft und habe das Gefühl, aus einem Rausch zu erwachen. Ein Rausch, der besser war als jede Wirklichkeit.



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