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Dez
01
Mailand. An einem Sommertag 1494
© Manfred Schröder

Der Gerber Antonio hatte in einem Krug in der Vorratskammer einige Münzen gefunden, die seine Frau vor ihm versteckt hatte.

"Nicht mit mir", dachte er grinsend. Er sagte seinem Gesellen, dass er noch etwas zu erledigen hätte und verließ pfeifend die Werkstatt. Sein Weg führte ihn zum Markt, wo sich am hinteren Ende die Bierstube des Deutschen Johann Burckhardt befand. Es war Juli und die sommerliche Hitze machte sich schon in den frühen Morgenstunden bemerkbar.

Die stinkenden Gassen, die auch im Tageslicht im Dunklen lagen, waren so eng, dass, wenn sich zwei Karren begegneten, einer rückwärts wieder weichen musste.

Er ging die Straße der Bäcker entlang, hier gab es den einzigen angenehmen Geruch, und bog in die Piazza dei Mercanti ein, welche den Blick auf den Dom freigab.

Wie immer herrschte auf dem belebtesten Platz Mailands reges Leben. Buden, in allen Farbe und Größen, Tische, die sich unter der Last der angebotenen Waren, bogen, von Eseln gezogenen Karren, Kisten und Körbe standen dicht gedrängt nebeneinander. Es grunzte und gackerte und dazwischen die Rufe der Verkäufer, die sich gegenseitig mit ihren Angeboten überschrien.

Ein Zauberer zeigte seine Künste, während sein Kumpane die Gelegenheit benutzte, einigen aus dem gaffenden Publikum, die Geldbörse zu entwenden.

Der dicke Franziskanermönch Timoteus, genannt das Vielfraß, erzählte müßigen Marktbesuchern die Geschichte von der Speisung der Fünftausend. Der Witzbold Pierro, der faulste Schneider Mailands konnte seinen Spott nicht verbergen.

"Timoteus, gut dass Ihr nicht unter den Fünftausend gewesen seid. Sonst hätten tausend Brote und Fische nicht gereicht."

Bei diesen Worten brach man in schallendes Gelächter aus. Doch Timoteus der den Schneider kannte und es selbst faustdick hinter den Ohren hatte, hob nur grinsend den Zeigefinger.

Überall gab es Bettler, denen man schnell etwas gab, um sich von ihnen zu befreien, wie von Kletten. Es gab Blinde, die alles sahen, Aussätzige, die sich des Morgens ihre "Krankheit", aufs Gesicht schmierten und am Abend wieder abwuschen.

Mit Stolz, wie jeder Mailänder, blickte Antonio zum Dom. Noch war er ein von Gerüsten umgebenes unvollendetes Bauwerk, doch er wuchs stetig seiner Vollendung zu. Ein Dom des Volkes, errichtet zu Ehren der Geburt der Jungfrau Marias.

Vor den Gerüsten lagen riesige, weiße Marmorblöcke, die grell in der Morgensonne leuchteten und an denen fleißige Steinmetze hämmerten.

Bald erregte eine Sänfte die Aufmerksamkeit der Leute. Die edle Hure Cecilia, Geliebte von einem Dutzend Kardinälen und Eminenzen ließ sich durch die Menge tragen. Der Vorhang war zurückgeschoben und sie bewegte ihre zierliche Hand, als spende sie den päpstlichen Segen. Man schien sie zu kennen. Viele winkten ihr lachend zu. Denn sie wussten was und mit wem sie es trieb. Vor kurzem hatte Kardinal Marliani, wie man sich erzählte, in ihren Armen sein "frommes" Leben ausgehaucht. Selbst im Tode soll er noch gelächelt haben.

"So weit ist es also gekommen, "ereiferte sich der fromme Schuster Tomasio und er zitierte, als wäre er der Mönch Girolamo Savonarola:

"Die Hure Babylon herrscht in Rom und der Papst liegt auf den Knien vor ihr."

Plötzlich drang lautes Geschrei an sein Ohr.

"An den nächsten Baum mit ihm", rief jemand. Antonio sah, eingekeilt zwischen einigen Männern, ein Jungen, der vergeblich versuchte, sich loszureißen.

"Haben wir endlich einen von euch Gesindel!"

Antonio trat näher und fragte, was geschehen sei.

Ein dicker Händler mit einem Stiernacken hob drohend seine Faust.

"Meine Geldbörse wollte er stehlen. Hätte nicht mein Gehilfe es gesehen, ich...."

Er verschluckte sich vor Aufregung und lief rot an.

Jemand kam schon mit einem Strick angelaufen. Er zeigte auf einen Baum, der in der Nähe stand. Unter Gejohle und Genugtuung, führte man den Jungen, dessen Widerstandskraft erlahmt war, dorthin.

Einer der Männer kam mit einer Kiste.

"Dein Ehrenplatz", sagte er grinsend zu dem Jungen.

Dieser schlotterte vor Angst. An seinen schmutzigen Wangen liefen die Tränen der Verzweifelung herunter. Sein Blick ging nach oben, und er flüsterte:

"Maria hilf".

Jemand hatte schon den Strick über den dicken Ast geworfen, als plötzlich eine schrille Stimme ertönte:

"Die Franzosen kommen! Bald werden sie in Mailand einmaschieren."

Einen Moment herrschte Stille. Für einen Moment ließ Garibaldo den Arm des Jungen los. Dieser hatte in seinem noch jungen Leben gelernt, jede Chance zu nützen. Mit einem Satz sprang er von der Kiste, und war in der Menge verschwunden.

"Verdammt", rief Garibaldo aus.

Jemand lachte und sagte: "Der Strick ist für die Franzosen!"

Man wandte sich an den Boten. "Und woher weißt du es?"

Dieser wischte sich mit einem Tuch die nasse Stirn. "Ein Reiter brachte die Botschaft. Wie die Heuschrecken sind sie in die Ebene eingefallen. Gott sei und gnädig."

Man sprach jetzt wild durcheinander, und ein jeder schimpfte auf die Franzosen, obgleich niemand wusste, was eigentlich los war. Nicole, ein verständiger Alter, der mit seinen fein geschnittenen Greisenzügen und seinem weißen Haar, des Öfteren Leonardo als Modell saß, versuchte mit seiner hohen Stimme die Wogen zu glätten. "Liebe Freunde, warum sollten die Franzosen unsere Feinde sein. Sie kommen um den Herzog Moro unterstützen, gegen den Antichristen Borgia, der auf dem Papstthron sitzt."

Der Händler Giovanni winkte ab. "Moro ist ein Mörder, der den rechtmäßigen Herzog hat umbringen lassen."

Er wandte sich an Nicole. "Und dein Leonardo, bei dem du zu Modell sitzt hat ihm dabei geholfen. Mit Gift aus seiner Hexenküche."

"Tod dem Thronräuber Moro und Leonardo", schrie jemand. Und obgleich die wenigsten etwas über Leonardo wussten, fielen sie mit ein in den Ruf. Nicole versuchte ihn vergeblich zu verteidigen. Eine Weile noch dauerte das Spektakel, bis ein ohrenbetäubender Lärm die Aufmerksamkeit sich einem anderen Zwischenfall zuwandte. Ein Esel war wild geworden und stieß mit seinen ausgetretenen Füssen gegen die Tische des Kesselflickers Enrico, sodass Töpfe und Kannen durch die Luft geschleudert wurden.

Einen Augenblick schaute Antonio lächelnd dem Treiben zu. Dann zuckte er mit seinen Schultern und begab sich zur Bierstube. Dort würde man vielleicht schon etwas mehr wissen, von den Franzosen. Noch einmal blickte er zum Dom, auf dessen höchster Spitze ein Steinmetz, als wolle er den Himmel erobern, an einem Engel arbeitete. Ihm schwindelte. Schnell überquerte er den Platz und bog in die Via Ghibellina ein. Bald sah er das Schild, auf dem zwei riesige Bierfässer verkündeten, dass es hier deutsches Bier gab.

Verschwitzt und ein wenig außer Atem, doch glücklich, trat er in die kühle Schenke ein.

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