Praktizierter Artenschutz© Günter J. MatthiaBehutsam nahm Irene das Kleinod aus der Schatulle. Sie wusste um den ungeheuren Wert, daher war ihr stets etwas blümerant, wenn sie es in die Hand nahm. Als sie noch ein Dreikäsehoch war, hatte ihr Vater ihr öfter gesagt, sie hätte Maurerhände. Sie brachte es als kleines Mädchen fertig, Dinge zu zerbrechen, die stabil genug für starke Männerhände waren. Nun war sie längst kein Kind mehr, aber eine gewisse Tollpatschigkeit hatte sie nie ablegen können. Doch bei aller Furcht vor möglicher Beschädigung war es ihrer Seele stets ein Labsal, das kostbare Stück zu berühren. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen darüber. Hatte Jonathan es ihr geschenkt, um Punkte zu machen? Wollte er sie bauchpinseln, um ihre Sympathie nach jenem dummen und völlig überflüssigen Streit wieder zu gewinnen? Möglich, durchaus möglich. Doch unabhängig von seinen Beweggründen: Sie hatte sich gefreut. Und freute sich noch heute an ihrem Kleinod. Er war von der Arbeit gekommen, das verpackte Geschenk in der Hand, und hatte gesagt: "Mein Augenstern, darf ich mich bitte entschuldigen? Du hast es nicht verdient, dass ich Dich gestern so behandelt habe." "Aber Du hast dich doch schon entschuldigt, mein Schatz." Er hatte ihr Stunden zuvor fernmündlich aus dem Büro bereits versichert, dass seine Liebe ihn drängen würde, die Zwietracht unverzüglich aus der Welt zu schaffen. Irene vergab ihm gerne, der ganze Streit war sowieso aus nichtigem Anlass entstanden. Vor dem Lichtspielhaus hatten sie sich nicht einigen können, welchen Film sie besuchen würden. Sie wollte in den Action-Thriller, er in die romantische Komödie. Sie waren schließlich ohne einen Film zu sehen mürrisch nach Hause gegangen, hatten kein Wort mehr mit einander gewechselt. Nicht einmal eine gute Nacht hatten sie einander gewünscht. Jonathan fiel es schon immer schwer, im Falle einer Stimmungstrübung die richtigen oder überhaupt Worte zu finden. So hold ihm seine geliebte Irene war, er konnte das Schweigen einfach nicht brechen. Irene wartete und wartete, schweigend - und er schwieg auch. Er wartete, bis sie die ersten Worte fand. Doch an jenem Tag, warum auch immer, hatte er sie schon mittags angerufen und sich dann, das Kleinod in der Hand, bei seiner Heimkehr erneut entschuldigt. Vielleicht gab das dem Geschenk eine solchen Bedeutung? Der materielle Wert war zwar nicht gerade gering, aber auch nicht übertrieben. Der Kinostreit lag nun schon so viele Jahre zurück, und dennoch konnte sie sich so genau erinnern. Wie schnell man doch vergisst, was man sich merken will, wie schwer man zu vergessen in der Lage ist, was längst nicht mehr als Erinnerung erwünscht ist. Irene legte das kostbare Stück zurück und schloss sorgsam die Vitrine. Sie atmete auf. Nichts war passiert, nichts war beschädigt. Auch ihre Liebe nicht. Jonathan würde in dreißig Minuten nach Hause kommen und sie konnte es kaum mehr erwarten. Irene zog den baumwollenen Schlüpfer aus und fand in der Wäscheschublade das schimmernde seidene Nichts, das er an ihr so sehr liebte, dass sie es nie lange am Leib behielt.
-- -- -- -- -- -- Nun fragt sich der geneigte Leser vielleicht, was die Überschrift mit Irene und Jonathan zu tun hat. Ganz einfach: Der Text enthält die zehn am meisten bedrohten Wörter unserer Sprache:
Platz 1: Kleinod Durch ihre Verwendung, sogar der Reihe nach, habe ich mich überzeugt, dass ich anhand von vorgegebenen Stichwörtern zu erzählen vermag und ganz praktisch zum Artenschutz beigetragen. Mehr zur roten Liste der deutschen Sprache gibt es unter http://www.bedrohte-woerter.de/ Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. |