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eBook Patricia Koelle: Flaschenpost vom Meer. Strandgeschichten

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Geschichten von Damals und Märchen vom Glück

© Reinhard Zintl

Es könnte schon sein ...
Abenteuer zwischen Bodden und Meer
Die Feen bei Glowe
Die Windmühle von Bobbin
Die Hexen von Binz
Prora ... eine Station
Der goldene Federkragen
Bernstein, Glücksstein ...

Es war Winter und ich saß mit meinen Rexkatzen am warmen Kachelofen. Die rechte Zeit um in alten Büchern zu kramen und Erinnerungen wach werden zu lassen.
Wer mag sie schon hören, die alten Geschichten von Damals. Oft nichts Ungewöhnliches, aber ein Stück Leben wie Jeder nur das Eine hat. Sind es doch die Älteren, die auf ihre Kindheit schauen und mitunter den Jungen was zu erzählen haben.
Wollt Ihr es hören, so lauscht. Wenn nicht, geht hinaus und schaut was der Tag euch bringt.

Es könnte schon sein ...

Von früher schon bekannt und immer mal wieder erzählt, sind die Geschichten um das sagenhafte Vineta. Noch heute spannend für Jung und Alt.

Wenn es ganz still ist und nur das Meer leise rauscht, kann man es ahnen. Diese prachtvolle Stadt an der Ostsee soll mit allen Reichtümern, mit Mensch und Tier in den tosenden Wellen versunken sein.

Kann ja sein, dass es so war, vielleicht aber auch nicht. Wer war schon dabei, dass er es so genau sagen könnte. Noch immer ist es ein Geheimnis, wo Vineta wirklich lag. Östlich der Insel Rügen sagen die Einen, viel weiter im Westen sind sich Andere ganz sicher, oder gar viel weiter nahe Danzig, oder dem alten Königsberg, vielleicht...

Wie dem auch sei, sollte es jemals gefunden werden, sind die Menschen vielleicht klüger als heute. Könnte ja sein, Vinetas Bewohner waren gar nicht so reich. Könnte ja sein, sie mussten hart arbeiten. Sicher ist nur, es muss etwas Besonderes an dieser Stadt gewesen sein. Etwas, das anders und schöner war als sonst an der Ostsee üblich. Kann ja sein, dass uns doch Dieses oder Jenes aus dem alten Vineta geblieben ist, nur wissen wir es nicht.

Sicher, einen schönen und wertvollen Schmuck aus den Truhen reicher Leute fände Jeder gern. Vielleicht nach einem Sturm, so wie man auch einen Bernstein am Ufer finden kann. Nicht nur Reichtümer, auch einfache Dinge, wie ein vom Meer geschliffenes Stückchen Holz oder Glas kann es sein. Menschen mit Fantasie und Sinn für Schönheit können so manchen Schatz bergen und sei es der Eindruck, den uns ein Wellenmuster am Ufersaum, im weißen Sand hinterließ.

Schon immer hat die Natur unsere Fantasie beflügelt und unser Leben verschönt. Vergessen wir nicht, auch Leid und Not können uns die Kräfte der Natur bescheren.

Auch heute ist die Ostseeküste in steter Veränderung. Erst kürzlich hörten wir von den Abbrüchen an den Rügener Kreidefelsen, bei denen ein Mensch sterben musste. Die Motive für Caspar David Friedrichs Gemälde sind ins Meer gestürzt, für alle Zeiten verloren. Ob man in 100 Jahren noch davon weiß?

Sicher erfreute man sich auch in Vineta an schönen Dingen. Handel wurde getrieben und mit Schiffen die Meere befahren. Das Leben muss dem anderer Städte am Meer ähnlich gewesen sein.

Aus Stralsund ist zum Beispiel bekannt, dass schon in sehr früher Zeit Hauskatzen zur Ungeziefervernichtung und vielleicht auch zum Zeitvertreib gehalten wurden. In den Speichern am Hafen und wohl auch in den Häusern der Stadt waren sie zu Hause. Mit eigenen Augen sah ich eine mumifizierte Katze, die Bauarbeiter unter alten Gemäuern in der Külp-Straße gefunden hatten. Ein mittelgroßes, schlankes Tier, das einst als Opfer für die Götter oder bei einer Katastrophe sein Leben verlor.

Ich musste an meinen Stralsunder Hauskater "Kurt" denken, der dort ganz in der Nähe, in der Fährstraße geboren worden war. Was mag nur aus ihm geworden sein? Hoffentlich hat ihn kein schlimmes Schicksal ereilt.

Nachdem er die Vorzüge einer warmen Stube und des vollen Napfes im Winter genossen hatte, war er im Frühling nicht mehr zu halten gewesen und dann doch wieder auf und davon. Auch wenn er ein rechtes Raubein war, gehörte er doch hier her. Sein schönes, schwarz glänzendes Fell verlieh ihm eine Eleganz, die mir besonders gefiel.

Die rote "Diana" hatte zwei Kätzchen bekommen, doch was scherte ihn das schon. Wie ich erfuhr, war auch sein Bruder "Paul" verschwunden, der sich in der alten Hafenkneipe bei Hanni doch scheinbar so wohl gefühlt hatte.

Was verstehen wir schon von heimlichen Sehnsüchten junger Kater nach Freiheit und Abenteuer. Wenn die Schiffe auf die Reise gehen und der "blaue Peter " weht, gibt es einfach kein Zurück.

Könnte doch sein, dass es in Vineta ähnlich war. Mit all den Kostbarkeiten und Raritäten, die die Schiffe aus fernen Ländern brachten, kamen auch die begehrten Katzen mit in die Stadt. Der praktische Nutzen, aber auch der Sinn für Schönheit und das Besondere ließ die Menschen den Wert der Tiere bald erkennen.

Ob der Sage nach wirklich alle Menschen und Tiere in der See umgekommen sind? Ich glaube das nicht. Könnte doch sein, dass mancher Händler gerade weit auf dem Festland war und so davon kam. Könnte doch sein, dass gerade die flinken Katzen, die Unheil oft schon lange im Voraus spüren, sich retten konnten. Sicher weiß ich es nicht, aber wäre es nicht schön? Mögt Ihr euch denn immer nur das Schrecklichste ausmalen? Ich jedenfalls nicht.

Es würde mich auch nicht wundern, wenn ein Kampf im Meer um Leben und Tod, seine Spuren für alle Zeiten sichtbar hinterließ. "Mutation" klingt natürlich sehr wissenschaftlich, romantisch aber eher nicht. Manchen Ortes kann man noch heute so seltene Katzen mit einem welligen Fell finden. Wenn Ihr die Augen offen haltet, habt Ihr vielleicht Glück. Mitunter hörte man davon, dass normale Hauskatzen ein kurzgelocktes Katzenkind zur Welt brachten, die Schnurrhaare gebogen, wie vom Sturm zerzaust.

Ein Zeichen dafür, dass deren Vorfahren aus Vineta stammten? Auch das weiß ich nicht so genau, möglich wäre es aber schon.

Verbürgt ist, dass es um 1930 zwei schön gelockte Kater im alten Königsberg (heute Kaliningrad) gab und wer weiß wo noch im Ostseeraum. Nach den Wirren des letzten Weltkrieges wurde solch ein Tier auch in Berlin gefunden. Ihr wisst vielleicht, das legendäre "Lämmchen" wird heute als die Urmutter der deutschen Rexkatzen angesehen.

Im Laufe der Zeit kam es immer mal wieder vor, dass ein weiteres Lockentier gefunden wurde. Auch ich hatte Glück und fand den Kater "Max" in Berlin, der jetzt neben mir am Ofen sitzt.

Zugegeben, von seinen wirklichen Vorfahren weiß ich nicht viel, vielleicht erzählte man mir nur eine Legende. Sicher aber ist, ein Schatz ist er allemal.

Die Zeit verrinnt und bald verlischt die Glut im Ofen. Schnell noch mal nachgelegt und die üblichen Vorbereitungen für die Nacht getan.
Mein Blick fällt auf die Narbe am Knie. Ich schaue wie durch ein Fenster ins Gestern und erinnere mich.

Abenteuer zwischen Bodden und Meer

Man sagte es sei Pfingsten und das Wetter schon sehr schön. Weiße Kniestrümpfe habe ich bekommen und freue mich, mit den Geschwistern hinaus auf die Wiese vor dem Haus zu laufen.

Plötzlich ein stechender Schmerz, als ich übermütig beim Spielen ins Gras falle. Glasscherben haben mein Knie verletzt. Was für eine Katastrophe, als ich die blutverschmierten Strümpfe sah, waren sie doch mein ganzer Stolz.

Bald war die Wunde geheilt und der Schmerz vergessen. Es zog mich hinaus in die spannende Welt vor der Tür. Über den langen, dunklen Flur ging es, der so beißend nach Bohnerwachs aus dem alten Pappeimer roch.

Am sumpfigen Teich, wohl eher ein Tümpel, ganz in der Nähe, gab es für einen Vierjährigen so aufregendes zu entdecken. Die grünen Frösche mit den goldenen Augen lebten hier. Ihr unbeschreibliches Konzert und ihre flinken Sprünge ins Wasser waren gar zu faszinierend. Gern hätten wir Kinder sie uns einmal aus der Nähe genauer angesehen, aber unsere Versuche so ein Tier zu fangen gelangen nie.

Einer der größeren Geschwister hatte uns gezeigt, wie ein kleines Segelschiffchen auf dem Wasser fahren konnte. Ein Stückchen Kiefernborke mit dem Küchenmesser in Form gebracht und ein Segel aus Papier gefaltet, konnte das schönste Spielzeug sein. So mancher Schnitt in den Finger war der Preis.

Hier im Dörfchen Glowe war die Natur in den fünfziger Jahren noch fast unberührt. Stets hörte ich das Rauschen der Ostsee und spürte den Seewind, der als Sturm schon einen Baum entwurzeln konnte. Am Fenster schauten wir dem Geschehen zu und fürchteten uns auch ein wenig, wenn der Sturm heulte und die Baumkronen der alten Kiefern und Fichten bedrohlich wankten. Windflüchter gehörten zur Küstenlandschaft und Moose und Flechten überzogen verrottende Stämme, Äste und den Boden.

Hatte sich der Sturm gelegt, gab es nichts Spannenderes, als nachzuschauen was die Wellen an den Strand geworfen hatten. Alte Kistenbretter mit ausländischer Aufschrift, ein halber Holzschuh und vieles Andere regten die Phantasie an und ließ uns etwas von fernen Ländern und der Größe der Welt erahnen. Die Spaziergänge mit den Eltern und Geschwistern waren immer ein großes Erlebnis und bleiben mir unvergessen.

Ach ja! Der durchdringende Ton des Nebelhorns war auch so bezeichnend für die abenteuerlichen Stimmungen, die ich in dieser Zeit erlebte. Bei schlechter Sicht war er nicht selten zu hören und ich erfuhr, dass die Schiffe in Küstennähe in Gefahr sein könnten zu stranden.

Die Fischer von Glowe mit ihren kleinen Booten waren besonders auf diese Warnungen angewiesen, war ihre technische Ausrüstung damals doch recht bescheiden. Mitunter fuhren sie bei solchem Wetter erst gar nicht zum Fischfang hinaus. Meist hatten sie auch noch ein wenig Landwirtschaft und verrichteten andere wichtige Arbeiten, um ihre Existenz zu sichern.

Trotzdem, wie herrlich war es, wenn eines der Boote mit gutem Fang ans Ufer kam. Wir liefen eilig durch den Sand und beobachteten die Fischer bei ihrer interessanten Arbeit. In ihren langschäftigen Fischerstiefeln reinigten sie die Netze und andere Gerätschaften im seichten Ufersaum. In der Nähe ihrer Häuser wurden dann die Netze zum Trocknen aufgespannt.

Gern verkaufte man den frischen Fisch direkt vom Boot. Die zappelnden Fische glänzten in allen Regenbogenfarben und wurden schnell nach Hause getragen. Ein unbeschreiblicher Duft durchzog wenig später oft das ganze Dorf. In den kleinen Räucheröfen wurde alles haltbar gemacht, was nicht sofort verkauft oder anderweitig verwertet werden konnte.

Ich erinnere mich auch an die "Expeditionen" zum Bodden, der nur auf schmalen Pfaden durch den Wald- und Schilfgürtel zu erreichen war. Ich hörte von Wildschweinen, die es hier reichlich geben sollte und dass es nicht ungefährlich sei, ihnen zu begegnen. Die Spuren im weichen Boden und abgerissene Zweige waren der sichtbare Beweis. Gut wäre es, schnell auf einen Baum zu klettern um sich aus der Not zu retten. Es soll auch vorgekommen sein, dass sich ein Fremder im sumpfigen Dickicht verlief und nur mit Mühe erst nach Tagen wieder heraus fand.

Ob es nun immer die Wahrheit war, oder uns Kinder von waghalsigen Unternehmungen abhalten sollte, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde es erzählt und wir haben es geglaubt.

Endlich am Bodden angekommen, tat sich ein Bild der Idylle für mich auf. Noch nie hatte ich bis dahin so schöne, weiße Schwäne gesehen, die sich majestätisch auf dem Wasser präsentierten. Es war, als käme ich in eine bisher unbekannte Wunderwelt, wie im Märchen. Die kleinen, in der Sonne glitzernden Wellen trieben weiße Schaumkronen ans Schilfufer heran, wo bunte Libellen über dem Wasser tanzten. Ganz anders als an der offenen See, war alles von Ruhe und bizarrer Beschaulichkeit bestimmt.

Fast könnte man meinen, die Zeit in Glowe sei das reinste Paradies gewesen. Schön war es tatsächlich, auch wenn nicht nur immer die Sonne schien. Die Sorgen der damals Erwachsenen ließen wahrscheinlich ein ganz anderes Bild entstehen.

Alles banal und langweilig? Nun gut, wenn Ihr es so empfindet. Weitab von "Aktion" und heutigem Fernsehkonsum war es natürlich.

Ich war damals ein Kind und habe nichts vermisst. Für mich war es ein Abenteuer.

Die Härte der Natur und die besondere Landschaft beeinflussten seit Jeher das Geschehen an der Ostseeküste. Tatsächliche Ereignisse wurden überliefert und mischten sich mit den Wunschträumen armer Leute.
Der Glaube an Gerechtigkeit und die Hoffnung auf bessere Zeiten machte ihnen Mut.

Die Feen bei Glowe

Damals, als Glowe erst aus drei Fischerhütten bestand, kannten die Menschen noch die sanften Feen. Sie teilten in Freundschaft mit ihnen ihr karges Leben und waren es zufrieden. Diese reizenden Wesen aus Schönheit und Licht waren Zauberinnen, die die Kunst der Verwandlung pflegten.

Ich hörte, dass das noch immer so sein soll. Des Nachts kleiden sie sich in silberne Gewänder und duftige Spitzen, reichlich mit prächtigem Schmuck verschönt. Bis die Nebel am Morgen schwinden und die Sonne sich Bahn bricht, kann man sie auf den Dünen am Walde wispern und kichern hören. Am Tage aber verwandeln sich die Feen gern in stolze Schwäne, quakende Frösche oder anderes Getier. Noch heute kann man ihnen in mancherlei Gestalt begegnen, ohne zu ahnen, wen man da wirklich vor sich hat.

Es kam eine Zeit, da immer wieder Schiffe an der Küste zerschellten und auch Piraten ihr Unwesen trieben. Nicht weit vom Kap Arkona strandete eines Tages ein großes Segelschiff, mit reichen Gütern beladen. Es war ein schlimmer Sturm, wie er hier im Herbst nicht selten ist. Das Wrack wurde weit in die Bucht nahe Glowe getrieben. An Bord waren Fässer mit Wein und mit Rum, teure Stoffe und seltene Gewürze. Noch so manche Dinge von Wert waren dabei.

Die freundlichen Feen halfen flugs den Überlebenden die Güter zu bergen, so gut sie es vermochten. Hoffend, ein paar Kleinigkeiten als Lohn zu erhalten, zeigten sie sich offen und unbedarft in ihrer Schönheit. Singend baten sie mit feinen Stimmen:

"Trotzt dem Winde und der See,
aber dankt auch den Helfern aus der Not.
Wir sind dann zufrieden, vergessen euch nie.
Gebt nur ein Stück von dem was ihr habt,
so schwinden wir glücklich,
bald wird es Tag."

Die Männer aber waren Piraten und üble Gesellen, denen man jede Schandtat zutrauen kann. Sie machten sich über die Feen lustig und verhöhnten sie mit derben Reden. Versuchten gar die prächtigen Gewänder und den Schmuck zu rauben. Schwer betrunken schliefen sie schließlich ein.

Ihr könnt es euch schon denken. Entsetzen und bitterer Groll ergriff die Feen, über so viel Verderbtheit und Undankbarkeit. Seit jener Zeit, hat sie kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen.

Die Piraten aber wurden zur Strafe in Wildschweine verwandelt. Noch ehe der Tag anbrach, hörte man sie im Walde grunzen. Niemals mehr fanden sie nach Hause zurück. Wie man weiß, wühlen sie noch immer gierig im sumpfigen Boden und können aggressiv werden, wenn sie sich gestört fühlen. Von Habgier getrieben, der Verstand von der Trunksucht benebelt, jagen sie ewig gestohlenen Schätzen nach und glauben, es wäre das Glück.

Ich rate Euch, haltet Euch fern und geht Euren Weg!

Wertvolle, besondere Pflanzen sprossen später aus den Samen des Wachholders, des Meerkohls oder Senf, die getrocknet als Gewürze dienten. Schaut Euch nur um, Ihr werdet sie hier finden. Manchmal, wenn Ihr am Abend auf die Ostsee am Kap Arkona schaut, könnt Ihr ein tiefrotes Leuchten am Grunde erkennen. Spiegelungen der untergehenden Sonne und der Wolken, so wird man Euch sagen.

Wenn es aber doch vom Wein und Rum aus den versunkenen Schiffen herrührt?

Ach, Ihr glaubt mir das nicht? Na ja, dann werdet Ihr wohl keine kleinen Kinder mehr sein.

Ist es Euch auch schon mal so ergangen?
Man erlebt die merkwürdigsten Dinge und kann sie sich nicht erklären. Viel später, wenn sie längst vergessen scheinen, schließt sich dann aber der Kreis und alles wird doch noch klar und verständlich.

Die Windmühle von Bobbin

Nach langer ermüdender Bahnfahrt war die Familie1956 in Sagard aus dem Zug gestiegen. Auf nach Glowe, so hieß es jetzt. Eine Wohnung und Arbeit sollte es geben, ein besseres Leben vielleicht.

Glücklich, den langen Weg mit Gepäck und Kinderwagen nicht zu Fuß gehen zu müssen, nahmen wir das Angebot eines Ponywagens gern an. Ein kleiner Mann mit lustigem Schnurbart und spitzem Hut trieb die flinken Pferdchen mit seltsamen Rufen an. Uns Sachsen war die plattdeutsche Sprache sehr fremd, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Kurz gesagt, wir verstanden kaum ein Wort.

Neugierig schauten wir in die fremde Landschaft. Vorbei am Schloss Spyker und der kleinen Ortschaft Bobbin, verging die Zeit wie im Fluge. Seltsam nur, dass unser Kutscher immer stiller und ernster wurde. Dann aber, als wir hinter Bobbin bergab in Richtung Glowe fuhren, rief er immer wieder aufgeregt: "Kümm bloß schnell wech, kümm bloß schnell wech! ..."

Was auch immer das zu bedeuten hatte. Bald waren wir am Ziel und die Merkwürdigkeiten vergessen. Den Ponywagen und seinen Besitzer sahen wir nie mehr wieder.

Längst hatten wir uns auf der Insel Rügen eingelebt und die Jahre waren ins Land gegangen. Es muss 1970 gewesen sein, als ich mit meinem Bruder Dieter eine Radtour unternahm.

Von Binz kamen wir über Mukran und wollten nun vor Sagard rasten. Wir entdeckten am Wegesrand eine Stelle mit vielen Steinen, die wohl einst fleißige Hände vom Felde gesammelt hatten. Hier war es uns recht und wir ließen uns nieder.

Kaum dass wir unseren Proviant verzehrt hatten, sahen wir ein altes Frauchen vom Rübenacker kommen. In ihrer bunten Kittelschürze, die wohl schon so einige Tage auf dem Felde gesehen hatte, kam sie langsam auf uns zu. Kopftuch und Gummistiefel rundeten das Bild ab.

Als sie näher kam, hörten wir sie klagen: "Ach mien Krütz, ach mien Krütz...." Ihre linke Hand hielt sie dabei auf dem gekrümmten Rücken und in der rechten die Hacke vom Rüben verziehen. Flugs setzte sie sich neben uns auf die Steine und musterte uns neugierig. So dass wir es nicht überhören konnten, sagte sie immer wieder vor sich hin: "Wat hew ick een Durst, wat hew ick een Durst..."

Das konnte ich gut verstehen. Nicht grundlos sagt man, dass Durst schlimmer als Heimweh sei. Es war nicht lange her, dass ich als Schüler auf dem Acker der LPG Rüben verzogen hatte. Das war eine der wenigen Möglichkeiten, für die Ferien ein Taschengeld zu verdienen und durchaus nichts Ungewöhnliches zu meiner Zeit.

Was soll's, dachte ich und reichte der Frau die Flasche Bier, die in der Tasche war. Hast du nicht gesehen, goss sie das Bier gierig in sich hinein und schmatzte wohlig dabei. Mit leuchtenden Augen rückte sie näher an uns heran und sagte: "Dank für dien Bier, nu vertäl ick dir."

Geheimnisvoll flüsternd begann sie zu erzählen, und schaute uns so durchdringend an, dass wir keinen Widerspruch wagten: "Von meiner Großmutter weiß ich es ganz genau. Die Steine auf denen ihr sitzt gehören nur mir. Meine Vorfahren in alter Zeit kamen aus Bobbin hierher. Meinem Ahnen gehörte damals dort die Mühle am Hang. Er war ein wohlhabender und fleißiger Mann, nur verstand er sich mit den Nachbarn nicht gut.

Euch werde ich es verraten, ich trank euer Bier.

Das waren die Erdmännchen, man kannte sie dort seit ewiger Zeit. Kleine verträgliche Leute eigentlich, die ihre Gärtchen am Rande der Felder hatten und in Erdhöhlen und kleinen Hütten lebten. Der Boden war dort steinig und gab nicht viel her, aber die Erdmännchen waren genügsam und kamen zurecht. Ihre kleinen hübschen Pferdchen sollen des Nachts über Wiesen und Felder gesprungen sein, aber niemand hatte einen Schaden dadurch.

Ja, wie das manchmal so zwischen Nachbarn ist. Der Müller hatte seine Mühle sehr dicht am Hang aufgebaut und wollte die kräftige Briese, die von der See wehte nutzen. Die Erdmännchen aber wohnten dort schon sehr lange und fühlten sich gestört. Die Mühle warf lange Schatten in die Gärtchen und der Lärm war für die Kleinen oft schlimm. Dem Müller war's egal. "Was interessieren mich die Habenichtse", soll er gesagt haben.

Die Erdmännchen überlegten natürlich was sie tun könnten und hatten eine Idee. Des Nachts gruben sie tief unter der Mühle viele Gänge und meinten, so den Müller vertreiben zu können. Wenn die Mühle sich erst neigte und wankte, wird der Müller schon einsehen, dass sie am falschen Platze steht.

Bald war es Herbst und der Wind nahm arg zu. Tatsächlich begann die Mühle zu wackeln und zu wanken, aber damit nicht genug. Eines Tages stürzte die Mühle um und die hölzernen Flügel zerbarsten dabei. Eine Laterne zerschlug und viel ins trockene Gras. Die Katastrophe geschah!

Rasend schnell breitete sich ein Brand aus und vernichtete was man sich nur denken kann. Der Müller und seine Familie überlebten mit Müh und Not. Die Erdmännchen aber wurden von Panik ergriffen und stieben davon. Ihre Hütten verbrannten und der Rauch zog durch ihre Höhlen und Gänge. Immer wieder hörte man sie angstvoll rufen: "Kümm bloß schnell wech, kümm bloß schnell wech ..."

Keiner weiß mehr, wo die Erdmännchen geblieben sind. Nur so viel, dass sie ihre Gärtchen nie verkauft haben. Alle paar Jahre soll aber einer von ihnen nach dem Rechten sehen.

Dem Müller blieb nicht mehr viel. Er musste sein Land verkaufen, damit die Familie im Winter nicht verhungerte. Erst sein Sohn konnte eines Tages bei Sagard einen billigen, steinigen Acker kaufen. Hier wo ihr sitzt, wollte er eine neue Mühle bauen und sammelte viele Jahre die Steine für einen sicheren Grund.

Trotz aller Mühe, der Familie gelang es auch in späteren Jahren nicht, eine neue Mühle zu bauen. Mal fehlte das Geld für gutes Bauholz, dann wieder fanden sich keine Leute, die beim Bau geholfen hätten. Vielleicht wisst Ihr es auch. Mit Fleiß allein ist noch Keiner voran gekommen, wenn ihm ein wenig Glück und gute Freunde fehlten."

"Ja, ja..." seufzte die alte Frau. Plötzlich sprang sie auf und deutet auf den sich verdunkelnden Himmel. Sie sagte nur noch: "Nu is dat Tied!" Schnell war sie wieder auf ihrem Rübenacker verschwunden. Recht hatte sie! Wollten wir noch vor dem Unwetter zu Hause sein, war es Zeit weiterzufahren.

Seid Ihr schon mal in Binz gewesen? Was für eine Frage, werdet Ihr sagen. Der Ort gehört doch zu Rügen wie das Wasser zum Meer.
Ob Ihr ihn wirklich so gut kennt? Wartet es ab, und hört erst mal zu.

Die Hexen von Binz

Glaubt es mir, das ist nicht so ein Schmarren aus der alten Zeit. Schon war, die Hexen sind nicht mehr die Jüngsten und auch meine ersten Begegnungen sind schon ein Weilchen her.

Damit Ihr es versteht. Als ich 1958 in Binz eingeschult wurde, war es eine Freude, die interessanten Schaufenster in der Hauptstraße mit den Andenken und manchem Seemannskitsch zu bestaunen. Ein reizender, ruhiger Ort der mir gut gefiel. Er war nicht zu ländlich, aber auch keine Stadt. Deutlich spürte man, dass hier mal ein anderes Leben existiert haben musste.

Die heutige Seebrücke gab es noch nicht, aber einige Pfähle aus Vorkriegszeiten ragten noch aus der See. Übermütige junge Leute, wie mein Bruder Dieter, der ca. 17 Jahre alt war, schwammen dort hinaus um Kraft und Mut zu beweisen. Zum Entsetzen unserer Mutter, die ihre Angst nicht verbarg und es deutlich Dummheit nannte, so ein Risiko einzugehen.

Mein Schulweg führte durch den Park mit den imposanten Rhododendron Büschen. So ein lackglänzendes Blatt mit der samtgrünen Rückseite war wunderschön und als Lesezeichen sehr gefragt. Ein wenig unheimlich war es auch, wenn wir dort am Morgen kaum einem Menschen begegneten.

Eines Tages sagte die Lehrerin: "Es ist Herbst und wir wollen etwas aus den Eicheln basteln. Wir können sie ganz in der Nähe finden." Mit der ganzen Schulklasse ging es hinaus in den Herbstwind, der die Eicheln von den Bäumen purzeln ließ und das rote Laub von der Hauswand vor sich her trieb.

Plötzlich, als wir die Straße entlang gingen, rief eines der Mädchen ganz laut und erschrocken: "Da! Seht mal! Eine Hexe!" Wie gebannt schauten alle auf eine alte Frau, die uns entgegen kam. Keiner wagte ein Wort, das Entsetzen war groß. Die Lehrerin rief: "Dass Du dich nicht schämst, die alte Dame so zu kränken, darüber reden wir noch!" Wortlos ging die Frau an uns vorbei und ich weiß es noch genau, so ähnlich stellt man sich doch die Märchenhexen vor, das ist die Wahrheit.

In der Schule war das Erlebte nicht so einfach beiseite zu schieben. Die Standpauke hatten wir alle vernommen und auch, dass es doch gar keine Hexen gäbe. In den Pausen aber wurde getuschelt und den Zweifeln neue Nahrung gegeben. Mancher hatte schon von wirklichen Hexen gehört und erzählte geheimnisvolle Dinge.

Die Zeit verging und andere Wichtigkeiten traten in den Mittelpunkt des Schulalltags. Auf dem Heimweg manchmal, wenn mir etwas Seltsames begegnete, beschlich mich doch mitunter ein ängstliches Gefühl. Ich könnte Euch noch genau die Stelle zeigen, wo mir so eine merkwürdige Geschichte widerfuhr.

Ich weiß nicht mehr wie es kam, dass ich mich plötzlich ganz allein auf dem sandigen Weg in Richtung Bahnhof befand. Da sah ich doch, wie eine jüngere Frau den Abhang hinter einem der Häuser herunter kam. Mit Händen und Füßen zog und schob sie ein großes Bündel am Boden entlang. Die langen Haare hingen ihr dabei strähnig vor dem Gesicht und es wirkte alles gar zu schauerlich. Was war das nur ...? Das ist ja ein Mensch, erschrak ich und erstarrte vor Angst!

Da rief die Frau aus der Ferne: "Was glotzt Du so, hast Du noch keinen Betrunkenen gesehen?" So schnell ich konnte rannte ich davon, ohne mich noch einmal umzusehen. Der Vorfall hatte mich als Kind noch lange verfolgt. Im Traum geschahen ganz schreckliche Dinge.

Ein anderes Erlebnis viel auch in diese Zeit und frischte die Erinnerung wieder auf. Mit meinen Eltern besuchten wir in Binz eine Familie in einem kleinen Häuschen mit Garten. In der Nähe des Kleinbahnhofes war das, wo wir auch einen Garten besaßen und Pläne für einen Hausbau schmiedeten.

In der Küche sahen wir ein Körbchen mit zwei jungen Kätzchen, die gerade ein paar Tage alt waren. Schön sahen sie aus. Das eine mit schwarzgrauen Punkten auf hellerem Grund, das andere gestreift. "Die ist schön, wenn sie groß genug ist holen wir sie uns", sagte meine Mutter. Da schlug das Küchenfenster plötzlich auf und ich erschrak! Eine schreckliche Fratze starrte mich an und mein Herz schlug wie wild. "Lasst doch die Mutterkatze rein", krächzte eine alte Frau aus dem Garten und setzte ein großes Tier, ähnlich einer Wildkatze auf das Fensterbrett.

Später holte meine Schwester Irene das Kätzchen dann auch ab. Wir hatten leider nicht viel Freude mit ihm. Die Zerstörungswut des Tieres kannte keine Grenzen und an Stubenreinheit war es nicht zu gewöhnen. Als ich meine Mutter fragte, wo die Katze eines Tages geblieben war, sagte sie nur: "Wer weiß, vielleicht fühlt sie sich in der Freiheit wohler." Irgendwann, ohne es zu bemerken war die Katze verschwunden. Die Gedanken an die Hexen auch.

In den letzten Jahren bin ich nicht mehr oft nach Binz gekommen. Vieles hat sich verändert und ein Hotel reit sich an das andere. Ich habe das Gefühl, dort nicht mehr zu Hause zu sein.

Eine echte Hexe ist da freilich von anderer Natur und weiß den neuen Luxus zu genießen. Gut kann ich mir vorstellen, dass ihnen die heutige Zeit so richtig zu Gesicht steht. Ein großer Hut mit Sonnenbrille kann die lange Nase und den starren Blick bestens verstecken. Sie mischen sich auf der Strandpromenade gern unter die Urlauber. In ihrer Kleidung sind sie kaum zu unterscheiden, wo ja kleinkarierte Hosen in bräunlichen Farbtönen viel getragen werden.

Das Meer von Düften der Parfüms und Sonnencremes schafft ein völlig neues Lebensgefühl. Mit Ringelblumencreme und Veilchenwässerchen gibt sich heute nicht einmal mehr eine Kräuterhexe zufrieden. Wer interessiert sich schon noch für die Gaben der Natur. Wilde Rosen, Heidelbeeren und viele schmackhafte Pilze hat es in der Gegend bei Binz immer gegeben. So frisch aus dem Walde kann sie nur ein fleißiger Sammler genießen.

Eines hat sich allerdings nicht geändert. Die Neugier der Hexen ist noch wie früher sehr groß. An den Terrassentischen lauschen sie den Gesprächen und sinnen über mancherlei Schabernack nach. Wirklich böse sind sie eigentlich nicht, aber leicht zu kränken. Hat einer Pech, mischen sie ihm schon mal ein paar giftige Tropfen ins Glas. Nicht selten sind nach langem Zechgelage dann Kopfschmerzen oder Durchfall die Folge. Der berühmte Rückenschmerz ist eher die Ausnahme.

Kaum einmal kommt es heute noch vor, dass ein Kind mit klarem Blick so eine Hexe entlarvt. Wie sollte das auch geschehen? Fühlen sich doch vor allem gutbetuchte, reifere Leute hier wohl. Ist die Saison vorbei und der Seewind bringt frische, saubere Luft, ziehen sich die Hexen bald in die nahen Wälder zurück und es atmet sich wieder gut durch.

Die Zeiten der Unbeschwertheit und Idylle hatten sich gewandelt. Sicherlich ist Euch das nicht entgangen.
Mit zunehmendem Alter nimmt auch ein Kind das Erlebte kritischer war und stellt sich Fragen. Warum sollte es mir anders ergehen?

Prora ... eine Station

Kaum zu glauben! Ein halbes Jahrhundert ist es her.

Wenn man hier auf dem staubigen, schlecht befestigten Bahnsteig stand, meinte man fast am Ende der Zivilisation angekommen zu sein. Wenn der Zug weiter gefahren war und die Dampflokomotive ihre schrillen Pfiffe hören ließ, Rauch und Dampfwolken verflogen, dann wurde endgültig klar, hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht.

Sieh an, das alte Bahnwärterhäuschen ist heute noch da. Frische Farbe..., aber sonst? Und dort, das Fachwerkgebäude mit dem Wellblechdach....! Ich sehe noch, wie hier vor dem Haus eine Lärche mit ihren duftigen, frischen Nadeln stand. Ein Haus? Heute doch eher ein herunter gekommener Lagerschuppen mit zugemauerten Fenstern und reichlich Unrat im Umfeld.

Eine Familie mit einem Mädchen hatte hier gewohnt. Später ging es mit mir in Binz zur Schule. Im offenen Fenster stand immer eine interessante Pflanze, die mich in ihren Bann zog. Ein "Brutblatt" hatte ich erfahren und auch ein paar Ableger erhalten. Mit wenig Geduld und zu viel Wasser gingen sie mir bald ein.

Auch ein kleiner Laden befand sich anfangs im Haus. Verschiedene Grundnahrungsmittel und typische Kioskartikel gab es hier zu kaufen. Die wenigen Einwohner von Prora und vor allem Armeeangehörige kauften hier ein.

Der Weg zu unserem damaligen zu Hause verlief von hier aus an dunklen Bretterzäunen entlang. Ich plagte mich mit einer vollen Milchkanne, die für einen Fünfjährigen einfach zu schwer war. Mit beiden Händen fasste ich den Tragebügel, der sich schmerzhaft in die Haut drückte. Stück für Stück ging ich vorwärts um immer wieder abzusetzen.

Links des Weges befand sich am Bahngelände ein langgezogener Speicher. Gern liefen wir Kinder über die Verladerampe unter dem überstehenden Dach. Ein Schutz vor Sonne und Regen. Keine Spur ist jetzt mehr davon zu sehen. Eine neue Straße führt hier entlang. Das anschließende Gelände mit den einstigen Sträuchern und jungen Bäumchen hat sich zu einem lichten Wald gemausert. Und da! Jetzt blitzen die neuen roten Dächer der Häuser durch die Baumwipfel. Oh ja, hier lebten wir damals. Die kleinen Holzhäuschen und die Baracke am Anfang der Siedlung gibt es nicht mehr.

Seltsam, wie plötzlich das damalige Leben, meine Kinderzeit, wieder ins Bewusstsein gerät. Bei fast jedem Wetter spielten wir hier draußen in der Natur. Die umgebenden Wälder, die Ostsee ... aber auch die Überbleibsel des KdF-Bauwerkes aus Hitlers Zeiten lagen vor der Tür. So lange war der Krieg noch nicht vorbei und seine Spuren noch zu finden.

Mein Vater und die älteren Geschwister hatten hier jetzt Arbeit gefunden. Die NVA war gegründet worden und bezog das riesige Objekt. Selbst Dieter war schon Soldat geworden, obwohl er noch keine 18 Jahre alt war. Für uns Kinder war es spannend, heimlich unter den Zäunen hindurch zu kriechen und das Treiben des Militärs aus der Nähe zu beobachten. Einen Teil des unfertigen KdF-Baues hatte man versucht zu sprengen. In den Trümmern haben wir wie selbstverständlich gespielt. Keller standen unter Wasser und Löcher in den Fußböden hätten zu tödlichen Fallen werden können. Schon damals kamen uns Gerüchte zu Ohren, nach denen es unterirdische Gänge und sogar einen heimlichen U-Boothafen gegeben haben soll. Wirklich nur Gerüchte, wie man heute weiß.

Ich kann es noch immer nicht ganz verstehen. Hat sich denn niemand um uns gesorgt? Eines Tages hatte es einen schrecklichen Unfall gegeben. Ein Nachbarskind hatte in einem ungesicherten Transformatorenhäuschen gespielt. Schwerste, lebensgefährliche Stromverletzungen waren die Folge. Alles Entsetzen kam zu spät.

Manchmal schauten wir auch zu, wie Soldaten mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren. Im Gelände wurden alte Bretterbuden, Schlagbäume und viel altes Zeug abgerissen und verbrannt. Der markante Geruch von brennender Teerpappe hat sich mir eingeprägt. Ich erinnere mich auch, wie wir im Wald diverse Munition gefunden hatten. Ein Offizier sah wie wir damit spielten und nahm alles an sich. Vieles was ich in dieser Zeit erlebte, wäre heute undenkbar. Zum Glück!

In der kleinen Siedlung versuchten die Bewohner sich einzurichten. Hier ein kleines Gärtchen, dort ein Hühnerstall... usw. Auch unsere Familie hielt ein paar Hühner und sogar zwei Schafe. Ein einfacher Bretterschuppen musste als Stall genügen. Lustig war es, mit den Beiden an der Leine auf die Suche nach saftigem Grünfutter zu gehen. Irgendwann waren sie dann aber ihrer Bestimmung gefolgt und im Kochtopf gelandet.

Die Lebensverhältnisse waren wirklich sehr ärmlich. Sehr gut weiß ich noch, wie unsere große Familie um das tägliche Brot ringen musste. Das Einkommen meines Vaters reichte wohl kaum zum Sattwerden. Wenn er nicht gelegentlich ein paar Lebensmittel bei der NVA "organisiert" hätte, wäre es noch schlimmer für uns alle gewesen. Ein deftiges Brot mit Konservenwurst konnte schon große Zufriedenheit bedeuten.

Nicht nur einmal kam es vor, dass sogar meine große Schwester Hannelore Blut spendete um dafür Lebensmittel kaufen zu können. Sie arbeitete damals als Zahnarzthelferin im NVA - Med. Punkt. Wenn wir heute miteinander telefonieren, sprechen wir mitunter noch über diese schwere Zeit.

Schon frühzeitig wurden wir Kinder angehalten, etwas Nützliches für die Familie zu tun. Holz und Kiefernzapfen sammelten wir im Wald und Spaß hatten wir auch dabei. Interessant war es immer, wenn am Bahnhof Panzer oder andere Militärfahrzeuge verladen wurden. Meist vielen dann hölzerne Sicherungsklötze und Ähnliches ab, die sich ideal als Heizmaterial eigneten.

Auch Kohle wurde in großen Mengen für die NVA abgeladen. Ein alter Kinderwagen und diverse Eimer wurden von uns mit Briketts vom Straßenrand gefüllt. Bruder Gerd wurde dabei einmal von einem LKW angefahren. Glücklicherweise trug er neben dem Schock keine schweren Verletzungen davon.

Was war das nur für eine Zeit? Wenn ich jetzt vor den Häusern stehe, habe ich das Gefühl, als wäre alles erst gestern gewesen.

Bei allen Belastungen und Mühen gab es auch Schönes. Es wäre nicht richtig, diese Seite der Medaille unter den Teppich zu kehren. Meine Mutter war sehr musikalisch und hatte eine schöne Stimme. Auf der Mandoline oder Mundharmonika spielte sie, ohne je eine Musikschule besucht zu haben. Viele Lieder brachte sie uns bei und pflegte mit uns eine kleine Hausmusik. Beiläufig erfuhren wir Dinge aus ihrer Jugend und wie sehr sie sich immer ein Klavier gewünscht hatte. Mein Vater war dabei eher ein stiller Zuhörer. Musikalität war nicht seine Stärke. Einen Fernseher, der uns die Zeit hätte vertreiben können, hatten wir damals noch nicht.

In bester Erinnerung habe ich viele gemeinsame Erlebnisse in der Natur. Immer gab es etwas dazu zu lernen und mein Blick schärfte sich für die Vorgänge und Schönheiten in Wald und Flur.

Im Sommer gehörten der Strand und die Ostsee ganz uns. Baden, Sandburgen bauen, Bernstein und Muscheln sammeln, wie das so ist. Im Wald sammelten wir vor allem Heidelbeeren oder Brombeeren, die den Speisezettel bereicherten. Auch den Herbst mit seinen vielen Pilzen und den schönen Farben habe ich lieben gelernt.

Geradezu legendär sind unsere Wanderungen nach Mukran und zu den Feuersteinfeldern. Diese einzigartige Landschaft mit ihren ausgedehnten Heideflächen zwischen den weiß-grauen Steinen und Wachholderbüschen gibt es sonst nirgendwo. Nur wenige Menschen begegneten uns damals auf unseren Wegen. Stacheldrahtzäune und Warnschilder erinnerten daran, dass wir uns in militärischem Sperrgebiet befanden. Müde und erschöpft waren wir am Abend, glücklich über die vielen gesammelten Pilze und darüber, wohlbehalten wieder zu Hause zu sein.

Der Winter direkt an der Küste kann sehr hart sein, das wisst Ihr schon. Kein Grund den ganzen Tag in der Stube zu sitzen und Trübsal zu blasen. Der kleine Hügel am Haus bot sich zum Rodeln an. Schneemänner wurden gebaut und im Schnee so manche Schlacht geschlagen. Ein Jeder kennt auch heute die typischen Kinderspiele.

Mit Bedauern und Neugier erfuhr ich, dass Wildenten und auch Schwäne in der Kälte verendet waren. Bald zogen wir mit unserem Schlitten los, durch den harschen Schnee hin zum Strand. Mit blau gefrorenen Händen sammelten wir die toten Tiere ein. So reglos, ganz aus der Nähe, hatten wir sie noch nie gesehen..... Auch der Tod gehört zum Leben, das hatte ich nun gelernt.

Vieles aus diesen Jahren war für mein ganzes Leben prägend, mag es aus heutiger Sicht auch sehr alltäglich erscheinen. Ich sage nur: " Weihnachten!" Die hektischen Vorbereitungen in der Familie waren überschattet von schlechten Stimmungen zwischen den Eltern. Was auch immer die Gründe waren, das kleinste Missgeschick konnte das Fass zum Überlaufen bringen. Ich weiß noch, wie das Aufstellen des Weihnachtsbaumes fast zur Tragödie ausartete. Ein scheußlicher Baum, wo doch die Auswahl gar nicht größer hätte sein können! Schließlich wohnten wir fast im Wald! Natürlich auch kein richtiger Baumständer, .... und so weiter und so fort!

Unsere bescheidenen Kinderwünsche gingen meist nicht in Erfüllung. An großartige Geschenke war kaum zu denken, aber immerhin ein paar Kleinigkeiten für Jeden. Die Kochkunst unserer Mutter entschädigte auch für Vieles. Aus einfachen Zutaten hatte sie für die tollsten Weihnachtsnaschereien und Speisen gesorgt. Wir hatten eine warme Stube und unser geschmückter Weihnachtsbaum erschien uns nun auch nicht mehr so hässlich.

Nach den Feiertagen lagen die unnütz gewordenen Bäume der Nachbarn vor den Häusern herum. Sie eigneten sich noch gut für fantasievolle Kinderspiele, bis sie schließlich zerhackt und verheizt wurden.

Dann war da die Verwandtschaft aus Sachsen.

Oh ja, besonders im Sommer ist es herrlich an der Ostsee und ein kostenloses Urlaubsquartier wie ein Lottogewinn. Das hatten sie wohl erkannt, wer will es Ihnen verdenken. Auch für uns war es eine interessante Abwechslung. Tante Ilse mit ihren zwei Töchtern und Anhang quartierte sich bei uns in Prora ein. Es ist mir ein Rätsel, wie das in unserer kleinen Wohnung möglich war.

Auch meine Großeltern aus Penig kamen zu Besuch. Die vielen Waldheidelbeeren hatten es ihnen angetan. Ganze Wassereimer wurden voll gepflückt und mit auf die Heimreise genommen. Über die albernen Neckereien zwischen den älteren Leuten lässt sich noch heute trefflich lästern.

Oftmals hatte ich das Bedürfnis dem familiären Trubel zu entfliehen. Ganz allein stromerte ich durch den Wald. Ich konnte stundenlang irgendwo in einem kleinen Baum sitzen und in den Himmel schauen. Die Wolken, Sonnenstrahlen und das Spiel des Windes in den Baumkronen ..... Gefühle tiefer Traurigkeit aber auch der Freude habe ich erlebt.

Vieles gab es zu erforschen und zu bestaunen. Wie war das mit den Sämlingen der Bäume? Ich versuchte winzige Kiefern und Fichten in alte Töpfe zu pflanzen, aber immer wieder gingen sie ein. Leicht ist es nicht, ein guter Gärtner zu sein. Später legte ich mir ein kleines Blumenbeet an und freute mich über das Gedeihen. Hier und da konnte man eine Blume finden, die als Gartenabfall überlebt hatte. Für mein Beet waren sie gerade richtig. Schöne Gräser und interessante Kräuter pflückte ich zu Sträußen und brachte sie mit nach Hause. Von meiner Mutter belächelt, kamen sie dann in eine Vase oder ein leeres Marmeladenglas.

Nach der Einschulung war es mit der endlos freien Zeit vorbei. Größere Anforderungen waren zu erfüllen und neue Interessen entwickelten sich.

Wenn mal wieder der Zug zwischen Prora und Binz ausgefallen war, oder das Fahrgeld einfach für Wichtigeres Verwendung gefunden hatte, so gingen wir eben zu Fuß. Entlang der Bahngleise war manche Pfandflasche zu finden. Flaschen zu sammeln hatte für uns inzwischen eine wichtige Bedeutung erlangt. Dieser und jener kleine Wunsch ließ sich damit erfüllen, zumal Taschengeld damals ein Fremdwort für uns war.

Der neue Laden in Prora und viele Geschäfte in Binz hatten reizvolle Dinge anzubieten, aber man musste sie auch kaufen können. Es war schon bitter, wenn Mitschüler mit ihren neuen Sachen und sogar blitzenden Fahrrädern prahlten. Warum nur war das so?

Dieter, der große Bruder hatte sich eine Angel zu gelegt. Manchmal nahm er uns mit an den kleinen Jasmunder Bodden, in der Nähe des Schanzenberges. Ganz still war es hier, am Rande des Buchenwaldes. Geradezu gespenstisch konnte es sein, wenn plötzlich ein Vogel schrie oder die Zweige knackten. Die Angelerfolge waren bescheiden, aber eindrucksvoll fand ich es, wenn die kleinen Fischlein in der Alu-Brotbüchse glitzerten.

Gerd und ich bauten uns eines Tages selbst eine bescheidene Angel, mit der wir nach meiner Erinnerung nie einen Fang machten. Am Waldrand hatten wir sie im trockenen Laub versteckt, fanden sie aber beim nächsten Mal nicht mehr wieder. Gestohlen! Davon waren wir überzeugt.

Was war in Prora nicht alles geschehen! Dinge von Bedeutung und auch Vieles ohne Belang, wüsste ich von den Geschwistern zu erzählen.

Mathias war krank und sorgte oft für Aufregung. Christina wurde geboren und Hannelore spendete Blut für die Mutter. Wolfgang hatte Erika aus Halberstadt geheiratet und zog mit ihr ein. Irene war schon etwas älter als Gerd und ich, da blieben gewisse Zankereien nicht aus. Schließlich brachte Hannelore den ersten Enkel Tilo zur Welt.

Genug nun davon. Ich merke schon, ein Außenstehender wird dem Geschehen nicht ohne weiteres folgen können. Nicht alles was mir im Gedächtnis geblieben ist, kann und will ich hier schildern. Ein Jeder von uns hat in Prora seine eigene Geschichte erlebt und kann sie auch nur selbst erzählen.

Es kam die Zeit, wo wir diesen Ort wieder verlassen sollten. Die Familie war gewachsen und die Probleme damit auch. Etwas Neues musste beginnen.

Träume können sehr seltsam sein und ein roter Faden oder ein wirklicher Sinn lässt sich manchmal gar nicht erkennen. Gleicht der Traum aber annähernd einer verstehbaren Geschichte, so sollte man ihn ruhig erzählen.
Vorausgesetzt, man weiß ihn am Morgen auch noch.

Der goldene Federkragen

Ein erlebnisreicher Tag lag hinter uns. Stolz zeigten wir Brüder am Abend unser Angelergebnis zu Hause vor.

"Ach, diese kleinen Fische. Viel zu wenig, als dass jemand davon satt werden könnte. Und überhaupt, außer Schuppen und Gräten ist da nichts dran." Ruckzuck schnitt die Mutter sie bei diesen Worten in kleine Stücke und gab sie den Hühnern als Futter. Die schlanke Italienerin, ein lebhaftes Hühnchen, vertrieb alle Konkurrentinnen und fraß sich satt. "Wenn sie nur auch so flink mit dem Eierlegen wäre!" So seufzte meine Mutter und ging wieder hinein.

Eines schönen Tages saß ich hinter dem Haus am Hang. Ich schaute dem Gezänk der Hühner zu , blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in die Abendsonne und träumte vor mich hin. Große Vogelschwärme zogen am Himmel vorbei und zeigten das nahe Ende des Herbstes an. Was war denn das? Ist das nicht unser legefaules Hühnchen, das da in der Dachluke des Nachbarschuppens verschwand? Bestimmt hatte ich mich getäuscht, was sollte es denn dort.

"Kommt ins Haus, es ist schon spät!" hörte ich die Mutter rufen. Die Nacht brach herein und wir schliefen fest in unseren Betten. Ganz leise hörte ich plötzlich, wie Jemand flüsterte und bat: "Hilf mir doch, hilf!" "Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen!"

Ein glitzerndes Sternchen hüpfte durch das Zimmer, wurde immer größer und öffnete schließlich das Fenster. "Komm nur, komm," säuselte es und ich folgte ihm wie in Trance. Kein Lüftchen wehte, aber die glitzernden Strahlen zogen mich magisch an. Über die Wiese ging es, zwischen den Kiefern mit den würzig duftenden Nadeln und Zapfen hindurch, geradewegs in die Dachluke des großen Schuppens der Nachbarn hinein.

Wo war ich denn hier? Ein großer Saal tat sich auf und alles erstrahlte in vielen bunten Farben um mich her. In der Mitte des Raumes stand ein seltsames Möbelstück. "Nein, kein Tisch, das ist ein Klavier", sagte die Stimme. Plötzlich sprang unser graubraunes Hühnchen hervor, tanzte über die Tasten und sang zu seinem Spiel. Dieses Kinderlied kennt Ihr vielleicht:

" Wind, Wind - Wind, Wind - fröhlicher Gesell.
Bläst um alle Ecken - willst uns immer necken,
Wind, Wind - Wind, Wind - fröhlicher Gesell. "

"Erinnerst du dich, dass deine Mutter mir die feinen Fischlein gab?" So fragte es mich. "Ich bin ja so froh. Endlich darf ich mich wieder in meiner wahren Gestalt zeigen, wenn auch nur in der Stunde um Mitternacht." Wie ein Wirbelwind begann es zu flattern und drehte sich schließlich im Kreis. Mit offenem Mund stand ich da und sah, wie sich unser Hühnchen zu einem großen, schlanken Vogel mit langen glänzenden Federn verwandelte. Dass diese prächtige, elegante Erscheinung mit menschlicher Stimme zu mir sprach, verwunderte mich nicht, schließlich weiß man doch, dass im Märchen alles möglich ist.

"Hör mir gut zu und verrate mich nicht!" So fuhr sie nun fort. "Die Menschen nennen mich Vogel des Glücks, weil sie glauben, wir Kraniche könnten alle Wünsche erfüllen. Du wirst es noch lernen, so leicht ist das nicht. Der Neid ist mein Feind. Ein böser Geist, der gern bei den Menschen lebt und viel Kummer machen kann. Seine Kumpane, die Unglücksraben haben sich mit ihm verbündet und manch böse Intrige hecken sie aus.

Ach, könnt ich mich wieder in die Lüfte erheben, in den Strahlen der Sonne tanzen und das Glück verteilen. Klugheit und Wachsamkeit sagt man uns Kranichen nach. Keiner aber ist so perfekt, als dass er nicht auch einmal einen Fehler machen könnte. Von falschen, schönen Worten ließ ich mich ablenken, als ich mich erschöpft vom Fluge ausruhte. Ich bemerkte nicht die böse List. Meinen goldenen Federkragen haben die Raben gestohlen. Er trocknete in der Sonne, nach dem ich ihn im Bodden wusch.

Du kannst es nicht wissen. Hinauf in die Lüfte kann ich nur fliegen, wenn mein Federkleid vollständig ist. Es ist so Gesetz, dass ich unscheinbar auf der Erde leben muss, so lange es mir nicht gelingt, meine Unachtsamkeit wieder gut zu machen.

Du wirst es verstehen. Was ich als kleines Hühnchen ausrichten kann, das ist nicht viel. Immer auf der Hut, nicht vom Fuchs gefangen zu werden, oder am Ende gar in der Suppe der Menschen zu landen. Würde sich aber ein freundliches, hilfsbereites Kind finden, das noch an Märchen glaubt, dann könnte es auch sein, dass das Glück bald wieder auf goldenen Schwingen durch die Lüfte zu den Menschen getragen werden kann."

Was soll ich Euch sagen? Ich gab mein Wort zu helfen. Dem Hühnchen, dem Kranich, dem Vogel des Glücks. Noch wusste ich nicht, worauf ich mich da einließ, aber mal ehrlich, hättet Ihr es fertig gebracht abzulehnen? Ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir noch sprachen. Eines war klar, in der nächsten Nacht würden wir uns wieder sehen.

Gähnend stand ich am Morgen auf und schlürfte meinen Milchkaffee zum Marmeladenbrot. Der Tag wollte gar kein Ende nehmen. Erstaunt und lobend bemerkten die Eltern am Abend, dass ich mich pünktlich und ohne zu murren schlafen legte.

Um Mitternacht erschien das vertraute Licht am Fenster. Schnell ging es hinaus um mit dem Hühnchen die Gunst der Stunde zu nutzen. Die Raben lebten weitab im Wald und hatten Ihre Nester in hohen Bäumen gebaut. Es war zu vermuten, dass ihre Beute, der goldene Federkragen dort zu finden war.

Nach dem wir ein Stück des Weges hinter uns gelassen hatten, wurde dem Hühnchen sehr bange. Ein Vogel der nicht richtig fliegen kann, den holt im Walde bald der Fuchs oder ein anderes wildes Tier. Wer könnte die Ängste nicht verstehen? "Kehr nur ruhig um," sagte ich mit Zittern in der Stimme. "Mir wird schon nichts geschehen" Angst hatte ich so allein natürlich auch. Was blieb mir Anderes übrig, blamieren wollte ich mich nicht.

Endlich! Hier waren die hohen Fichten, wo die Raben nisteten. Was? Da muss ich hinauf? Frisch gewagt, es muss ja sein! Ich versuchte mein Glück und siehe da, ein gutes Stück kam ich voran.

Dennoch, bis in die Wipfel schaffte ich es nicht. Meine Kräfte ließen nach und schon rutschte ich am Stamm wieder in die Tiefe. Wie nur sollte ich dem Hühnchen wieder unter die Augen treten? Hatte es doch alle Hoffnung in meine Hilfe gesetzt.

Auf dem Heimweg kam mir eine Idee. Ja, so musste es gehen! Beim nächsten Mal wird es gelingen, davon war ich überzeugt. Erschöpft schlüpfte ich ins Bett. Noch ein wenig Schlaf, bald ist es Tag.

Das Hühnchen hatte schon fast allen Mut verloren, als wir uns in der nächsten Nacht wieder trafen. "Was trägst du da bei dir?" fragte es mich, als wir uns auf den Weg machten. "Das ist meine Angel. Zum Fische fangen taugt sie nicht recht, aber vielleicht nützt sie uns heute etwas."

Wie beim letzten mal, ging ich den Rest des Weges allein. Am Himmel kreisten die Raben über ihren Nistplätzen und wirkten sehr bedrohlich. So, jetzt wird sich zeigen, ob ich Erfolg habe.

Zunächst stellte ich die Angel an den Baumstamm und dann versuchte ich ihn so hoch wie möglich zu erklimmen. Ich nahm alle Kräfte zusammen und griff nun nach der Angelrute. Mit dieser könnte ich vielleicht das Nest erreichen und ... Kaum hatte ich das gedacht, schon knackte es laut und der Ast unter mir zerbarst. Ich stürzte zu Boden, jammerte vor Schmerz und besonders vor Enttäuschung über den misslungenen Versuch. Ärgerlich und unbedacht nahm ich die Angel und warf sie wie zum Fischfang aus.

Was war denn das? Ein aufgeregtes Schnattern war zu vernehmen. Ach du meine Güte, hat sich doch eine Wildente in der Angelschnur verfangen. Das hatte mir gerade noch gefehlt!

"Ist ja gut, ich lass dich ja wieder frei," sagte ich und löste die Schnur. Da begann die Ente plötzlich zu schimpfen: "Das ist ja die Höhe, ich dachte du wärest ein Freund." "Im letzten Winter hast du meine Geschwister begraben, als sie am Strand erfroren waren und jetzt so etwas!" Erschrocken entschuldigte ich mich und erklärte meine Not.

"Das ist doch ganz leicht" meinte die kleine Ente selbstbewusst und bot ihre Hilfe an. "Wenn die Raben am Morgen auf Raubzug gehen und ihre Nester verlassen, dann fliege ich hinauf und lass den goldenen Federkragen nach unten auf den Waldboden fallen. Du musst dich aber beeilen. Könnte ja sein, dass ihn ein Fremder dort aufhebt, noch ehe du zur Stelle bist."

Die Worte der Ente in allen Ehren, aber so recht konnte ich das alles nicht glauben. Was konnte ich noch tun? Mit wenig Hoffnung ging ich Heim.

Die klagenden Rufe des Hühnchens weckten mich am nächsten Tag. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr hinaus gegangen. Langsam schlenderte ich durch den Wald und hoffte auf ein Wunder. Dachte ich es mir doch, keine Spur vom goldenen Federkragen. Wieder war der Tag vorbei und ich fühlte mich sehr schlecht. Ich hatte versagt, das muss ich gestehen.

Beim Abendessen erzählte der große Bruder, dass er etwas über diebische Elstern in der Zeitung gelesen hatte. Irgendwo hatte man ein Nest mit silbernen Löffeln und teurem Schmuck gefunden.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Nannte man die schwarz-weißen Vögel in der Nähe des Hauses nicht Elstern? Schon gegen Mittag, als ich aus dem Wald gekommen war, hatte ich das Gefühl, dass sie sich mit ihrem Geschrei über mich lustig machten.

Mit klopfendem Herzen schlich ich hinaus und kletterte in die kleine Birke. Was ich sah, machte mich überglücklich. Der goldene Federkragen, wie er schöner nicht hätte sein können, lag zwischen trockenen Halmen und glänzendem Bonbonpapier. Das beleidigte Gezeter der Elstern im Ohr, nahm ich ihn an mich und lief hurtig über die Wiese zum großen Schuppen hin. Schnell den goldenen Federkragen in die Dachluke gelegt, wo das Hühnchen, der Kranich, der Vogel des Glücks ihn bald finden würde.

Noch nie war ich so müde und froh zugleich eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, schien schon die Sonne ins Zimmer und es war heller Tag. "Na, hast du endlich ausgeschlafen?" fragte die Mutter. "Beeil dich, es gibt Eierkuchen!" Am Frühstückstisch erzählte sie: "Stellt euch das mal vor! Da hat doch das Huhn die Eier in Nachbars Schuppen gelegt und erst jetzt wurde es bemerkt. Ohne die vielen Eier, hätten wir heute fast nichts zu Essen. So ein Glück!"

Große Ereignisse gab es in der Vergangenheit Rügens sehr wohl. Wunder waren es eher selten.
Wollt Ihr aber wirklich etwas über die Menschen erfahren, dann hört Euch auch die kleinen, oft so anrührenden Begebenheiten aus dem Leben armer Leute an.

Bernstein, Glücksstein ...

Entlang der Alleen nach Bergen radelt es sich im Sommer sehr schön. Das goldene Laub ist längst von den Bäumen gefallen und auch der November ging schon zu Ende. Der Winter steht vor der Tür, aber noch gibt es viel Regen und Wind.

Damals vor fast 500 Jahren war es nicht anders, nur konnte man noch nicht von Straßen sprechen, so wie wir sie heute kennen. Ausgefahrene Feldwege waren auf Rügen typisch und nur hier und da waren sie etwas mit Feldsteinen befestigt. Wer mag schon vor die Tür bei diesem ungemütliche Wetter, wenn er es nicht wirklich muss? Gerade ältere Menschen müssen sich vor Erkältungen schützen, so war es schon immer.

Dem armen Bauer Hans ging es nicht gut. Schon länger plagte er sich mit einem schlimmen Husten und nun lag er fiebernd auf seinem Strohsack. Die alte Bauernkate mit ihrem vermoosten Rohrdach und den niedrigen Wänden aus Holz und Lehm war sein Heim. Hier lebte der Bauer so recht und schlecht. Mühsam war es, mit dem alten Ochsen das Feld zu bestellen und Bruchholz aus dem nahen Walde zu fahren.

Das blonde Mädchen mit den lustigen Sommersprossen über der Nase war seine Tochter. Fleißig sammelte sie die Früchte in Wald und Flur. Viele Körbe mit Pilzen und Beeren trug sie zum Trocknen nach Hause. Mit ihren gerade 14 Jahren war sie schon fast erwachsen und eine tüchtige Hausfrau.

Ihre Mutter, die Bäuerin mit Namen Marie, war schon früh gestorben. Die zarten Blüten der wilden Heckenrosen mit ihrem schönen Duft hatte sie immer sehr geliebt. Wen wunderte es da, dass das kleine Mädchen Rosemarie genannt wurde.

In guten Jahren war es schon möglich, ausreichend Vorräte für den Winter zu schaffen. Gab es eine gute Ernte, dann konnten auch Feldfrüchte auf dem Markt verkauft werden oder man tauschte sie gegen wichtige Dinge wie Werkzeuge, Stoff oder Salz. Wer aber glaubt, dass Reichtümer zu erwirtschaften gewesen wären, der hat sicher vergessen, dass hohen Abgaben an den Fürsten zu leisten waren.

Jetzt war der Bauer Hans schwer krank und Rosemarie in großer Sorge. Hatte sie doch sonst keinen Menschen mehr, der ihr nahe stand. Alles was sie über Hausmittel wusste, hatte sie versucht. Der gute Holundersaft und heißer Tee mit Honig hatten immer geholfen, aber diesmal schien das nicht zu genügen.

Der alte Kater Kasimir, von dem niemand das wirkliche Alter kannte, war ein guter Freund. Er hatte ein dickes, grau getigertes Fell mit einem weißen Fleck auf der Brust. Sehr verwegen sah er aus, weil ihm ein Stück seines rechten Ohres fehlte. Immer wenn Rosemarie etwas auf dem Herzen hatte, sprach sie mit ihm und holte sich Rat.

"Was kann ich nur tun? Das hohe Fieber und der schlimme Husten machen mir Angst." vertraute sie sich an. Kasimir sprach: "Du musst in die Stadt! Wenn jemand helfen kann, dann ist es die weise Kräuterfrau. Für einen guten Lohn hat sie bestimmt eine Medizin, die dem Vater helfen wird. Etwas wunderlich mag sie wohl sein, aber vielen Leuten hat sie geholfen."

Rosemarie überlegte, wie sie denn eine teure Medizin kaufen sollte. Geld hatte sie nicht und nach dem mageren Jahr, wo auch noch der Ochse an Altersschwäche gestorben war, gab es kaum etwas im Haus, das sie hätten entbehren können. Nun gut, der Vater hatte viel Holz gesammelt und es trocknete unter dem vorstehenden Dach am Haus. "Was bleibt mir anderes übrig?" dachte sie bei sich.

Am frühen Morgen belud sie den zweirädrigen Ochsenkarren mit dem Holz. Und nun los! Das Mädchen machte sich auf den Weg und zog den schweren Karren hinter sich her. Bis zum Markt nach Bergen war es ein weiter Weg, der vom Regen aufgeweicht war und alle Kräfte abverlangte. Bald drohten ihm alle Kräfte zu schwinden, aber immer wieder rappelte es sich auf und ging mutig voran. Wenn nur nicht immer wieder Regenschauer nieder gegangen wären. Das morsche Holz sog sich voll Wasser wie ein Schwamm und wurde dadurch noch schwerer.

Stunden waren vergangen, aber der Markt war erreicht. Rosemarie kam wieder zu Atem und schaute sich um. So viele Menschen und so ein Lärm! Händler priesen lautstark ihre Waren an und die vielen Gerüche und Eindrücke machten sie ganz wirr.

"Hoffentlich kauft jemand mein Holz", bangte sie. Mit etwas Geld könnte sie die Medizin für den kranken Vater kaufen und alles würde wieder gut werden.

Viel Interessantes gab es auf dem Markt zu sehen, gerade jetzt in der Zeit vor Weihnachten. Hölzernes Spielzeug, Puppen aus Stoff, Gürtel und Schnallen aus Leder, aber auch duftenden Honigkuchen und andere Leckereien gab es zu kaufen. Natürlich, für Leute mit Geld.

Der Metzger stand nur ein paar Schritte von Rosemarie und ihrem Holzkarren entfernt. Dicke Schinken und dampfende Würste bot er feil. Ein dürres Männlein kam aus der Menge und ging mit schlurfenden Schritten direkt auf den dicken Metzger zu. An einem Strick zog er einen ebenso dürren, hinkenden Gaul hinter sich her.

"So ein armes Tier", dachte Rosemarie. Alle Rippen konnte man zählen und vor lauter Schmutz war die Farbe des filzigen Fells kaum zu erkennen. Schnell waren sich die beiden Männer einig und das Pferd wurde am Waagen des Metzgers angebunden. Sein Schicksal schien besiegelt. Als Rosemarie ihm in die traurigen Augen schaute, wurde ihr sehr elend zu Mute und eine Träne rann ihr über die Wange.

"Was tu ich nur, wenn niemand mein Holz kaufen will?", ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Langsam wurde es Abend und die Händler zogen schon heim. Kein Käufer interessierte sich für das Holz und nur abfällige Blicke und Bemerkungen hatte man für das Mädchen mit dem Karren übrig. Allein stand sie da, mit ihrer Verzweiflung und dem nassen Holz.

"Was hab ich zu verlieren?" sagte sie sich. "Erst wenn ich aufgebe, dann ist alles verloren." Beherzt zog das Mädchen mit seinem Karren los. Durch die engen Gassen der Stadt, dorthin wo das Kräuterweib wohnen sollte.

So wie es der Kater beschrieben hatte, fand sie endlich das Haus. Kurz hielt sie inne, aber dann klopfte sie kräftig ans Tor. Langsam öffnete sich eine kleine Fensterluke. Eine krächzende Stimme sagte: "Kümm in mien Stuw, ick wir to Hus!" (Komm in meine Stube, ich bin zu Hause)

Rosemarie trat ängstlich ein und musste sich erst an das seltsame Licht gewöhnen. Sie schaute in das faltige Gesicht der alten Frau. Fast weiß war ihr dünnes Haar und gutmütige Augen blickten sie fragend an.

Als Rosemarie ihre Geschichte erzählt hatte und das Holz anbot, sagte die Frau: "Nu sed die man hen! Wad söll ick mit dad nadde Tüch, dad gifft keen god Füer nich." (Nun setz dich nur hin! Was soll ich mit dem nassen Zeug, das gibt kein gutes Feuer.) Die alte plattdeutsche Sprache verstehen heute nur noch wenige Menschen. Früher aber war sie ganz normal.

"An Reichtümern ist mir ja nicht gelegen, aber was trägst du da am Lederband um deinen Hals?" fragte sie neugierig. "Oh, nein!" rief das Mädchen da aus. "Das ist mein Ein und Alles, ein Andenken an meine verstorbene Mutter." An dem Bändchen zog sie einen Bernstein hervor. Mit etwas Phantasie konnte man die Form eines Herzens erkennen. Im Schein des Herdfeuers glänzte es wunderschön und man hätte meinen können, dass es aus goldenem Honig sei.

Als Rosemarie nach einigem Zögern an den kranken Vater dachte, sagte sie dennoch entschlossen: "So nimm den Bernstein für eine gute Medizin. Die Erinnerungen an die Mutter trage ich in meinem Herzen und auch ohne den Bernstein werde ich sie nie vergessen."

"So ist es recht! Du hast ein gutes Herz und Verstand hast du auch, da will ich dir schon helfen." So sprach die Kräuterfrau und nahm den Bernstein an sich. Schon begann sie an ihrem Herd zu köcheln und zu rühren. Dabei murmelte sie vor sich hin und kicherte listig:

"Bernstein, Glücksstein, Stein aus dem Meer,
in Not und aus Sorge gab sie dich her.
Dieses Kraut und jenes Kraut, etwas Weidenrinde,
Bienenwachs und Schweineschmeer, Blüten von der Linde.
Wird der Brei im Topfe fest, geh nach Haus zurück.
Ist der Topf bald wieder leer, kommt zu dir das Glück."

Rosemarie hatte das irdene Töpfchen mit der Medizin erhalten und noch viele weise Ratschläge dazu. Eilig und voller Hoffnung ging sie in die Nacht hinaus um dem Vater zu Hause bald helfen zu können. Der Holzkarren schien ihr jetzt gar nicht mehr so schwer, da kam sie schnell voran. Die Stadt hatte sie schon hinter sich gelassen und bog in den Weg ein, der zum Haus am Walde führte.

Plötzlich stand in der Dunkelheit jemand im Weg. Fast wäre das Mädchen gestürzt. "Ich bin es," sagte eine ängstliche Stimme und Rosemarie erkannte das arme Pferd vom Markt. "Dem Metzger bin ich davon gelaufen und weiß nicht mehr wohin", klagte es sein Leid. "kaum kann ich noch ein paar Schritte tun, das Bein schmerzt mir so sehr." "Steig nur auf den Karren," sagte da das Mädchen, als wäre ihre Last nicht schon groß genug ."Jetzt geht es etwas bergab, da schaffe ich es schon" So zog sie nun durch die dunkle Nacht und irgendwann war sie zu Haus.

Kater Kasimir stand auf dem Dach und schaute ungeduldig mit leuchtenden Augen nach ihr aus. Wie ihr die weise Kräuterfrau aufgetragen hatte, rieb sie dem Vater Brust und Rücken mit der Medizin kräftig ein. Legte ihm nasse Wickel um die Waden und deckte ihn mit allem was sie hatte warm zu. Neugierig schaute der Kater ihr zu und wärmte dem Bauern mit seinem weichen Fell die Füße. Das Pferd hatte sich glücklich in den Verschlag auf trockenes Stroh gelegt, wo früher der Ochse sein Lager hatte. Endlich konnte sich auch das Mädchen zur Ruhe legen und es schlief bis zum hellen Tag.

Ein großer Stein viel Rosemarie vom Herzen, als das Fieber gesunken war und es dem Vater besser ging. Tag für Tag versorgte sie ihn, bis er allmählich wieder zu Kräften kam und aufstehen konnte. Auch das arme Pferd hatte Rosemarie nicht vergessen. Gutes Heu und ein wenig Hafer gab sie ihm zu fressen. Flink lief sie zum Brunnen um frisches Wasser zu holen, so oft es auch von Nöten war. Wenn noch Zeit blieb, bürstete sie ihm das Fell und kämmte Mähne und Schweif. Erst jetzt konnte man die schöne kastanienbraune Farbe des Fells erkennen. Auch der Vater staunte, was der alte Gaul doch in Wahrheit für ein hübsches Pferd war.

Die Tage im Dezember vergingen wie im Fluge. Der Wind drehte und das Wetter hatte sich verändert. Die Luft wurde kalt und der Himmel klar. Das leuchtende Abendrot zeigte, dass es in der Nacht Frost geben würde. Ein Glück, dass das Holz noch da war und allmählich wieder trocknete.

Bauer Hans war wieder auf den Beinen und hängte in der Stube frische, schmückende Tannenzweige auf, so war es der Brauch. Er sagte: "Lasst uns hinaus gehen und in den Sternenhimmel sehen. Habt ihr denn vergessen, dass heute der heilige Abend ist? In der Kirche und in herrschaftlichen Häusern schmückt man schon den Christbaum mit Äpfeln und stellt eine Krippe mit Figuren der heiligen Familie auf."

Vater und Tochter setzten sich auf die Bank vor dem Haus und das Pferd und der Kater waren auch dabei. Ganz verzaubert schien alles umher. Die Sterne blinkten hell wie nie zuvor. Erste Schneeflocken tanzten durch die Luft und schmolzen auf der Haut.

Als alle wieder ins warme Haus gingen viel auf, dass das Pferd noch immer hinkte. "Zeig doch mal her!" sagte der Bauer und sah sich die Sache genauer an. Mit einem kräftigen Ruck zog er einen langen Holzsplitter aus dem Huf. "Das wird wieder gut, da kenn ich mich aus," versicherte er ihm und strich über das glänzende Fell.

Am offenen Herdfeuer saßen alle in der Runde und waren froh, dass sie glücklich beisammen waren. Bei süßem Hagebuttentee erzählten sie sich Geschichten aus ihrem Leben, knackten auch Haselnüsse und Bucheckern dabei. Harzige Fichtenzweige glimmten im Feuer, so dass ein feiner Duft den Raum durchzog.

Es war zu erfahren, dass der Kater Kasimir früher auf einem Piratenschiff die Meere befahren hatte und große Heldentaten sein Alltag gewesen sein sollten. Darüber konnte das Pferd nur schmunzeln. Jahrelang hatte es die Waagen mit schweren Heringsfässern oder Kohl und Rüben über die schlechten Straßen zwischen Bergen und Stralsund ziehen müssen. Kaum ein ordentliches Futter, nur immer die Peitsche des Kutschers im Nacken. Krank und erschöpft hätte es fast beim Metzger sein Ende gefunden.

Rosemarie holte das irdene Töpfchen hervor. Den Rest der Medizin strich sie sanft auf das kranke Pferdebein. Was war das? "Das ist ja ein richtiges Weihnachtsgeschenk!" rief sie strahlend aus. Rosemarie konnte es kaum glauben. Am Topfboden fand sie ihren Bernstein wieder, den sie doch der weisen Kräuterfrau gegeben hatte.

Der sonst so wortkarge Bauer Hans erzählte jetzt, wie er in seiner Jugend als Pferdeknecht beim Fürsten gedient hatte. Eines Tages hatte er am Ostseestrand die schöne Marie getroffen. Den glänzenden Bernstein hatte auch sie schon damals von ihrer Mutter geerbt.

Während er nachdenklich ein neues Lederband für den Bernstein schnitt, putzte Rosemarie das Schmuckstück im Fell des Katers blitzeblank und sprach:

"Bernstein, Glücksstein, Stein aus dem Meer,
mag kommen was will, nie mehr geb ich dich her."

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