Kurzgeschichte - Erzählung - short story
Kurzgeschichte - Alltag - Alltagsgeschichte

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Oh, du fröhliche ...
Ausgrabung aus einem Tagebuch aus dem Jahre 1978

© Heiko Pabst

Teil 1: Der Schuss im Kaufhaus

Vorweihnachtszeit.

Mit ihr unterwegs in Kaufhäusern. Einen Mantel will sie sich kaufen, schön warm und nicht zu teuer. In den letzten Tagen hat sie oft gefroren. Außerdem noch eine Jeans; und wenn dann noch etwas Geld übrig bleibt eine schöne Bluse.

Es ist kalt. Draußen und drinnen.

Er hat sie heute wieder geschlagen. Wieder in der Öffentlichkeit. Und wieder ist keiner der Anwesenden eingeschritten. Wenn ich daran denke, dass all diese Leute völlig normal sind, dass ich in derselben Situation wohl genauso handeln würde, dann wird es mit kotzübel.

Er wird immer brutaler.

Dadurch wird unsere Beziehung -- von der er um Gottes willen nichts erfahren darf -- noch problematischer, als sie ohnehin schon ist.

Meine Ohnmacht gegenüber dieser irrationalen Brutalität macht mich krank.

Die vorweihnachtliche Einkaufswelt gleitet an mir vorbei. Nur gelegentlich bemerke ich, dass wir schon im vierten, fünften, sechsten Kaufhaus sind und immer noch nichts gefunden haben. Einen Mantel und eine Hose für dreihundert Mark? Ich habe das Gefühl, dass man uns belächelt.

Wenn sie sagt, dass jemand wie wir wohl nicht das Recht hat, es im Winter warm zu haben -- ich weiß nicht, ich möchte einfach losheulen. Mitten in dieser lautlosen weihnachstbepackten Menge.

Sie möchte nicht, dass wir Arm in Arm gehen.

Weil sie Angst hat, er könnte uns zufällig irgendwo begegnen.

Ich halte das für Quatsch, sage ihr das auch. Sage ihr aber auch, dass ich sie verstehen kann.

Auf der Rolltreppe erwarte ich ständig den Schuss. Das sage ich ihr natürlich nicht. Ich weiß nicht einmal, wem er gilt. Mir oder ihr.

Die buntgestrickten Fingerhandschuhe kosten nur viermarkfünfzig. LOVE steht drauf. Sie gefallen mir sehr gut.

Als ich vorgestern mit dem Fahrrad durch Gustavsburg fuhr, um an den Häusern die Klingelknöpfe zu zählen, sind mir die Hände fast abgefroren. Wer weiß, was derjenige, der mich für diese Arbeit bezahlt, mit diesen Informationen anfängt?

Wo bleibt denn der Schuss?

Der schwarze Pelzmantel -- natürlich nicht echt -- wäre zwar bezahlbar, aber mir gefällt er nicht. Irgendwie drücken sich darin zu viele andere Dinge mit aus. Sie lässt es sein.

Ob sie kein Recht darauf hat, es im Winter angenehm warm zu haben?

Und ihre Kopfschmerzen. Ob das schlimm sei?

Diese entsetzliche Ohnmacht gegenüber der Brutalität.

Wo bleibt denn der Schuss?


Teil 2: Gedanken auf der Autobahn

Heiligabend zu Hause. Trotzdem bin ich bei Dir, freue mich darauf, Dich wiederzusehen.

Erster Weihnachtsfeiertag. Selbst das Feiern mit Deiner Verwandtschaft wird zum Fest. Ich sehe nur Dich, bin froh, bei Dir zu sein. Der Abend wird zum schönsten Weihnachtsgeschenk. Alleine mit Dir. Lachen, Reden, Zärtlichkeit.

Und dann der Urlaub.

Berge, Bäume, Schnee, Einsamkeit.

Oben angekommen schauen wir zurück. Im Schnee vier Fußspuren. So weit der Blick reicht.

Ich sehe Dich an. Locken, die sich unter Deiner Mütze hervorgestohlen haben. Sommersprossen. Ein Lächeln. Weiß dampft der Atem. Deine Nase ist etwas rot geworden. Du legst Deinen Arm um mich. Küsse.

In unserem Zimmer ist es angenehm warm. Ich schlafe gerne mit Dir.

Du möchtest noch einmal kurz hinausgehen. An der Tür lächelst Du mir zu.

Mit einem lauten Knarren fällt die schwere Eichentür ins Schloss. Das Licht der drei Kerzen vermag nicht den ganzen Raum zu durchdringen.

Es ist kühl.

Stille.

Pling ... pling ... pling. Ununterbrochen fällt ein Tropfen von der Decke des riesigen Gewölbes. Ich will aufstehen. Es geht nicht. Ein leises Knacken des massiven Stuhls, mehr nicht.

Ein Tautropfen hängt an dem hauchdünnen Silberfaden, den die große Spinne aus ihrem schwarzen Leib entlässt. Sie arbeitet regelmäßig, nicht sehr schnell. Es ist eigenartig schön, ihr zuzusehen.

Ein feines, immer dichter werdendes Netz. Mein Knie gehört schon dazu. Meine Schultern, Hände. Der Stuhl. Mein Gesicht. Mit dem ganzen Raum bin ich verbunden.

Risse in der Wand. Langsam und dunkel rinnt es heraus. Dunkelrot.

Ich will aufwachen, will, dass alles nur ein Traum ist.

Ein schöner böser Traum.


Teil 3: Heiligabend

Nachmittag

Jeder Schritt verursacht ein gedämpftes Geräusch. Abdrücke von Gummistiefeln im Schnee. Der Weg führt hinaus aus dem Dorf. Feldweg in Richtung Zuckerfabrik. Dann nach rechts. Quer über die zugeschneiten Äcker.

Meine Spuren im Schnee. Spuren von Hasen und Vögeln. Wahrscheinlich Wildenten.

Gestern war Treibjagd. Ich sah sie vom Auto aus, als ich nach Hause fuhr. Auf einem Acker etwa zwanzig Jäger im Kreis. Gewehre im Anschlag. Hunde. Ein paar Kinder. In der Mitte ein Hase. Ich will nicht hinsehen. Ob er tot ist?

Ich denke an Haike, denke an den Tod unserer Beziehung.

Plötzlich, neben mir, schreckt ein Hase auf, rennt im Zick-Zack davon. Alle Hasen haben sie doch nicht erwischt. Auch an dem kleinen Bach laufen einige herum.

Ich gehe auf die drei Bäume zu, die so dicht aneinander gedrängt und doch so einsam am Bach stehen. Ich denke an Haike. Warum ist in unsere Beziehung so plötzlich der Winter eingebrochen? Einsam stehen sie da, ohne ihre Blätter. Aber sie sind wenigstens nicht alleine.

Ich gehe weiter. Am Bach entlang. Ich denke an Haike.

Der Bach ist stellenweise zugefroren. Auf der verschneiten Eisdecke Fußspuren von Vögeln.

Es ist angenehm, im Schnee spazierenzugehen. Ich wäre froh, wenn Haike da wäre. Quer über die Felder. Vorbei an dem großen Nussbaum. Immer noch denke ich an sie.

Denke an das Bild, das ihr so gut gefällt.

Langsam komme ich wieder zum Dorf zurück. Die Spuren von Tieren werden seltener. Abdrücke von Schuhen begegnen sich im Schnee.


Abend

Die Geschenke sind schon längst ausgepackt. Ich bin bei Uschi. Während wir Sogo spielen, klagt Uschis Vater wieder über Schmerzen. Hämorrhoiden. Eine Krankheit, über die man Witze macht.

Später fahre ich mit Uschi zu uns. Eine eisige Stimmung schlägt uns entgegen. Während ich weg war, hat meine Mutter eine Auseinandersetzung mit meiner Schwester gehabt. Schweigen. So weit ich zurück denken kann, läuft bei uns zu Hause Weihnachten auf diese Weise ab. Streit. Tränen. Schweigen.

Uschi will noch einmal sehen, wie es ihrem Vater geht.

Die Schmerzen sind unerträglich geworden. Ich sitze in der Küche, beschäftige mich mit dem Puzzle, das Hans-Berthold angefangen hat, denke an Haike und höre Uschis Vater vor Schmerzen brüllen.

Wir fahren zum Notarzt. Er kommt mit, sieht sich den Patienten an. Ich höre ihn schreien und möchte weinen.

Wir fahren zur Notapotheke. Es gelingt mir nicht, etwas zu Uschi zu sagen. Ich denke an Haike. Es tut mir alles so weh.

Um halb drei gehe ich in mein Bett. Ich denke an Haike. Ich bin zu müde, um noch weinen zu können.



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