Unser Buchtipp
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Verlags. Kalle ist nicht mehr© Karin ReddemannDer ewig grinsende Kalle ist tot. Er wurde von hinten gepfählt und dann mit einem Stein erschlagen, der ihm mehrmals mit voller Wucht und vollem Zorn auf die Stirn, die Nase, den Kehlkopf gedonnert wurde. Kalle ist ein liebenswerter, dummer Kerl gewesen. Er wohnte in der Nachbarschaft. Otto-Burrmeister-Straße, ganz in der Nähe unseres Zechenhäuschens mit Hinterhof für die Hunde und uns Kinder. Typisch Pott. Heimlich waren wir Freunde. Ist alles lange her. Ein etwas zu dick geratener, ständig gut gelaunter Bursche, der an den Mann auf dem Mond glaubte, mit Fliegen sprach und mit dem ich nicht spielen sollte. Durfte. Meine Mama hatte Angst: "Tina, du bist bitte immer vorsichtig. Hörst du? Karl-Peter ist etwas krank im Kopf. Ich habe nichts gegen den Jungen, aber ich mache mir Sorgen. Um dich." Ich nahm das hin. Irgendwas Fremdes im Gehirn? Damit konnte ich leben. Die verbotenen Treffen waren umso spannender. Der immer fröhliche Kalle befreite mich für großartige Momente aus meiner eigenen Düsternis. Ich war nicht unbedingt Liebling der Sonne. Viel zu schwermütig, grüblerisch, wohl auch anstrengend für ein kleines Mädchen. Kalle ließ sich von mir mit einem Strick an die alte Kastanie binden. Und lachte. Auch, als ich ihn dort gut verschnürt stehen ließ, bis seine Mutter ihn befreite. Mit Kalle konnte ich alles machen: "Stopf' dir den Regenwurm in den Mund, dreh' dich zwanzig Mal im Kreis, gib' mir deine Schokolade." Er war treu wie ein gut erzogener Hund. Kalle trug meinen Tornister, und er wurde zum Stier, wenn jemand mir auf dem Pausenhof meine Mütze klaute. Dann trennten sich unsere Wege. Ich ging auf das einzige noch existierende Mädchengymnasium in unserer Stadt, hatte andere Pläne, Ziele, Freunde, und Kalle besuchte erst die Hauptschule, war zwischenzeitlich mehrmals zu Gast in der Psychiatrie, ganz in der Nähe unserer Heimatstadt, und ich verlor ihn aus den Augen. Vermutlich bewusst. So richtig was zu tun haben wollte ich nicht mehr mit ihm. Natürlich mochte ich ihn immer noch. Irgendwie. Er war mein Kalle. Aber vor meinen neuen Bekanntschaften schämte ich mich für ihn. Einmal begegnete er mir und Alexa, Eddy, Patty, Danny, meinem frischen Mädchenclub aus dem Schicki-Micki-Milieu, der mir merkwürdigerweise damals so ungeheuer wichtig gewesen ist, winkte, lachte ... und ich spielte die Unwissende: "Keine Ahnung, wer das ist." Die schöne Patty betrachtete ihre auf Hochglanz lackierten Fingernägel und zog ihre berühmte Schnute: "Was für ein blöder Penner." Und ich nickte stumm und fühlte mich wie Judas. Kurz bevor Kalle getötet wurde in dieser Rosenmontagsnacht, klingelte er bei mir. Wir alle waren älter geworden. Anfang Zwanzig. Wir hatten unser eigenes Leben. Eigene Hoffnungen. Gewünschte Perspektiven. Was Kalle betrifft, weiß ich das nicht so genau. Ich hätte ihn fragen sollen. Erst wollte ich nicht öffnen, ich war abgeschminkt und hatte mich in meinen alten gelben Jogginganzug geschmissen, trank trockenen Wein, sah mir einen langweiligen, aber mit Preisen überschütteten französischen Film an und war nicht aus auf ungewünschte Kommunikation mit Menschen, die mich in solch persönlichen Situationen unbedingt belästigen müssen. Gut, ich ging an die Tür. Es war, ja, eben Kalle. Er strahlte. Ich bat ihn herein, vielleicht war ich eine Spur zu unhöflich, zu genervt. Er tätschelte meinen verstrubbelten Kopf, ich schubste ihn weg. Bot ihm Chips an. Wein wollte er nicht. Ein Bier. Dann: "Ich habe jetzt einen neuen Freund. Kennst du. Pit Hoffmann. Der hat keinen rechten Hoden." Zugegeben, ich war irritiert. Kalle, dieses Unschuldslamm, kicherte verlegen. Nahm einen kräftigen Schluck, sagte: "Der hatte da unten was. Ein Sermon. Böse Sache, so für Männer. Musste so was mit Strahlen machen. Hat nichts genützt. Und dann ... wusch, ab." Natürlich sprach er von einem Seminom. Er trank die Flasche in einem Zug aus. Heulte plötzlich. "Der arme Pit. Jetzt sind die Mädchen alle weg. Kommen nie wieder." Ich beruhigte ihn. "Kalle, mit einem Hoden geht es durchaus, keine Bange." "Ein Hoden-Pit, ein kleiner kackiger Hoden-Pit." Und wieder lachte er wie ein sommersprossiger Sechsjähriger, freute sich, drückte mich. Ich drückte ihn auch. War zugleich erleichtert, dass niemand mir dabei zusah. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. In der Rosenmontagsnacht waren Kalle und Pit, der auch in unserem Viertel wohnte, zusammen auf Tour. Ich kann das nur in Rückblende erzählen, ich war während meines noch jungen Studiums Gerichtsberichterstatterin für unser Lokalblatt und verfolgte den Prozess für die Öffentlichkeit. Insgeheim auch für mich. Die beiden müssen kräftig getankt und erfolglos Frauen angebaggert haben. Irgendwann befanden sie sich mit zwei halb geleerten Wodkaflaschen auf dem Sportplatz der Kleist-Realschule ganz in der Nähe des Friedhofs, auf dem ich mit Kalle früher Blumen für unsere Mütter klaute. Dafür wird mein Kopf heute noch heiß und rot. Pit sagte aus, er und sein Kumpel Kalle hätten viel getrunken und mehre Kneipen aufgesucht. Dann hätten sie Luft schnappen müssen, wären müde gewesen, wollten nach Hause, verirrten sich irgendwie und landeten auf dem Schulhofgelände. Ist nicht weit. Beide wären in zwei, drei Minuten in ihren Betten gewesen, wenn auch ungewaschen, mit ungeputzten Zähnen. Besser so. Aber es kam anders. "Er machte sich über meinen fehlenden Hoden lustig. Hörte nicht auf. Du bist ein Krüppel, kannst nicht mehr. Haha. Ich bin besser. Besser als Pit. Da nahm ich den Stock. Der war so besoffen, hat gar nicht mitbekommen, wie ich ihm die Hose herunter gezogen habe. Und dann rein damit. Der Stein kam später." Kurze Pause. "Im Nachhinein tut es mir leid. Ich mochte Kalle." Pit Hoffmann wirkte tatsächlich verdammt betroffen. Ich hätte ihm gern die Kehle durchgetrennt, ganz langsam, mit viel Gefühl. Aber ich schrieb eifrig mit und dachte dabei an einen dicken, vor Glück glucksenden Jungen, der mit einem Schmetterling plaudert und ihm einen Namen gibt. Kalle, mein Freund aus längst vergangener Zeit, ist tot. Er wusste nicht, was er sagte. Für ihn war das wohl alles nur ein Witz. Er ist respektlos und umsonst gestorben. Hätte ich ihm meine Hand nicht entzogen, wer weiß.
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