Unser Buchtipp Mauerstücke Erinnerungsgeschichten Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 978-3-939937-08-1 beim Verlag bestellen bei amazon bestellen Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Verlags. Lebensgraffiti© Patricia KoelleIch träumte von einer Wiese, über die ein fünfjähriges Kind wie ich rennen konnte, so weit der Atem reichte, und die am Horizont einen Himmel trug anstatt einer Zahnreihe aus Hochhäusern. Eine solche Wiese aus Weite, weichem Hellgrün und Blumenduft war für mich der Inbegriff von Leben, Glück und Freiheit. Dort wollte ich ein Picknick machen wie die Familien in meinen Büchern. Sie fuhren dazu einfach aus der Stadt hinaus. Meine eigene Familie aber behauptete, das sei unmöglich. "Berlin ist eine Insel", verkündeten sie. Hocherfreut verlangte ich, zum Strand zu dürfen. Sie fuhren mit mir an den Schlachtensee und in Parks, aber das war es nicht, was ich wollte. Alles Grün stieß an verbaute Straßen. Vom Meer war nichts zu sehen. Schließlich begriff ich anhand einer Karte und einem Spaziergang an der Mauer, dass unsere Stadt aus unerklärlichen Gründen von dieser Mauer eingeschlossen war, die es unmöglich machte, einfach eine richtige Wiese zu besuchen. Meine Schwester brachte mir dafür bei, von der Brücke so hinunterzuspucken, dass ich die S-Bahn-Waggons traf, die unten durchfuhren. Ich verstand zwar nicht, wozu, sah aber voller Neid dem Zug nach und überlegte, ob meine Spucke nun Wiesen zu Gesicht bekäme. In der S-Bahn zu fahren war verpönt, weil diese "dem Osten" gehörte. Später fuhr sie gar nicht mehr. Die Bahnhöfe verfielen. Sie starrten mich aus blinden, zerbrochenen Fenstern an, während sich auf den toten Gleisen verlockende kleine Dschungel verdichteten. Beim Brötchenholen hastete ich daran vorbei, weil ich mir einbildete, dass dort unsichtbare Vopos spukten. Für mich war das Grenzdrama besonders schwer zu begreifen, weil wir in den ersten Jahren nur über die DDR fliegen durften, wenn wir Berlin verlassen wollten. Ein Transit kam nicht in Frage, da mein Vater einige Jahre in den USA für die NASA gearbeitet und Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte. Die Gefahr oder vielleicht auch nur die Befürchtung, dass man ihn oder uns zwecks Befragung festgehalten hätte, war zu groß. Für mich blieb die "Zone" also unsichtbar. Später flog nur noch mein Vater. Meine Mutter wagte sich mutig mit dem Auto auf die Transitstrecke, und von nun an begannen und endeten alle unsere Ferienreisen mit endlosem Schlangestehen an der kahlen, überhitzten Grenze. Die DDR stahl gnadenlos von unserer Urlaubszeit, Ferienstimmung und Geduld. Dann der Befehlston der Vopos, deren Worte mir wie Schüsse um die Ohren flogen: "Führnse Waffen oder Funkgeräte mit sich?" Obwohl wir die Frage wahrheitsgemäß mit einem höflichen Nein beantworteten, schafften sie es irgendwie stets, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Einmal waren sie nicht davon zu überzeugen, dass wir keine Bibel dabei hatten. Wahrscheinlich brauchten sie dringend eine. Ich hasste es, wenn sich der Soldat mit der stets zu großen Uniform ins Fenster beugte und mich anstierte. "Nimm die Brille ab!" Ich fragte mich jedes Mal, was passieren würde, wenn ich ihn bitten würde, ebenfalls die Brille abzunehmen, damit der erzwungene Blickaustausch fair wäre. Auch in meine Kinderbücher spähten sie, als wäre Pinguin Pondus höchst gefährlich für den Sozialismus. Das Auto nahmen sie auf der Suche nach klein zusammengefalteten Flüchtlingen fast auseinander und bekamen die Rückbank nicht mehr zusammen. "Dann muss das Kind vorne sitzen", meinten sie gelangweilt. Aber da hatte meine Mutter genug. "Das ist mein Auto", herrschte sie den verdutzten Vopo an, "und in meinem Auto sitzt mein Kind da, wo Kinder in meinem Land sitzen!" Sprach's und rauschte davon. Er konnte gerade noch den Fuß wegziehen. Aus dem Fenster bekam ich auf der Durchreise sogar Wiesen zu sehen, aber aussteigen sollte man nicht. Sie dufteten auch nicht nach frischem Gras, sondern nach Chemie. Die erträumten Wiesen zum Herumstreunen gab es auf der anderen Seite, wenn wir die Grenzkontrolle endlich zum zweiten Mal hinter uns hatten und aufatmeten, weil es wieder anders roch, nach Freiheit: im Bayerischen Wald, im Harz, in der Lüneburger Heide. Doch diese Wiesen gab es eben nur in den großen Ferien. In der Heide fand ich meinen Berufswunsch. Ich wollte Schäferin werden! Dann würde ich den ganzen Tag auf einer Wiese verbringen. Die Soldaten auf den Wachtürmen hatten es eigentlich gut. Sie durften den ganzen Tag mit dem Fernglas in die Gegend sehen, und manche blickten über Wiesen. Es kam mir aber nie in den Sinn, Grenzsoldat zu werden. Ich mochte ihre Mützen nicht, in deren Schatten sie alle gleich aussahen. Wir hatten keine Verwandten in der DDR und besuchten die "Zone" daher nie. Meine Eltern sahen keinen Grund, sich den Demütigungen durch die Grenzer unnötig auszusetzen. Alles, was ich vom "Osten" kannte, war das Sandmännchen. Dadurch, dass wir ein Ost- und ein West-Sandmännchen hatten, war mein Schlaf doppelt abgesichert. Und dann war da noch das Erbstück. Einer meiner Vorfahren war Förster in Thüringen gewesen. Er entnahm geschossenen Fasanen die im Magen rund geschliffenen Steine, die diese Vögel zur Verdauung nutzten, und ließ sie in eine silberne Brosche fassen. Nun strich ich ehrfurchtsvoll mit dem Finger über das Glänzen und beneidete meinen unbekannten Urgroßvater, der in dem geheimnisvollen Land hinter der Mauer, das die Wiesen geklaut hatte, durch die Landschaft streifen durfte. Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
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