Unser Buchtipp Mauerstücke Erinnerungsgeschichten Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 978-3-939937-08-1 beim Verlag bestellen bei amazon bestellen Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Verlags. Jazz in Berlin© Anne BergmannWenn die Stille selbst schon einen gewissen Lautstärkepegel besitzt, verlieren alle Geräusche an Stärke. Das Bellen eines Hundes klingt nicht mehr so gefährlich, Stimmen verlieren sich in der Luft, und es kann passieren, ein Flüstern versickert unbemerkt. Hier in der Stadt ist es so, da ist die Stille nicht geräuschlos. Ich weiß das, denn ich kenne den Unterschied. Ich weiß, was völlige Stille ist. Die geborenen Städter mögen das nicht einmal bemerken, wie sie die Helligkeit der Nacht nicht bemerken. Man sieht hier in der Stadt lange nicht so viele Sterne wie in Drahnsdorf. Nicht einmal die Milchstraße schält sich aus dem orange-gelben Glimmen des Nachthimmels heraus. Ich habe sie von Anfang an vermisst, gleich nach meiner ersten Nacht in Berlin, und ich habe die Stille vermisst. Vor allem aber auch die Geräusche, denn in der Stadt sind Geräusche nichts Besonderes mehr, sie gehen unter in ihrer Masse wie die Menschen. Manchmal nimmt man jedoch ein besonderes Geräusch wahr - wie den Fetzen einer Saxophonmelodie. Manchmal begegnet man einem besonderen Menschen, doch dann überhört man ein Flüstern. Ich hatte eine kleine Wohnung in Pankow bezogen, in der Nähe einer Kirche, deren Glocke ich zu jeder Stunde schlagen hörte. Bald brauchte ich dadurch nicht mehr auf die Uhr zu blicken - ich musste nur genau hinhören. Ja, wenn ich genau hinhörte, konnte ich mir, trotz der lauten Stille, besondere Geräusche ausschneiden wie Scherenschnittpapierfiguren. Ich arbeitete in einem Modewarenhaus als Verkäuferin und Beraterin. Diese Anstellung habe ich durch Beziehungen erhalten. Ein Freund meines Onkels kannte jemanden dort. Endlich war ich weg von zuhause, endlich konnte ich tun und lassen, was ich wollte, solange ich nur immer pünktlich zur Arbeit erschien. Doch was sollte ich mit so viel Freiheit anfangen? Was macht ein musikliebender Dieb, der in einen Plattenladen eingebrochen ist? Wahllos über die Platten herfallen oder gelähmt vor den Verheißungen in bunten Hüllen sitzen, nicht fähig zu einer Entscheidung? Bis sein Kumpel ruft: "Jetzt hilf mir doch mal mit der Kasse!" Für mich hätte wohl eher Letzteres gegolten. Die Freiheit wirkte plötzlich nicht mehr so verführerisch, jetzt, da ich sie erreicht hatte. Aus der Ferne betrachtet hatte sie interessanter ausgesehen. Außerdem kannte ich mich überhaupt nicht aus. Es gab so viele Möglichkeiten, aber ich kannte sie nicht. Wo waren die Jazz-Clubs? Wo spielten die guten Musiker, in welchen Winkeln - abgeschirmt vor den missbilligenden Blicken des Vaterlandes? Aber auch abgeschirmt vor meinem interessierten Blick, das war das Problem. Und ich vermisste die Sterne und die Stille ... konnte man das schon Heimweh nennen? Eines Abends saß ich in meiner kleinen Wohnung und starrte an die Wand. Da war nicht so viel zwischen meinem Blick und ihr, ich hatte noch nicht viele Möbel. Überhaupt wirkte meine Wohnung gar nicht wohnlich, sondern noch unberührt von meinem Leben. Aber was erwartete ich denn ... zu diesem Zeitpunkt war auch mein Leben noch unberührt von meinem Leben. Vor zwei Wochen war ich in Berlin angekommen, ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden, die Beatles und die Stones waren noch nicht dabei, die Jugend der DDR zu vergiften, und Berlin war eine ungeteilte Stadt. Noch. Von all diesen "Nochs", die auf der Zeit lagen wie Adlerschatten auf einem Feld, wusste ich nichts. Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
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