Ich ließ mich in der Masse dahintreiben, die mich zwischen den Ständen der Händler auf dem Flohmarkt mit sich nahm. Es war nichts Bestimmtes, nach dem ich Ausschau hielt. Die Chance auf ein kleines Glück überließ ich dem Zufall.
Und dann, zwischen dem Stangenwald von Beinen hindurch, sah ich ihn. Er lehnte an einem alten Stuhl. Geschützt vor den Tritten der vorbeischiebenden Masse Kauf- und Schaulustiger durch einen Puppenwagen ohne Räder war er gefangen in einem gestuckten Rahmen, dessen einstige Vergoldung einer schwarz-fleckigen, bröckelnden Umzäunung glich. Für einen König der Bergwälder eine wahrhaft unwürdige Behausung.
Ich bückte mich nach dem gebrechlichen Bild, um es näher zu betrachten.
Einer der Flohmarktbesucher blieb neben mir stehen. "So ein Kitsch. Schrecklich!" Er schüttelte sich und ging weiter.
Vorsichtig hob ich das Bild auf und setzte mich auf den altersschwachen Stuhl, um den billigen Druck aus Großmutters guter Stube näher zu betrachten. Ungerührt röhrte der Hirsch auf meinem Schoß in den kühlen Morgen.
"Der bläst seinen Atem wie eine Abgaswolke aus einem schlecht eingestellten Dieselmotor in die saubere Bergluft", meinte ein kleiner Dicker seine Meinung kundtun zu müssen. "Umweltverschmutzer", legte er nach, bevor er weiter zum nächsten Stand schob.
Langsam sammelten sich ein paar Neugierige um mich, lachend, diskutierend, und der mächtige Zwölfender streckte den Körper, warf das Geweih in den Nacken und röhrte aus weit aufgerissenem Maul. Ein Student, ein Klugscheißer, wie ich im Stillen urteilte, dozierte mit anzüglichen Blicken auf seine Freundin.
"Siehst du, der Hirsch stellt ein Phallussymbol dar, sein Atem das Ejakulat." Dabei kniff er das Mädchen in den Po.
"Du bist ein Ferkel", kicherte sie. "Ein protziges Mannsbild ist der Hirsch und geil auf jedes Weib, das ihm über den Weg läuft. Nicht anders als du."
Ich betrachtete den so geschmähten Hirsch. In meiner Einfalt sah ich in ihm nichts anderes denn einen Hirschen, der um die Jahrhundertwende in irgendeinem Wohnzimmer über dem Sofa geröhrt hatte. Für mich war er, ob Kitsch oder nicht, ein wundervolles Wesen in einer morgendlichen Bergwelt. Die Vorstellung, die ein mit Psychologie und Sexsymbolen überfrachteter Student mit dem dargestellten Tier verband, wollte mir nicht recht schmecken.
"Was ist nun, wollen Sie das Bild kaufen oder nicht? Nur hier herumsitzen und diskutieren geht nicht."
Der Trödler war ungehalten.
"Was soll das Bild denn kosten?"
"Es ist ein sehr altes Bild. Antik! Unter zwanzig geb' ich's nicht her."
"Aber der Rahmen ist doch schon ganz hinüber."
"Für so einen Kitsch würde ich keine fünf Euro ausgeben", mischte sich einer der Umstehenden ein.
"Von wegen Kitsch. Da schauen Sie, wie die beschneiten Berge von der aufgehenden Sonne golden leuchten", hielt der Händler dagegen. Dann verdrehte er die Augen und lachte. "Na gut, für fünfzehn können Sie den Hirsch haben."
Ich deutete auf den in der Morgensonne glitzernden Bergsee, über den hinweg, auf einem Rasenabbruch stehend der Hirsch röhrte.
"Da ist aber ein kleiner Riss mitten im See. Für zehn würde ich das Bild nehmen."
"Also gut, zehn Euro. Und dann stehen Sie endlich von meinem kostbaren Bauernstuhl auf, sonst kauft den keiner mehr!"
Der Handel war perfekt, die Schaulustigen zogen weiter, nur ein kleiner Junge konnte sich noch nicht vom Anblick des röhrenden Hirsches trennen.
"Papa, warum hat der Hirsch Rauch vor seinem Mund?"
"Weil er röhrt."
"Und warum raucht er da?"
"Weil es kalt ist."
"Und was ist röhren?"
"Er schreit eben." Die Geduld des Vaters war offenbar erschöpft.
"Das nennt man Brunftschrei", mischte sich ein Passant lachend ein. "Der Hirsch hat Sehnsucht nach seiner Frau."
Der Junge sah wieder auf das Bild mit der majestätischen Bergwelt im Morgenlicht. Dann deutete er auf eine hoch aufragende Tanne im Rücken des Hirsches. Dort stand eine Hirschkuh im tiefen Schatten, den Blick unverwandt auf den König der Berge gerichtet.
"Papa, ist das die Frau von dem Hirsch?"
"Ich denke schon."
"Warum schreit er dann so? Sie ist doch da."
Der erschöpfte Papa zog seinen wissensdurstigen Sprössling fort und dann stand ich allein da mit dem Bild eines protzigen Sexsymbols in einer wunderbaren Berglandschaft im goldenen Morgenlicht.
"Was heißt hier Kitsch", murmelte ich. "Mir gefällt das Bild."
Einundzwanzig Geschichten über das Zusammenleben von Mensch und Tier. Mit Humor und einem Augenzwinkern erzählt die Autorin vom alltäglichen, gelegentlich skurrilen Miteinander und Gegeneinander von allerlei Getier und den Menschen. Geschichten für Tierfreunde und für alle, die es noch werden wollen.