Gelbveigelein – Eine mysteriöse Geschichte von Gertrud Scherf.
Aus dem Buch/eBook "Signaturen" von Gertrud Scherf.
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„Gehen Sie da rauf bis zum Waldrand, oben rechts weiter. Nach ungefähr 50 Metern müssen Sie links abbiegen, diesen Weg sieht man nicht so gut, dann geht es noch einmal steil bergauf und oben halten Sie sich rechts. Dann kommen Sie zur Kapelle. Ich war schon länger nicht mehr dort. Früher bin ich gern zu den Maiandachten gegangen, aber die gibt es schon lang nicht mehr und ich mit meiner Hüfte könnte auch nicht hingehen.“
Claudia und ich hatten unten im Ort den etwas verwitterten Wegweiser „Kapelle Maria Rast“ gesehen. Da wir beide gern solche kleinen Flurdenkmale anschauen, hatten wir beschlossen, vor der Heimfahrt noch zur Kapelle zu gehen. Aber die Suche war etwas mühsam geworden und wir hatten unseren Plan fast aufgegeben, als wir vor einem der letzten Häuser des kleinen Marktes – es lag bereits am Hang – die alte Frau im Garten sahen und sie nach dem Weg fragten.
Im Wald standen die Buchen in frischem zartgrünem Laub, die Frühblüher – Bärlauch und Buschwindröschen – waren am Vergilben. Wir wandten uns nach rechts. Mehrere Wege oder wegähnliche Spuren führten links hinauf. Claudia wollte der ersten Spur folgen, aber weil von uns beiden meist ich sicherer in der Orientierung bin, war sie sofort einverstanden, die nächste Spur zu nehmen. Wir erreichten einen lang gestreckten Höhenrücken und den auf ihm entlang führenden schmalen Höhenweg. Auf beiden Seiten fiel das Gelände steil ab. Bald wurde der Weg breiter, verließ den Höhenrücken und zog sich auf der Südseite talwärts. Nach etwa 500 Metern erschien rechts des Weges ebenes Gelände, das von einem löcherigen und verrosteten Zaun umgeben war. Während ich noch überlegte, taxierte Claudia: „Ein Tennisplatz mitten im Wald, merkwürdig.“
Beim Näherkommen sahen wir die Reste des Netzes. Auf dem rötlichbraunen, kiesig-sandigen Boden sprossen einzelne Grasbüschel, auch ein Ahornbaum versuchte emporzuwachsen. Größere und kleinere dunkle Asphaltbrocken lagen auf dem Weg, der auf einer Seite von rostigen Straßenlampen mit zerbrochenen Leuchten gesäumt war. Bald tauchte zwischen den Bäumen ein großes Gebäude auf.
„Siebzigerjahre“, schätzte ich, als wir die Rückseite des Bauwerks betrachteten. „Damals gab es hier eine gewisse Aufbruchstimmung. Man glaubte, der Fremdenverkehr würde Geld in die arme Gegend bringen. Hotels und Straßen wurden gebaut. Aber der Aufschwung dauerte nur ein paar Jahre, dann ließen sich die Leute lieber von Billiganbietern in den Süden fliegen. Die meisten Hotels dürften heute nicht mehr in Betrieb sein.“
Wir gingen an der Westseite des Betonkomplexes entlang und
erreichten die nach Süden ausgerichtete Vorderseite. Teilweise verdeckt von
jungen, hoch empor gewachsenen Bäumen lag vor uns das frühsommerliche Tal. Ich
genoss die Aussicht, aber Claudia sog die Luft ein und murmelte:
„Da steh’ ich, ach!, mit der Liebe mein,
Mit Rosen und Gelbveigelein!
Dem ich alles gäbe so gerne,
Der ist nun in der Ferne.“
„Wovon redest du?“, fragte ich, erwartete aber aus Erfahrung nicht unbedingt eine Antwort. Doch Claudia war mitteilsam gestimmt und erklärte: „Es riecht nach Goldlack. Der wurde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Gelbveigelein genannt. Leider weiß ich nur noch die letzte Strophe des Gedichts. Ist, glaube ich, von Ludwig Uhland.“
Claudia hat einen sehr ausgeprägten Geruchssinn, wittert und spezifiziert angenehme wie abstoßende Düfte, meist ehe ich sie wahrnehme.
Wir wandten uns der Front des Hotels zu. Sie präsentierte sich im nicht passenden alpenländischen Stil und zeigte deutliche Verfallserscheinungen: abplatzender Verputz, verblichene Holzverkleidungen, Bäumchen in der Dachrinne.
Nun wehte auch mich lieblicher Blütenduft an. Ein Beet vor einem der fast ebenerdigen Balkone leuchtete in Gold-, Orange- und Brauntönen.
„Ist das nicht wunderschön!“, rief Claudia, als wir uns näherten. „Heute ist Goldlack ziemlich aus der Mode gekommen. So viel auf einmal habe ich noch gar nie gesehen.“
Das Beet mit den die vielen Blüten über dem dunkelgrünen Laub erschien wie eine Insel zwischen all den vernachlässigten Flächen, und der blumige, aber nicht süßliche Duft wirkte sehr anziehend.
„In England, Frankreich und Spanien hatte Goldlack die Bedeutung ‘Treue in der Not’ und in alten deutschen Volksliedern ist er Symbol trauernder Liebe.“
Ich staunte wieder einmal über die Pflanzenkenntnisse meiner Freundin. Ihr, die stets modisch gestylt ist und immer hinreißend aussieht, würde man so profundes Wissen um kulturgeschichtliche Zusammenhänge auf den ersten Blick nicht zutrauen.
„Trauernde Liebe hin oder her“, sagte ich, „jetzt pflücken wir uns ein paar von den Blumen. Ich hoffe, sie halten sich in der Vase.“
Beide bückten wir uns hinunter. Aber die Stängel des Goldlacks sind fest und zäh, und so hatten wir jeweils eine Pflanze samt Wurzel in der Hand.
„Lassen Sie bloß Ihre Finger vom Goldlack.“
Auf dem Balkon über dem Beet stand ein älterer Mann und schaute uns streng an. Wir waren so überrascht, dass wir zunächst gar nichts sagten. Schließlich stammelte ich: „Entschuldigung.“
Er schloss die Goldknöpfe seines dunkelblauen Blazers, den er zu einer grauen Flanellhose trug. Durch unsere Reaktion offenbar etwas besänftigt sagte er: „Diese wunderbaren Pflanzen darf niemand ausreißen. – Haben Sie das schöne Wetter zu einem Spaziergang genutzt?“
Claudia erklärte, dass wir die Kapelle „Maria Rast“ gesucht hätten und fragte unseren Gesprächspartner, ob er sie kenne.
„Ja“, sagte er und strich eine graue Haarsträhne zur Seite, „ich war einmal dort. Das heißt, wir waren einmal dort – ist noch gar nicht so lang her.“
„Können Sie uns vielleicht beschreiben, wie wir hinkommen? Wir haben unten im Ort gefragt, aber irgendwo haben wir uns verirrt“, sagte ich.
Er ging nicht darauf ein, sondern schaute über das Tal.
„Ich warte auf jemanden, sie müsste bald kommen. Vielleicht haben Sie eine schöne Frau mit langen braunen Haaren gesehen?“
Wir verneinten.
„Sie freut sich sicher, wenn sie den aufgeblühten Goldlack sieht und riecht.“ Er dämpfte seine Stimme. „Goldlack ist ihre Lieblingsblume. Sie nennt ihn Gelbveigelein. Wir haben uns hier im Hotel kennengelernt. Sie ist wie ich zur Erholung hier.“ Wieder strich er die Strähne aus der Stirn.
Ich schaute Claudia an und sie schaute unseren neuen Bekannten an. „Wir müssen wieder hinunter“, sagte sie und deutete talwärts, aber der Mann redete weiter.
„Das Hotel ist wirklich gut. Schöne, moderne Zimmer und das Essen ist hervorragend. Manchmal spielen wir oben auf dem Platz Tennis. Auch den Swimming-Pool nutzen wir gern. Wo sie nur bleibt? Es gibt ja bald Abendessen. Vielleicht ist sie schon in ihrem Zimmer und ich habe sie gar nicht kommen sehen. Hat mich gefreut, meine Damen, und lassen Sie bitte den Goldlack in Ruhe.“
Er drehte sich um und verschwand ins Dunkel des Zimmers. Die rasch geschlossene Balkontür glühte im Licht der tief stehenden Sonne. Über die Glasscheibe zog sich ein Sprung – von der linken oberen Ecke hinunter zur Mitte der gegenüberliegenden Seite – und teilte sie in ein Dreieck und ein Viereck. Ich schaute auf das Beet mit dem im Sonnenlicht leuchtenden Goldlack.
„Gelbveigelein sind zäh“, sagte Claudia. „Sie brauchen wenig Wasser, säen sich selbst aus und können lange Zeit am selben Platz bleiben. Manchmal findet man sogar bei Burgruinen noch Goldlack, der aus dem alten Burggarten stammt.“
Spannende Unterhaltung mit subtilem Schauer und ein bisschen Hintersinn.
Die Geschichten berichten vom erschütternden Einbruch des Jenseitigen in eine Alltagswelt. Die Erschütterung der Ich-Erzählerin wird nicht oder nur verhalten beschrieben, sie drückt sich eher in Zuständen und Handlungen aus.
Der Titel der Sammlung - Signaturen - verbindet die unterschiedlichen Geschichten. In der Signaturenlehre des Paracelsus weisen äußere Eigenschaften wie Form und Farbe von Naturstoffen auf deren Arzneiwirkung; in den Geschichten deutet äußerlich Wahrnehmbares auf verborgene Vorgänge oder Zusammenhänge. Ehe sich das Unheimliche ereignet, erscheint ein Zeichen, das aber vom Menschen nicht oder unzureichend erkannt wird.
Der Einbruch des Jenseitigen kann sich in der Seele und im Erleben der Betroffenen ereignen oder als reales Eingreifen einer jenseitigen Kraft darstellen. Meist bleibt aber die Deutung offen und dem Leser überlassen.