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Heimkehr – Elena kehrt in das Dorf zurück, das sie vor langer Zeit verlassen hat. Es ist anders, als sie erwartet hat und doch vertraut. Eine Geschichte von Agnes Jäggi.

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von Agnes Jäggi
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Dez
01
Heimkehr
© Agnes Jäggi

Der Zug glitt durch den langen, schwarzen Tunnel und fuhr sachte an die kleine Station heran. Geräuschlos öffnete sich eine der Türen und eine junge Frau stieg aus. Die Tür ging wieder zu, der Zug entschwand mit leisem Ruckeln in die Nacht.

Der Bahnhof lag etwas außerhalb des Dorfes. Vor der jungen Frau lag ein einsamer Spaziergang auf der breiten Hauptstraße, welche zur linken Seite von einem dichten Wald, zur Rechten von Feldern und Wiesen gesäumt wurde. Sie hatte keine Angst, weder vor den wispernden Bäumen noch vor der kalten Dunkelheit, die sie umfing. Sie verspürte eine Art Glücksgefühl; eine unbestimmte Freude erfüllte und wärmte sie. Elena war auf dem Weg nach Hause. Alle, die in jenem Dorf aufgewachsen waren, kehrten eines Tages dahin zurück. Jetzt war sie an der Reihe. Sie brauchte sich also nicht zu fürchten, sie wusste, was passieren würde, wusste auch, dass alle immer nachts heimkehrten. Nach einigen hundert Metern leuchtete die erste Straßenlaterne auf und verströmte weiches goldenes Licht. Alles war so, wie die Gestalt es Elena am Vortag erklärt hatte. "Du wirst den Zug verlassen, eine Weile durch die Nacht wandern und dann werden die alten Laternen dir den Weg weisen." "Wer bist du?", hatte Elena die Frau - oder war es ein Mann? - fragen wollen. Doch nach einem kurzen Blick in das sanfte Gesicht mit den tiefblauen Augen wusste sie, wer ihr Gast war. Sie brauchte nichts mehr zu fragen, lauschte nur noch den Anweisungen. Bei Einbruch der Dunkelheit verließ Elena ihr Zimmer, wanderte zum Bahnhof und stieg in den Zug, der sie heimbringen würde.

Sie erkannte das Dorf, auch wenn es kaum mehr dem Ort glich, den sie einst verlassen hatte. So musste es hier vor langer, langer Zeit einmal ausgesehen haben. Anstelle der schmucken Ein- und Mehrfamilienhäuser standen da wuchtige Bauernhäuser mit angebauten Scheunen und Ställen sowie einige einfachere kleinere Häuser. Um den Dorfplatz gruppierten sich der hübsche Lebensmittel- und Kramladen, die Sägerei, die Schmiede und die Mühle. Dieses Bild erkannte Elena aus einer alten Dorfchronik wieder. Sie erhob ihre Augen und erblickte auf dem Hügel über der Mühle die hübsche kleine Kirche, welche man über eine steile steinerne Treppe erreichte. Es war nicht die Kirche ihrer Kindheit, sondern die Kirche aus der alten prächtigen Dorfchronik. Vor dem stattlichen Gasthaus standen zwei antike Fahrräder und ein Pferdefuhrwerk. Elena trat zu dem neugierig blickenden Haflinger und fuhr ihm sachte über die Mähne. Sie vernahm Musik, fremde und trotzdem vertraute Weisen, Stimmen erklangen aus dem Wirtshaus, Kinderlachen erfüllte den Dorfplatz. Marktstände wurden errichtet. Still stand Elena neben dem Pferd und betrachtete das plötzliche geschäftige Treiben. Eine Stimme hallte lautlos in Elena wider: "Alles wird anders sein, doch du wirst alles kennen und vor allem wirst du Menschen und Tiere wiedertreffen, die du vor langer Zeit gekannt hast, mit denen du gelacht und um die du getrauert hast. Nichts und niemand verschwindet jemals wirklich."

Nun begriff Elena ganz und gar. Nicht die letzten dreißig Jahre waren ihr Leben, das Leben überhaupt gewesen, sondern die Zeit davor und danach.

Elena erblickte ihren Vater, erkannte ihre Katze Maudi und die kleine Hündin Susi. Alle lebten sie. "Ich werde noch viele Bekannte treffen. Mit manchen muss ich wieder ins Reine kommen, weil dazu in der Zeit zwischen den Zeiten keine Gelegenheit war und einige werde ich einfach umarmen, ohne etwas erklären zu müssen", flüsterte Elena dem Haflinger ins Ohr. Und sie hatte alle Zeit der Welt, denn ausnahmslos alle kehrten irgendwann zurück.

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