Schröder Großmutters – Von Manfred Schröder. Auf dem Dachboden finden sich unzählige Schätze von Großmutter, die einst als Putzfrau beim Philosophen Martin Heidegger tätig war.
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Als wir noch Kinder waren, zeigte uns Großmutter des Öfteren ihre kleinen Schätze, die sie im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte. Es waren nicht wenige, die sich in den Schubläden, im Keller und auf dem Dachboden befanden. Bevor ich von den Schätzen berichte, möchte ich eine kurze Anmerkung machen. Als junges Mädchen war sie, so wie es sie uns erzählte, als Putzfrau beim Philosophen Martin Heidegger tätig. Und aus dieser Zeit stammte ihr wertvollster Schatz. In einer Schachtel, welche einen Ehrenplatz in der Vitrine hatte, befanden sich die Schuppen, welche ihr von den Augen fielen, als sie endlich den Meister verstand.
Auch wenn Großmuter nur die Volksschule besucht hatte, war sie dennoch an allem interessiert. Sie las gerne und viel. Besonders die deutschen Heldensagen. Deshalb war sie auch stolz auf einen anderen Schatz, welcher sich ebenfalls in der Vitrine befand. Es handelte sich um einen Ring. Als wir sie fragten, was es mit ihm auf sich habe, lächelte sie und sagte mit Sammlerstolz in ihrer Stimme: "Das ist der Ring der Nibelungen. Im Laufe der vielen Jahrhunderte ist er arg verrostet. Ich habe ihn nicht gereinigt, weil er sonst seine natürliche Schönheit verliert."
Einmal als wir auf dem Dachboden kramten, entdeckten wir etwas, das wie eine lange graue Papierschlange aussah. Großmutter seufzte, als wir sie darauf ansprachen. "Ach, ja. Das ist eine der vielen Warteschlangen aus der ehemaligen DDR, die vor den Läden anstanden, in der Hoffnung Fleisch, Brot und Toilettenpapier zu ergattern."
Wie schon gesagt; Großmutter las gerne und viel. Und ging des Öfteren ins Theater. Ihr hatte es besonders Shakespeare angetan, den Putzfrau und Philosoph gleichermaßen verstehen. Und der dritte Schatz in der Vitrine war ein schon arg zerlesenes Buch. Das Buch nämlich, von dem Hamlet nicht wusste, ob es sein oder nicht sein war.
Wie schon gesagt, so einiges war zusammengekommen. Ebenfalls auf dem Dachboden entdeckten wir einige, wenn nicht vom Zahn der Zeit, so doch von den Motten angefressene kleine Fahnen, mit einem seltsamen Geruch. Zuerst wollte Großmutter nicht darüber sprechen. Doch dann erzählte sie es uns doch: Es waren die Fahnen, welche Großvater des Öfteren mit nach Hause brachte, wenn er im Wirtshaus einen über den Durst geschnabbelt hatte. Wenn es um Alkohol ging, gebrauchte sie nie das Wort trinken. Ja, Großmutter neigte dazu, uns manche Stücke nur ungern zu zeigen. Einmal fanden wir im Keller unter viel Gerümpel versteckt, einen längst vergangenen schiefen Haussegen.
Es würde ein wenig ermüden, von allen Schätzen zu berichten. Zu erwähnen sei dennoch ein längst verblasstes Abendrot, in dem sie Großvater kennengelernt hatte. Ja, und dann noch den zerbrochenen Krug. Ich fragte sie, ob es der von Kleist sei. Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann ein eher gemurmeltes Ja. Ich weiß allerdings mehr darüber. Es war der Krug, der mir aus den Händen geglitten war und den ich ihn aus Angst auf dem Dachboden versteckt hatte.
Ja, das war's von meiner Großmutter. Heute will übrigens niemand mehr so richtig Großmutter sein. Anstatt ihren Enkeln Märchen zu erzählen, laufen sie jedem Verjüngungsdoktor nach und lassen sich ihr natürliches Gesicht zerschneiden. Zum Glück war meine Großmutter nicht so.